Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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meine Mama an den Arzt. Mein Widerspruch machte sie unsicher, denn sie liebte mich – und hoffentlich mehr als den Arzt.

      „Die Krankheit führt zum Verlust des Verstandes“, erklärte der Fiesling mit gespielt traurigem Gesicht. „Ich müsste ihn leider ansonsten ins Irrenhaus einweisen.“

      Seine Nase wirkte sehr zufrieden und das riesige Auge funkelte mich spöttisch hinter dem Monokel an. Zwinkerte er mir sogar höhnisch zu? Mir stockte der Atem, zugleich erahnte ich die reale Gefahr daraus und den hinterhältigen Plan. Der Kerl wollte mich loswerden, um so an mein Erbe zu kommen. Indessen sah meine Mutter den Arzt wie die personifizierte Hoffnung an, die Rettung für ihren Sohn.

      Nein, ich durfte auf keinen Fall in der Klapsmühle landen!

      „Ich wollte schon immer mal meine Verwandtschaft kennenlernen!“, übernahm ich nun selbst das Zepter, beschloss aber, es dem scheinheiligen Arzt so bald wie möglich heimzuzahlen. Die Schlacht war verloren, aber der Krieg noch nicht zu Ende. Dieser Teilsieg ging jedoch an ihn. Leider ließ sich meine Mutter wie alle alternden Frauen durch Komplimente und Schmeicheleien blenden. Eine Frau in den Zwanzigern ist wählerisch, eine über Vierzig nimmt jedoch jeden.

      Das Dreiergespann wirkte auf seine Weise zufrieden. Nur der Diener war offenbar noch auf meiner Seite und funkelte den Arzt böse von der Seite an. Der Gesandte nutzte den Moment, verabschiedete sich eilig und wünschte mir gute Besserung. Gleich darauf gingen meine Mutter und der Arzt vertraut miteinander tuschelnd davon. Seine knochigen Finger tätschelten dabei ungeniert ihren Hintern. Er drehte sich noch einmal kurz um, kniff sein riesig wirkendes Auge spottend hinter dem Monokel zu und machte mir eine boshafte Fratze.

      Ich war verärgert, aufgeregt und beschloss, die noch verbleibende Zeit in der Villa so gut wie möglich zu nutzen. Wie gern hätte ich jetzt Grace hier gehabt, ihre Nähe gefühlt und in ihre schönen Augen gesehen. Ja, sie war wunderschön. Sie erschien mir nach den letzten Erlebnissen wie ein Engel des Lichts, fast vollkommen. Sicher hätte Grace mein Herz ganz gewonnen, wenn ich nicht schon eine andere lieben würde.

      Die seltsame Wahrsagerin

      Der Streit mit Grace und die geradezu bizarren Erlebnissen der letzten Tage blockierten meine Kreativität. Die verschiedensten Gedanken schossen gleich Kolibris kunterbunt und blitzschnell durch meinen Kopf. Ich kam einfach nicht weiter und trat bildlich auf der gleichen Stelle im Sumpf der Mathematik herum. Meinen unruhigen Geist zog es leider zu profanen Alltagsproblemen und zur Philosophiererei. Warum nur konnte ich ihn nicht auf mein wichtigstes Thema fokussieren?

      Natürlich tat mir Grace und das, was ich ihr in irgendwie dümmlicher Aufrichtigkeit gestanden hatte, leid. Sie verdiente sicher einen Besseren als mich. Was nutzte all die hehre Wahrheit, wenn man damit nur Menschen verletzte? Zu diesem Problem kam noch hinzu, dass mich der Liebhaber meiner Mutter nervte. Was wollte der Kerl nur hier und warum bot meine Mutter ihm nicht Einhalt? Er gehörte nicht in unser Haus. Wie wurde ich ihn nur wieder los?

      Die Welt schien sich im Augenblick irgendwie gegen mich zu verschwören. Wen schickte man denn zu einer Kur in die Black Hills? Das war eine absolut unsinnige Idee. Trug ich vielleicht selbst irgendeine Schuld an diesem merkwürdigen Karma?

