Ralph Ardnassak

Die Kinder der Bosheit


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infolge der Verbesserung der schmalen Leinpfade entlang der Ufer, ersetzte man die Schiffsknechte, zunächst durch Ochsen, später durch Pferde.

      Wie auch den Schiffsknechten, so wies man den ochsen und den Pferden jeweils eine Strecke von 30 bis 45 Kilometer zu.

      Fest in den Gurt eingespannt, welcher mit der Zugleine des Schiffes verbunden war, zogen die Ferstners mit anderen Schiffsknechten die Lastkähne unermüdlich und bei jedem Wetter gegen den Strom.

      Ob überhaupt und in welchen Zeitabständen dabei pausiert werden durfte, oblag allein dem Zeitplan des Führers der Kolonne der Zugknechte, der furchtsam von den einfachen Zugknechten König oder Haupter genannt wurde und der diesen Zeitplan zuerst mit dem Schiffer abstimmen musste.

      Die Höhe des Lohnes, welchen die Ferstners mit den anderen Zugknechten erhielten, war abhängig von der strikten Einhaltung dieses Zeitplanes.

      Verpflegen mussten sich die Ferstners selbst. Üblich waren dazu ein großer Brotkanten, welcher unter den Männern aufgeteilt wurde und ein Stück Speck.

      Am Ziel ihrer täglichen Wegstrecke angekommen, betteten die Ferstners und die anderen Zugknechte ihre müden und zerschundenen Glieder auf die einfachen, verwanzten und verlausten Strohlager primitiver und möglichst billiger Herbergen. Meist waren sie zu erschöpft, um die Läuse oder die Wanzen zu fangen, sondern gestanden diesen als Kreaturen der Schöpfung ihr Recht auf Leben und Nahrung zu.

      Anderntags wurde schließlich der Weg nach Hause angetreten, der ohne zusätzliche Plackerei schnell vonstatten ging.

      Frau und Kinder erwarteten daheim die Ferstners mit der ersten warmen Mahlzeit, die meist aus Pellkartoffeln mit einer beliebigen Soße, öfter jedoch aus einem einfachen Bohnen- oder auch Graupeneintopf bestand.

      Mit Eimern holten Frau und Kinder das Wasser zum Waschen von der nächsten Pumpe. Luxus war für die Ferstners ein einfaches Stück Seife. Man wusch sich in einer irdenen Schüssel, denn schon am nächsten Tag ging die Plackerei weiter, da man sich keinen eigenen Tag an Verdienstausfall erlauben konnte.

      Kein Wunder also, dass Theo Ferstners Vorfahren über viele Jahre davon träumten, das Dasein als geplagte Schiffsknechte hinter sich lassen zu können, um endlich zur Mannschaft eines der Lastkähne gehören oder sogar selbst Schiffseigner werden zu können.

      Der Schiffsknecht oder Zugknecht stand schließlich auf der untersten sozialen Stufe im Gefüge der Schifffahrt von Klein Piesicke.

      Aber über ihm stand das Besatzungsmitglied eines der Lastkähne und am oberen Ende der sozialen Leiter thronte schließlich der Schiffseigner.

      Immer wieder hatten die Ferstners von zugknechten gehört, die mit harter Arbeit, dem unerbittlichen Zusammenhalten des kargen Lohnes, mit Entsagung, Hunger und vor allem mit viel Glück, den undenkbar erscheinenden Aufstieg vollbracht hatten.

      Vom gewöhnlichen Schiffsknecht bis zum Schiffseigner, der dann selbst den Zugknechten seine Befehle erteilte und die Zeit- und Pausenpläne festlegte. Das war selten, aber nicht undenkbar und der Familie Ferstner gelang es.

      Überliefert ist jedoch nicht, ob die Ferstners, nachdem sie endlich zu Schiffseignern geworden waren, ihre Schiffsknechte nun besser entlohnten. Eher wohl nicht, denn sprichwörtlich war bereits damals in Klein Piesicke der Geiz der Familie Ferstner, die selbst noch als Schiffseigner vorgab, sparen und jeden verfügbaren Pfennig zusammen kratzen zu müssen, um das zum Kauf des Schiffes geliehene Geld abzahlen zu können.

      Kam es zur Havarie des Schiffes oder zum Totalverlust der Ladung, was nicht selten geschah, so bedeutete dies, dass die Familie Ferstner wieder von vorn beginnen musste, weil alles Hab und Gut damit vollständig verloren war. Davon blieben die Ferstners jedoch verschont. Stattdessen gelang es ihnen, außer dem Schiff auch noch ein ansehnliches Haus in Klein Piesicke zu erwerben, was sie endlich zu richtigen Bürgern des Ortes machte, vor denen alle Schiffsknechte nun als Niedrigstehende ihren Hut in der Öffentlichkeit ziehen mussten.

      Wann in Klein Piesicke das erste Lastschiff gebaut wurde und vom Stapel lief, ist unbekannt.

