Ralph Ardnassak

Die Kinder der Bosheit


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Konsens herrschte bereits seit 1898 unter den Vereinigten Schiffbaumeistern und Werftbesitzern des Elbe-Saale-Gebietes darüber, dass Werftarbeiter, welche sich ungebührlich betragen hatten, keine Entlassungspapiere ausgestellt bekamen.

      Unter ungebührlichem Betragen waren natürlich vor allem gewerkschaftliche Betätigung und sozialdemokratische Agitation von Werftarbeitern zu verstehen. Wer damals nicht über ordentliche Arbeitspapiere verfügte, durfte nirgends eingestellt werden.

      Dennoch traten am 15. Februar des Jahres 1913 die Deckmannschaften sämtlicher Reedereien auf den Schifffahrtsstraßen von Elbe, Oder sowie den märkischen Wasserstraßen mit insgesamt 12.000 Mann in einen Streik. Dieser beinhaltete Lohnforderungen, aber auch erstmalig Forderungen nach besseren und menschlicheren Arbeitsbedingungen, nach Überstundenregelungen, regelmäßigen Arbeitszeiten, nach Nachts- und Sonntagsruhe. Obwohl dieser Streik insgesamt über 11 Wochen andauerte, ging schließlich die Streikkasse zu Neige, was dazu führte, dass die Arbeitsniederlegung von den Behörden abgewürgt werden konnte.

      Der Streik, der auch erhebliche Auswirkungen auf die Schiffseigner von Klein Piesicke, darunter auch die Familie Ferstner, gehabt hatte, kostete die Arbeitnehmerschaft 100.000 Reichsmark und blieb völlig ergebnislos.

      Für alle auf den Schiffswerften von Klein Piesicke hergestellten oder reparierten Kähne waren Unmengen von Holz erforderlich.

      Dieses wurde jedoch nicht in den nahen Föhren- oder den Auenwäldern am Strom gewonnen. Stets wurde es weit entfernt geschlagen und zunächst mit flößen bis nach Klein Piesicke gebracht, wo es an der Feuerwehrwiese an Land gezogen wurde.

      Robert Otto Crohn, ein Vetter der Familie Ferstner, fuhr später, als das Holz nicht mehr geflößt, sondern auf Langholzwagen heran geschafft wurde, im Auftrag aller Schiffsbaumeister von Klein Piesicke mit dem Kleinmotorrad ins benachbarte Lettau zum Holzplatz, wo er dann das Holz für alle Schiffsbauwerften von Klein Piesicke aussuchte, das zunächst am südlichen Rand der Feuerwehrwiese zum Trocknen gelagert wurde.

      Die Schleppkähne für den Strom, wie sie auch die Familie Ferstner über viele Jahrzehnte hinweg besaß, waren zunächst aus Holz, später jedoch aus Metall. Sie wurden unter der Bezeichnung Penichen oder Schleppkähne bekannt, wobei La Peniche das französische Wort für Schleppkahn oder für Flussschiff ist.

      Penichen wurden in Klein Piesicke noch bis in die 1930er Jahre hinein gebaut.

      Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg waren sie ein besonders beliebter Teil derjenigen Reparationsleistungen, die das Reich an die Franzosen zu liefern hatte.

      Die Einzelteile für hunderte von Penichen kamen aus dem Stahl- und Walzwerk von Riesa. Je Fahrzeug veranschlagten die Schiffswerften von Klein Piesicke etwa einen Bedarf von 30 Tonnen Blech und 8 Tonnen Profilstahl. Das Metall wurde komplett und vollständig bearbeitet in Klein Piesicke angeliefert, war also bereits geschnitten, gelocht, gebohrt und vorgeformt. Die Maßhaltigkeit war dabei so gut, dass kaum nacharbeiten auf den Werften erforderlich wurden.

      Die Penichen, wie sie auch die Familie Ferstner besaß, waren zuletzt 38,05 Meter lang, 5 Meter breit und mit einer Seitenhöhe von 2,32 Metern. Sie konnten 350 Tonnen an Gütern transportieren.

      Wie alle Schiffer aus Klein Piesicke, so fuhr auch die Familie Ferstner mit ihren Flusskähnen den Strom hinauf oder sogar die Elbe hinauf.

      Gezogen wurden die Lastkähne dabei seit 1895 nicht mehr von Schiffsknechten, Ochsen oder Pferden, sondern von sogenannten Kettendampfern.

      Da diese Kettendampfer, die als Schleppdampfer für die Penichen fungierten, stets an gewisse Flussabschnitte gebunden waren, mussten die Ferstners ihre Schleppdampfer regelmäßig wechseln.

      Welches Gut jeweils transportiert wurde, richtete sich nach der baulichen Beschaffenheit des Flusskahnes, da ein Kahn ohne Deck keine wasserempfindlichen Güter befördern konnte, die durch Spritzwasser, Gischt oder Regen Schaden erleiden konnten.

