Ralph Ardnassak

Die Kinder der Bosheit


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Betrug einen Akt edelster vaterländischer Gesinnung machen. Es kam letztendlich nur darauf an, wie man das Ganze benannte und welche Worte man benutzte, um es zu beschreiben oder besser zu umschreiben. Außerdem war er der Landrat, vor dem ohnehin schon die meisten Bürger des Kreises einen Buckel machten, denn sein Arm reichte weit. Theo Ferstner konnte, wenn man ihn reizte, Existenzen zerstören und Karrieren für immer beenden.

      Er würde sich schon etwas einfallen lassen, denn schließlich war er nicht umsonst Landrat geworden.

      Inzwischen war es für Theo Ferstner ganz selbstverständlich, dass der gesamte Landkreis sich nach ihm und seiner politischen Meinung ausrichtete, wie die Kompassnadel nach dem magnetischen Nordpol. Er war für den Landkreis dasjenige, was der Prior für die Mönche des nahen und in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges verwüsteten Klosters gewesen war. Er sah sich als den Leitstern in seinem Landkreis. Und dies galt längst nicht nur für politische und öffentliche Angelegenheiten. Dies galt inzwischen unumschränkt.

      Dennoch liebt es Theo Ferstner, Sprüche in der Öffentlichkeit zu klopfen, um deren wirkliche Bedeutung er oft nicht einmal weiß. Dies hat er mit den Damen und Herren aus der großen Politik in Europa und auf Bundesebene gemeinsam, von denen er sich dies abgeschaut hat.

      „Reelle Basispolitik, das ist dem Bürger wichtig!“, so lautet Ferstners Lieblingssatz. Und es ist nur gut, dass niemand sich getraut, ihn zu fragen, was denn eigentlich reelle Basispolitik sei.

      Theo Ferstner ist stolz auf sein Hauptbeamtenverhältnis der Besoldungsstufe B 6 als Landrat, welches ihm monatlich mehr als 8.000 Euro brutto einbringt. Geld konnte man schließlich nie genug bekommen!

      Ferstner fühlt sich als eine Art Fürst der mehr als 200.000 Einwohner, welche in seinem Landkreis leben. Und das Possessivpronomen „sein“ versteht er dabei durchaus nicht nur in seiner grammatikalischen Bedeutung, sondern tatsächlich in seiner Eigenschaft als besitzanzeigendes Fürwort.

      Theo Ferstner sah die Sache ganz pragmatisch: die 200.000 Einwohner „seines“ Landkreises hatten für ihn, den Politiker, da zu sein und nicht umgekehrt! Sie hatten ihn bei der Durchführung seiner schweren und bedeutungsvollen Amtspflichten zu unterstützen. Vor allem jedoch hatten sie ihn zu wählen und nach jeder Landratswahl hielt er die Ohren offen, um von jenen zu hören, die ihn nicht gewählt hatten. Die wurden dann abgestraft, denn er hatte da durchaus seine Möglichkeiten, um solchen Querulanten, vor allem, wenn es Gewerbetreibende waren, das Leben schwer zu machen. Dafür war Theo Ferstner bekannt und gefürchtet.

      Dinge, wie Wahlbeteiligungen, interessierten Theo Ferstner nicht. Wohl aber sein Anteil an den wenigen Stimmen! Darauf kam es schließlich am Ende an!

      Als geradezu lästig empfand er all diese sozialen Pflichten im Vorfeld von Landratswahlen. So beispielsweise das regelmäßige Nudelkochen in einer Einrichtung für geistig Behinderte, die er bei sich selbst nur hämisch „die Bejackten“ nannte. Dennoch fand er sich vor jeder Landratswahl, begleitet vom Lokalreporter der kleinen regionalen Zeitung, in der winzigen und penetrant nach Desinfektionsmittel stinkenden Küche dieser Einrichtung ein, um dort publikumswirksam mehrere Packungen Spaghetti aufzureißen, in kochendes Salzwasser zu schütten und dabei gequält in die Kamera zu lächeln.

      Wenn Theo Ferstner ehrlich zu sich selbst war, dann musste er sich eingestehen, dass er die öffentlichen Gelder, die der Staat in diese Einrichtung hier steckte, für pure Verschwendung hielt. Lieber hätte er sie gestrichen und sie stattdessen in einen Yachthafen oder in den Ausbau des Wegenetzes zu den hiesigen Jagdrevieren investiert. Ja, er hätte sich sogar eingesehen müssen, dass er gewisse Sympathien für Hitlers Euthanasieprogramm hegte. Spätestens seit jenem Nachmittag vor gut acht Jahren, als einer der Behinderten sein neues und teures Jackett vollgesabbert hatte.