      Alle Aufzeichnungen darüber sind verschollen und die Erinnerung an jenen Zeitpunkt oder mündliche Überlieferungen davon, sind im Verlaufe von mehr als fünf Generation schließlich im Nebel der Zeit verloren gegangen.

      Doch berichtet die Chronik im Jahre 1833 über Klein Piesicke, es sei Sitz des Herzoglichen Justizamtes und ein nahrhafter Ort, dessen fleißige und ziemlich wohlhabende Einwohner sich von dem hier nur leidlich erträglichen Ackerbau, aber vor allem von Viehzucht, der Schifffahrt und dem Bau von Flussschiffen, von Fischerei, Getreidehandel und dem gewöhnlichen städtischen Handwerk ernährten. Handarbeit sei hingegen selten.

      Nur 30 Jahre später wird von Klein Piesicke berichtet, dass die Einwohner leidlichen Ackerbau betreiben, ferner vorzügliche Viehzucht, Schifffahrt, Schiffbau, Brennerei, Handel, besonders jedoch den starken Getreidehandel. Zwei Zuckerfabriken gab es in Klein Piesicke, eine Ziegelei, zwei Kalkbrennereien, eine Eisengießerei, eine Kupferwarenfabrik, eine Schiffbauerei, eine Bierbrauerei, eine Maschinenfabrik, eine Apotheke, einen Kalksteinbruch. Anlagen und Einrichtungen, so beschreibt es die Chronik, die den regsamen und industrieösen Bewohnern Klein Piesickes überwiegend Wohlhabenheit bescherten.

      Die Handwerker arbeiteten in jenen Zeiten auch in Klein Piesicke meist unter freiem Himmel.

      Einen Verschlag oder eine einfache hölzerne Bude gab es höchstens zur Unterbringung des kostbaren Werkzeugs, um darin bei Regengüssen Unterschlupf zu finden oder das mitgebrachte Essen einzunehmen.

      Alle Schiffe, welche in Klein Piesicke gebaut wurden, darunter auch die Schiffe der Familie Ferstner, waren ganz aus Holz gebaut und hatten eine Tragkraft von etwa 50 Tonnen.

      Ihrer Bauform nach waren es einfache Kaffenschiffe, bei denen sich der Schiffsboden von vorn nach hinten zu verjüngte, um dann schließlich in dreieckige und angeschrägte Enden über zu gehen.

      Kaffenschiffe boten einen erheblichen Wasserwiderstand. Lief es allerdings auf Untiefen oder flache Ufer, so bohrte es sich nicht darin ein, sondern lief lediglich auf, blieb dabei in der Regel unbeschädigt und war schnell wieder flott zu bekommen, weil es ja keinen Steven besaß.

      Auch in den Schiffsbauwerften von Klein Piesicke, die vorwiegend für die Reparaturen der Schiffe der Eigner aus dem Ort zuständig waren, wurde überwiegend im Zeitlohn gearbeitet.

      Um das Jahr 1898 verdiente ein Geselle hier 30 Pfennige in der Stunde.

      1930 waren es bereits 65 Pfennige.

      Ein Stück Butter kostete damals 70 Pfennige, ein Laib Brot 50 Pfennige und ein Brötchen 5 Pfennige.

      Es war üblich, dass alle Lehrlinge in den Schiffsbauwerften von Klein Piesicke zunächst drei Monate auf Probe arbeiteten. Danach erhielt er im ersten Lehrjahr jeweils einen wöchentlichen Lohn in Höhe von drei Reichsmark. Mit jedem weiteren Lehrjahr erhöhte sich der Wochenlohn um weitere drei Reichsmark.

      Der Werkzeugkasten mit dem darin befindlichen Werkzeug kostete insgesamt 160 Reichsmark. Er war von jedem Lehrling zunächst selbst zu bezahlen.

      Konnte er Lehrling diesen Betrag jedoch nicht aufbringen, so erhielt er den Werkzeugkasten mit dem kostbaren Werkzeug leihweise zur Verfügung gestellt. Dafür wurde je Woche eine Reichsmark vom Lohn abgezogen, so dass der Werkzeugkasten mit dem darin befindlichen Werkzeug am Ende der Lehrzeit in das Eigentum des Lehrlings über ging. Eigenes Werkzeug wurde immer pfleglicher behandelt, als Werkzeug, welches der Werft gehörte. Außerdem sparte der Werftbesitzer Kosten, indem er selbst kein Werkzeug anschaffen und vorhalten musste.

      Auf allen Werften von Klein Piesicke herrschte ein strenges und stets patriarchalisches Regime. Der Werftbesitzer war unumstößlicher Herr und Meister.

      Argwöhnisch beobachtete jedoch auch in Klein Piesicke die Obrigkeit die Entwicklung und Zusammenrottung der vaterlandslosen Gesellen, der jungen Sozialdemokratie.

      Noch im Jahre 1910 war der Bürgermeister von Klein Piesicke dazu verpflichtet, alljährlich einen Bericht über die Zahl sämtlicher gewerkschaftlich organisierter Arbeiter des Ortes, besonders jedoch