      Kein gedecktes Schiff erforderten viele Massengüter wie beispielsweise Sand, Kies, Kohle, Schutt, Kalkstein, Zuckerrüben, Erze, Kupferbarren, Stahl und Schmiermittel und Öle in Fässern.

      Ein gedecktes Schiff erforderten hingegen die Massengüter Zement und Soda in Säcken oder in Fässern, Zucker, Wolle und Waschmittel und die unter Zollverschluss stehenden Güter Tabakballen, Zucker und Kaffee.

      Auch die Ferstners konnten als Schiffseigner nicht wählerisch sein, wenn es um die Zuteilung ihrer jeweils verfügbaren Ladung ging.

      Sie waren gezwungen, alles zu transportieren, was ihnen gerade angeboten wurde.

      Alle an Bord befindlichen Personen und damit auch der Schiffseigner, hatten beim Ein- und beim Ausladen der zu transportierenden Güter mit Hand an zu legen. Auch für die Ferstners hieß es beispielsweise dann, Säcke zu schleppen und zu stapeln.

      Während er Ruhezeit wurde hingegen das Schiff gesäubert. Ordnung galt als das halbe Leben. Jedes Gerät war an seinem festen Platz zu verwahren, damit es im Notfall sofort zur Hand war.

      Jede Unordnung, jede Stolperfalle auf dem Schiff, barg Gefahr für Leib und Leben der Mannschaft.

      Wann immer Zeit war, mussten unterwegs kleinere Reparaturen ausgeführt werden. Hierzu zählte vor allem die Vornahme eines neuen Anstriches, denn der Anstrich eines Flusskahnes galt als das Spiegelbild des jeweiligen Schiffseigners.

      V

      Allgemeine Strom – Polizeiverordnung für die Schifffahrt auf der Elbe

      § 7: Die Besatzung jedes Schiffes in Fahrt muss einschließlich des Führers mindestens betragen: Bei einer Tragfähigkeit des Schiffes von 10 bis 125 t 2 schifffahrtskundige Männer, über 250 t 3 schifffahrtskundige Männer, von denen stets einer am Steuer bleiben muss und die übrigen für den Schiffsdienst bereit sein müssen.

      § 13: Während der Fahrt muss auf jedem Schiff in der Vorderkaffe ein zum Werfen klarer Anker von solcher Stärke, dass das Schiff mit demselben gestellt werden kann, und auf Schiffen von 100 t und mehr Tragfähigkeit daselbst noch ein zweiter solcher Anker bereit liegen. Zudem ist auf jedem frei oder geschleppt zu Tal fahrendem Schiff von 100 t und mehr Tragfähigkeit ein gleicher Anker in der Hinterkaffe stets bereit zu halten. Auf den Schleppzügen zu Berg fahrenden Schiffen dürfen die Anker nicht über Bord hängen, müssen aber jederzeit zum sofortigen Gebrauch bereit liegen.

      § 42: Wenn nicht sehr niedriges oder schnell fließendes Wasser, plötzlich eintretender Eisgang oder stark widriger Wind es hindern, muss die Fahrgeschwindigkeit der Schleppzüge innerhalb der Strecken Hamburg bis Magdeburg durchschnittlich mindestens 4 km/h und von Magdeburg bis Schandau durchschnittlich mindestens 3,5 km/h betragen.

      § 46: Im Schleppzug steht der Oberbefehl dem Führer des schleppendes Dampfschiffes zu; alle im Schleppzug befindlichen Schiffe und Leute haben seinen Anordnungen unweigerlich Folge zu leisten. Er kann widersetzliche Schiffer aus dem Verband weisen.

      Rohes Elbwasser darf weder zum Kochen und Trinken, noch zum Reinigen von Ess- und Kochgeschirren verwendet werden. Der Führer des Fahrzeuges hat dafür zu sorgen, dass in einem ausreichend großen Behälter stets Trinkwasser bereit steht.

      (Quelle: Dr. Erich Vogel: Geschichte und Geschichten unserer Heimatstadt Nienburg. Folge Nienburg, eine Schifferstadt, Teil I. Nienburg 2007, S. 15)

      VI

      Noch im Jahre 1930 wurde in Klein Piesicke der Schifferklub „Einigkeit“ gegründet, der vor allem den jüngeren Schiffern des Ortes Geselligkeit bieten will. Otto Ferstner und Ehefrau Marga, die Eltern The Ferstners, traten dem Schifferklub bei, vor allem der Schifferbälle wegen, zu denen nur die Mitglieder geladen wurden.

      Am 31. Mai 1933 kam es gegen 9:00 Uhr zum sogenannten Kalkrutsch am Strom bei Klein Piesicke.

      Schlammmassen, die vom Ufer her in den Strom gerutscht waren, versperrten den Strom und damit die Schifffahrt auf mehrere hundert Monate. Es dauerte bis zum 29. September