den Optiker zu sparen, eine beinahe unförmige Stahlbrille mit fettigen und verschmierten Gläsern, wie sie vor Jahrzehnten einmal in Mode gewesen ist.
Bekleidet ist Guntram Seidel, wie immer, wenn er ins Dorf und unter die Leute geht, mit einer grob gestrickten fettigen Strickjacke, deren Gewebe an den Ellenbogen bereits hauchdünn ist, auf deren Kragen und Schultern sich unzählige weißliche Schuppen und einige seiner beim Kämmen vor dem Spiegel ausgefallenen grauen Haarsträhnen ausgebreitet haben.
Unter der Strickjacke trägt Guntram Seidel ein einfaches kariertes Hemd, aus dessen Kragen ein graues Büschel der Behaarung hervor lugt, die seine eingefallene Brust ziert, wie ein Fell. Die Beine stecken in ausgewaschenen Jeanshosen, die Füße in grauen Socken und ausgelatschten braunen Schnürschuhen mit abgestoßenen Spitzen und schief gelaufenen Haken.
Guntram Seidel sitzt gebeugt auf dem Stuhl und betrachtet die Lichtflecken der Morgensonne auf dem ausgebleichten Linoleum. Er hat seine dürren Hände mit den langen krummen Fingern und den ewig nicht geschnittenen, stets ein wenig schmutzigen und brüchigen Fingernägeln, ineinander gefaltet, als wolle er beten. Doch erinnern diese Hände eher an die Krallen eines Raubvogels. Überhaupt erinnert der ganze Mann, wie er krumm und eingefallen auf seinem Stuhl hockt, mit den buschigen Augenbrauen, dem wachsamen und unsteten Blick, der breiten Nase und der trotz der Zahnprothese wie eingefallen wirkenden Mundpartie, an einen Raubvogel. An einen ganz und gar hilflosen Raubvogel.
Guntram Seidel sitzt krumm, wie ein Kutscher auf seinem Bock. Er sitzt vornüber gebeugt und sein Atem geht heftig, wie bei einem erschöpften Jagdhund nach der Hatz, so dass sich der Busch des grauen Haares, der aus seinem Hemdkragen heraus ragt, deutlich wahrnehmbar hebt und senkt.
An diesem Morgen sitzt Guntram Seidel im Wartezimmer des Arztes, wie so oft.
Er achtet nicht auf die anderen Menschen, die auf den Holzstühlen entlang der Wand sitzen und ihn verstohlen mustern oder in einer der abgegriffenen Illustrierten lesen, die auf dem einzigen niedrigen Tisch in der Mitte des Wartezimmers zwischen Vasen mit gelblichen Kunstblumen liegen.
Meist sind es ältere Menschen, die ihre Gehstöcke zwischen ihren Knien halten, während sie sitzen und beide Hände darauf abgestützt haben.
Meist sind es ältere Menschen, die ein Rezept brauchen, für ein Medikament, das den Blutdruck senken oder den Herzschlag normalisieren soll oder die Schmerzen in den alten Gelenken lindern.
Das Wartezimmer füllt sich. Immer mehr Menschen tasten sich hinein, überblicken zuerst suchend den Raum, finden endlich einen freien Stuhl, setzen sich ächzend und brummen erst dann, akustisch kaum zu vernehmen, einen angedeuteten Gruß in die Runde.
Im Raum verbreitet sich jene eigentümliche Mischung von Gerüchen, wie sie von vielen unterschiedlichen Menschen ausgeht, die an einem Ort zwangsweise beisammen sind.
Es riecht nach Seife und Schweiß, nach Rasierwasser und frisch geputzten Schuhen, nach Weichspüler und nach dem Atem von Menschen, die gerade erst eine Tasse Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht haben.
Ab und zu scharrt einer der Sitzenden mit dem Fuß über das Linoleum, so dass es, des Sandes unter den Sohlen wegen, ein Geräusch gibt, wie vom Sandpapier, das über Holz fährt. Hin und wieder gibt es ein scharrendes Geräusch, wenn einer seinen Stuhl bewegt. Das Papier der Illustrierten raschelt beim Umblättern und der Atem derjenigen, die offenen Mundes sitzen, geht laut und schwer in den Raum. Manchmal dringen ein Husten und ein Röcheln in die Stille oder ein halblautes Flüstern zwischen Zweien, die gemeinsam in die Sprechstunde gekommen sind und die zusammen gehören.
Guntram Seidel blickt nur auf die tanzenden Lichtflecken auf dem Fußboden. Er weiß, dass er von diesen Menschen hier nichts zu erwarten hat. Und dass sie ihn neugierig aus den Augenwinkeln heraus beobachten. Ihn, den Querulanten, der sein Wasser nicht zahlen kann und der sich immer wieder mit den Mächtigen im Landkreis angelegt hat.
