Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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die alten Möbel erstickten unter den mathematischen Dekorationen.

      Doch immer tauchten neue Probleme auf. Meine wahre Liebste entfloh mir wie ein Schneehase. Immer wieder schlüpfte sie durch die Löcher meiner Zahlennetze und das hübsche Gesicht von Grace tauchte statt dessen auf. Ich sah vertraute Bilder, in denen wir vertraut beieinander saßen.

      Nur wenige Minuten später klopfte es erneut.

      Ein wenig Blut stieg mir vor Ärger zu Kopf. Genau diese Störungen waren es, die meinen Gedankenfluss und die mühsam geknöpften logischen Ketten unterbrachen. Man konnte wahnsinnig werden.

      Abermals trat unser Diener ein.

      „Kein Essen bitte!“, rief ich ungehalten, ehe er den Mund öffnen konnte. Trotzdem versuchte ich äußerlich die Beherrschung zu behalten. Streit und Auseinandersetzungen lenkten mich von meiner Aufgabe ab. Alles musste sich dem neuesten Ziel unterordnen, wirklich alles. Selbst der Weltuntergang musste warten.

      „Der Sekretär des Finanzministers bittet um Einlass. Er fragt nach, ob das Lottosystem fertig ist“, rechtfertigte der gute Alte sein nochmaliges Erscheinen. Was sollte der arme Kerl auch tun?

      Diese Lottosache also… Zum Glück hatte ich den Kleinkram schon erledigt, bevor mich Amors Pfeil getroffen hatte. Meine Hand zitterte für einen kurzen Moment vom inneren Ringen. Im Augenblick wollte ich eigentlich nicht einmal den Präsidenten selbst empfangen. Aber ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen. Hoffentlich wirkte es echt genug.

      „Er soll eintreten“, entgegnete ich bemüht höflich, „auch wenn ich nur wenig Zeit habe …“ Den Nachtrag murrten meine Lippen so leise, dass es niemand außer mir hören konnte.

      Unter einem Berg bekritzelter Blätter suchte ich nach dem Ordner und fand ihn. Welch ein Glück war das! So hatte ich wenigstens etwas Zeit gewonnen.

      Der uniformierte und mit vielen klappernden Orden behängte Mann trat ein und warf einen Seitenblick auf die Unordnung. Er erwähnte sie jedoch nicht. Bei Wissenschaftlern sah es nun einmal anders als bei normalen Menschen aus. Man musste kein Hellseher sein, um diesen Gedanken zu erraten.

      „Ich suche Mr. Percy Racliff, den Mathematiker“, erklärte er.

      Unser Diener schmunzelte in seine gestutzten Koteletten hinein. Er war an solche Verwechslungen gewohnt.

      „Ich bin der, den Sie suchen“, klärte ich den Besucher auf. „Nennen Sie mich einfach Percy!“

      Meine Jugend verschlug dem Gesandten die Worte.

      „Das System ist fertiggestellt“, füllte ich die sprachlose Lücke. „Es garantiert die gewünschte Gewinnquote und ist von einfachster Art, sodass selbst Dummköpfe es verstehen müssten.“ Ich drückte ihm die dreißig Blätter voller Zahlenmyriaden in die Hand und hoffte, dass er jetzt in einer perfekten Gerade zum Ausgang marschierte.

      Doch der Mann begann in aller Seelenruhe die Unterlagen zu prüfen. Dazu setzte er sich wie selbstverständlich in einen Sessel.

      Ich unterdrückte einen Fluch. Sein Beamtenhintern zerknitterte die darauf liegenden Papiere, was ihm jedoch völlig egal war.

      Währenddessen trippelte unser Butler von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, ob er sich entfernen sollte. Da ich seine Entlassung vergessen hatte und er sich nicht nachzufragen traute, blieb er unruhig an seinem Platz stehen.

      Ich zuckte mit den Schultern, überließ jeden sich selbst und huschte ungeduldig an meinen Arbeitsplatz zurück. Bald vergaß ich den Diener und den stummen Besucher ebenso. Im Nu war ich in eine neuerliche Berechnung vertieft. Einige Zeit verging auf diese Weise, ohne dass ich es eigentlich zur Kenntnis nahm. Wieder öffnete sich die Tür. Sie knarrte dabei. Mama trat zusammen mit dem dünnen, unsympathischen Kerlchen ein, das sich kürzlich mit ihren Brüsten und wer weiß was noch beschäftigt hatte. Der Wicht schaute gewichtig auf die Unordnung und machte sich dabei bedeutungsvoll Notizen in ein ledernes Büchlein. Das an der Gurkennase klemmende Monokel ließ sein dahinter liegendes Auge irrsinnig groß wirken.