      Außer dem Nudelkochen pflegte Theo Ferstner vor jeder Landratswahl vollmundig zu erklären, dass es bei ihm nur minimale Unterstützung für die Linkspartei geben werde. „Minimalkonsens, mehr nicht!“, pflegte er dabei zu sagen, denn er wusste, dass seine Partner und Freunde dies von ihm erwarteten, als Statement und im politischen Tagesgeschäft. Jene Herren, die ihn vor nunmehr zwanzig Jahren bei seiner aller ersten Kandidatur zum Landrat auch finanziell unterstützt hatten und denen er seither verpflichtet war.

      Theo Ferstners Konterfei prangte vor jeder Landratswahl im Großformat und in Farbe von beinahe allen Straßenbäumen und Laternen im Landrat. Im Halbprofil blickte er dabei streng von oben herab. Ein Gestus, der Bürgernähe und Entschlossenheit zugleich zum Ausdruck bringen sollte. In Anzug und Krawatte, die Brillengläser blitzend und das kurz geschnittene grau melierte Haar mit Gel in Form gebracht und streng gescheitelt. Ein Bisschen Christian Wulf vom äußeren Eindruck her, nur älter und weitaus unnahbarer und rigoroser im politischen Auftreten.

      Kein Mensch konnte sich erklären, woher all das Geld stammte, um den Landkreis mit derartig vielen Fotos von Ferstner zu bestücken, zumal die finanzielle Situation seiner Partei auf Kreisebene nicht gerade rosig war. Gerüchte machten die Runde, Theo Ferstner hätte all dies selbst finanziert, denen allerdings all jene widersprachen, die den Geiz der Familie Ferstner kannten. Die drehte jeden Cent dreimal um, ehe sie ihn ausgab. Und wenn sie ihn schließlich ausgab, dann stets so, dass das Geld nachher tunlichst in der eigenen Familie blieb.

      Theo Ferstner sieht sorglos und voll Zuversicht in die Zukunft, die wie ein roter Teppich für ihn ausgebreitet erscheint. Für ihn, seine Familie und Freunde und für all jene, die tun, was er ihnen sagt und die sich nach ihm richten.

      Theo Ferstner ist ein Familienmensch. Er sorgt für Frau, Bruder und Sohn. Und er tut dies auf seine Weise oder, wie er sich selbst stets auszudrücken pflegt, als ein Pferd, welches an der Krippe steht und dabei zugleich dreist genug ist, um dort nicht nur für sich, sondern auch für die Seinen, satt und genug vom guten Hafer zu fressen.

      IV

      Theo Ferstners Vorfahren zählten zu den großen Schifferdynastien, jenen Schifferfamilien, die mit ihren Fahrzeugen auf dem Strom und auf der nahen Elbe noch bis in die 1930er Jahre hinein ihr Auskommen fanden.

      Eine große Tageszeitung aus dem fast zweihundert Kilometer entfernten und weiter im Norden gelegenen Magdeburg berichtete noch im Jahre 1928 mit dem Unterton einiger Verwunderung, dass mindestens jeder dritte und vierte Lastkahn, der auf dem Strom und auf der Elbe beobachtet werden konnte, die Heimatstation „Klein Piesicke“ aufwies.

      Die Schifffahrt mit den Lastkähnen hatte auf dem Strom etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihren eher zögerlichen, später allerdings fulminanten Aufschwung genommen.

      Die männlichen Mitglieder der Familie Ferstner fanden sich in dieser Zeit als einfache Zugknechte, wie sie, Pferden gleich, die schweren Lastkähne entlang der Ufer zogen.

      Wie die Pferde ihre Ackerwagen, so zogen Johann Georg Ferstner, Johann Heinrich Christian Ferstner und Johann Caspar Ferstner in mühseligen Schritten bei Wind und Wetter die Lastkähne flussaufwärts.

      In den alten Kirchenbüchern von Klein Piesicke finden sich schließlich, verzeichnet in der alten deutschen Handschrift des Pfarrers, die Anfänge der Schifffahrt von Klein Piesicke, an denen auch die Familie Ferstner regen Anteil hatte. Sie datieren auf die Jahre zwischen 1740 und 1750.

      Seinerzeit galten die männlichen Mitglieder der Familie Ferstner offiziell noch als Schiffsknechte. Doch kaum ein Jahrhundert später vermeldet das Taufregister von Klein Piesicke bereits mit Stolz das Wort Schiffseigentümer, welches von nun an hinter dem Familiennamen Ferstner prangte.

      In Lettau, Fangschleuse und schließlich auch in Klein Piesicke existierten zu dieser Zeit jeweils zehn bis zwanzig Schiffsknechte, die meist nur Zugknechte genannt wurden.

      Zu sechs bis acht Mann, zogen sie auf den sogenannten Leinpfaden entlang der großen Flüsse und Ströme um Süden und Südosten der Reichshauptstadt für Akkordlohn an einer jeweils am unteren Ende des Schiffsmastes befestigten Leine die Schiffe bei jeder Witterung flussaufwärts, wobei sie die Besatzung vom Schiff aus nach Kräften unterstützte, indem sie das Schiff mit der Hilfe des Ruders oder der Staken in der Fahrrinne hielt.

      Nur bei günstigem Wind