In dem kleinen und inzwischen übervollen Wartezimmer des Arztes herrschte eine gedrückte und gleichzeitig angespannte Atmosphäre.
Alles schien so, als würden diejenigen, denen es finanziell noch halbwegs gut ging, weil sie den Richtigen in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft hatten oder weil sie ganz einfach Glück gehabt hatten, die Anderen, die richtig arm dran waren, selbst hier noch belauern.
Es herrschte eine Atmosphäre, als könne jederzeit irgendein Streit oder eine Auseinandersetzung ausbrechen und man müsse sich dafür rüsten, indem man schwieg, seine Kälte und Unnahbarkeit zum Ausdruck brachte.
Es schien, als würden Neid, Missgunst und Misstrauen hier im Wartezimmer unter den Patienten sitzen und mit ihnen darauf warten, dass Schwester Bärbel endlich durch die Tür treten würde, um den nächsten Patienten aufzurufen.
II
Nachdem Guntram Seidel gut zwei Stunden im Wartezimmer gesessen und gewartet hatte, nachdem immer wieder Patienten ins Arztzimmer herein gerufen worden waren, um dann, ein Rezept in der Hand, wieder hinaus zu kommen, öffnete sich endlich die Tür und die blonde Schwester Bärbel, die er schon als Kind gekannt hatte, steckte den Kopf hindurch und ins Wartezimmer und flötete mit hoher Stimme: „Herr Seidel bitte!“
Guntram Seidel schlurfte in den Vorraum des Sprechzimmers, wo die Schwester hinter ihrem Tresen saß. Er wusste, dass nun, wie immer, zuerst der Blutdruck gemessen wurde.
„Morgen, Kindchen!“, sagte Guntram Seidel mit müder und ein wenig tonloser Stimme, setzte sich unaufgefordert an den Tisch und knöpfte den rechten Hemdsärmel auf.
Bärbel, vielleicht um ihre Verlegenheit zu bemänteln, redete ihn stets in der dritten Person an.
„Er weiß ja schon, was jetzt kommt!“, flötete sie und zog einen Schmollmund, packte das Gerät zum Messen des Blutdruckes aus und legte ihm umständlich die graue aufblasbare Manschette mit den Klettverschlüssen an.
„Wie geht’s denn so, Kindchen?“, fragte Guntram Seidel müde, während er den wachsenden Druck der Manschette um seinen Arm spürte.
„Geht so! Man hat Arbeit und das ist heute schließlich das Allerwichtigste!“
„Ja, ja!“, antwortete Guntram Seidel: „Unselige Zeiten! Wie ist denn mein Blutdruck?“
„Gerade noch so im Rahmen!“ Und mit mitleidvollem Blick: „Immer noch so viel Ärger, Guntram?“
„Immer, Kindchen, immer!“
„Na dann auf, der Doktor wartet schon!“
Guntram Seidel schlurft in seiner gebückten Haltung, den Kopf ängstlich vorgereckt, als erwarte er auch vom Doktor nichts Gutes, in das Behandlungszimmer.
Doktor Hosse geht auch bereits auf die Sechzig zu. Er hat schon die Eltern von Guntram Seidel gekannt und behandelt und er war der Arzt seiner Frau und Kinder. Wenn es jemanden in Klein Piesicke gibt, der die Familie von Guntram Seidel inklusive Blutdruck und aller Gebrechen kennt, so ist es der Doktor Hosse.
Doktor Hosse sitzt in weißer Hose, weißem T-Shirt und offenem weißem Kittel hinter seinem Schreibtisch. An den Füßen trägt er weiße Tennissocken und weiße Birkenstock-Latschen. Er ist schmal und hochgewachsen. Sein Haar und sein kurz geschnittener Vollbart sind schlohweiß.
Hinter der randlosen Brille blicken ein paar hellwache und kluge Augen den Besucher an, als gelte es, ihn zu durchleuchten.
„Na Guntram?“, fragt Doktor Hosse leutselig: „Wo fehlt es uns denn heute?“ Und er weist auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, auf dem sich Guntram Seidel ächzend nieder lässt.
„Das Bein!“, stöhnt Guntram Seidel: „Das linke Bein. Vor allem das Knie. Tut höllisch weh beim Laufen und nachts, wenn ich auf der linken Seite liege und ein wenig geschwollen ist es auch!“
Doktor Hosse sieht sich Guntram eine Weile interessiert an, wobei eine Mischung aus kalter Neugier und tiefem menschlichen Mitgefühl in seinem vom Segeln gebräunten Gesicht sichtbar wird.
„Dann mach mal das