      „Unglaublich!“, rief irgendwer.

      Ich schaute endgültig von meinem neusten Zahlengerüst auf. Die Worte waren dem Gesandten des Ministers entglitten, der immer noch studierend in dem Sessel saß.

      „Das konnte nur ein mathematisches Genie entwickeln!“ Jetzt hielt er den Papierpacken vor sich wie ein Porträt, als wollte er es wie eine Ikone küssen.

      „Mein Gott!“, ertönte nun die Stimme meiner Mutter.

      „Ja, wirklich!“, sagte der Beamte. „Ihr Sohn ist ein Gott. Ich werde dem Präsidenten persönlich von ihm berichten.“

      Der faszinierte Redner bewertete die plötzliche Bemerkung fälschlich als Begeisterung für seine letzten Worte. Er stand auf und verneigte sich höflich zu Mama. „Mr. Racliff übertrifft jeden Mathematiker, den ich kenne! Als ich hörte, jemand habe Poincarés Vermutung bewiesen, habe ich mit einem steinalten Kauz gerechnet.“

      „Es ist es keine Vermutung mehr, sondern ein Fakt“, stellte ich bescheiden klar. „Jede n-Mannigfaltigkeit mit dem Homotopietyp einer n-Sphäre ist zur n-Sphäre homöomorph.“

      Mama und der Arzt rissen erstaunt die Augen auf. Sie verstanden sicher nichts von allem.

      Der Beamte schwärmte weiterhin in höchsten Tönen von mir. Wie verbale Goldmünzen regneten die Worte auf mich nieder. Ein wenig schmeichelte mir sein Lob doch. Außer uns beiden verstand aber niemand, wovon wir redeten – oder? Der Gnom mit der großen Nase machte sich weiter eifrig Notizen.

      Hingegen hielt sich meine Mutter die Ohren zu. „Schweigen Sie bitte!“, herrschte sie den Boten bestimmt an.

      „In diesem Haus geht es immer nur um Zahlen, Zahlen und nochmals Zahlen!“

      Ohne den hohen Gast weiter zu beachten, wandte sie sich an mich: „Du hast seit drei Tagen nichts gegessen. Ich bin in großer Sorge! Du siehst zudem ungesund und blass aus.“

      Der Gesandte schwieg verblüfft. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. In fremde Familienangelegenheiten wollte er sich nicht einmischen.

      Mir war das natürlich äußerst peinlich. Mama behandelte mich wie ein Kind.

      „Mutter, doch nicht vor dem Besuch!“, klagte ich und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.

      Das dürre Männchen hatte sich inzwischen bis zu meinem Schreibtisch vorgearbeitet und griff sich kess eine meiner Berechnungen. Er war resistent gegen meinen Charme. Das machte ihn gefährlich.

      Seine widerlich lange Nase, die zudem ein dickes behaartes Muttermal neben der Spitze hatte, rümpfte sich wie die eines Schweines. Dieses Organ war erstaunlich. Es zeigte offenbar sogar seinen Gemütszustand an und besaß eine eigene Mimik. Angewidert schaute ich auf das Schnüffelspiel. Was fand meine Mutter an diesem hässlichen Kerl?

      Doch keiner sollte erfahren, woran ich wirklich arbeitete. Deswegen drehte ich die oberen Blätter um und versuchte ihm das gestohlene Papier aus der Hand zu nehmen. Er wehrte sich, als nähme ich ihm sein Betthupferl.

      „Das dürften Sie ohnehin nicht verstehen“, spottete ich.

      Die Riesennase ließ jedoch nicht los und betrachtete das Blatt wie ein Beweisstück. Aber für was sollte es ein Indiz sein? Immer energischer zogen wir an beiden Seiten, bis das Papier zerriss. Er hatte meine ganze Arbeit zerstört!

      „Fassen Sie die Sachen nicht an!“, ermahnte ich ihn aufgebracht. „Es reicht, wenn Sie meine Mutter belästigen!“

      Dieser verschlugen meine offenen Worte die Sprache. Ihr Antlitz schimmerte zuerst bleich, dann eroberte das Rot die Wangen. Beinahe sah es aus, als wuchsen dort zwei Tomaten. Sie warf dem Besuch einen pikierten Blick zu. Mein Wissen war ihr unangenehm.

      Aber das Männchen wiegte nur nachdenklich den Kopf, beobachtete mich durch das Monokel und kritzelte wieder eilig etwas in sein Buch. Seine Nase erschien mir dabei höhnisch gebläht.

      Meine geliebte