      Diese allgemeine Unruhe, das plötzlich aufkommende Gefühl der Zerbrechlichkeit des beständig Geglaubten war natürlich kein förderliches Umfeld für meine Suche nach der Allervollkommensten. Mein verliebtes Herz zog sofort wehmütig bei dieser Erinnerung.

      Ein aufdringliches Räuspern drang durch das Geflecht meiner geistigen Abwesenheit vom Hier und Jetzt. Unser guter alter Hausdiener stand offenbar schon wieder eine geraume Weile im Raum herum und hatte anscheinend geduldig darauf gewartet, dass ich ihn wie üblich ansprach. Es kam zuweilen vor, dass er zwar klopfte und ich dies überhörte. Schwierige Dinge verlangten nun einmal einen fokussierten Geist.

      „Ein Mädchen hat eine Depesche abgegeben!“ Er streckte mir ein silbernes Tablett entgegen, auf dem ein parfümierter Brief lag. Der Geruch und die mir bekannte Handschrift verrieten natürlich die Absenderin.

      „Nenn sie nicht Mädchen, das klingt einfach so fremd“, ermahnte ich ihn honorig, als hätte er sie durch sein Benehmen vertrieben.

      Warum ging ich nur mit denen, die mir am meisten bedeuteten, so ungeschickt um? Ich nahm mir halbherzig vor, meinen Charakter mehr zu beobachten.

      „Es war nicht das Fräulein selbst, sondern nur ein Dienstmädchen!“, präzisierte er.

      „Ach so. Danke, mein guter alter Freund!“, versuchte ich meine naseweise Belehrung wieder gut zu machen. Den gutmütigen Kauz verblüffte diese überaus herzliche Anrede. So hatte ich ihn bisher noch nie genannt. Er kratzte mit dem Zeigefinger nachdenklich in seinen langen Koteletten.

      „Schau nicht so erstaunt“, fuhr ich großherzig fort. „Ja, du bist für mich nicht nur irgendein bezahlter Diener, nein, sondern im Herzen ein wahrer Freund.“

      Sein üblicherweise graues Gesicht bekam erhebliche Farbe an den Wangen. Seine aufgequollene Nase, die Zeugnis von einer gewissen Trinkerkarriere ablegte, errötete geradezu. In Amerika tranken eigentlich alle. Das hochprozentige Nationalgetränk hieß Whisky. Man trank üblicherweise zum Geburtstag, zur Hochzeit, zum Begräbnis, zum Unglück, aus Anlass von Glück, wegen des schlechten Wetters, der Arbeit, wegen der Untreue der Ehefrau, des Ehemannes, wegen des Sonnenscheins und des Regens, einfach immer. Man sah schon neunjährige Buben betrunken auf einer Bank liegen und keiner scherte sich darum. Wie sollte man auch sonst das schwierige Leben in diesem finsteren Land ertragen?

      „Geht es dir wirklich gut?“, stammelte mein Freund und wusste nicht so recht, wie er mit dieser plötzlichen Bekundung durch mich umgehen sollte.

      „Ich habe mir vorgenommen ehrlicher und wahrhaftiger zu sein!“, setzte ich ihn jovial ins Bild. „Diese Trennung zwischen uns ist doch nur eine Trennung durch die Geburt. Niemand kann etwas für sein Elternhaus, seine niedere Geburt und dass er dazu verdammt ist, für Geld andere zu bedienen. “

      Sein lebendiger Gesichtsausdruck wechselte in die übliche Fahlheit und Abgestumpftheit, mit der er seine Arbeit verrichtete.

      „Meine Mutter war nicht von niederer Geburt. Sie war eine ehrenvolle Frau“, murmelte er gekränkt. „Vielleicht hat Gott sich etwas dabei gedacht, wie er die Welt geschaffen hat“, wandte er geradezu philisterhaft ein. Diese Aussage war typisch für die unsinnige abergläubische Philosophie der kleinen Leute. Daher blieb alles beim Alten.

      „Hoffentlich gibt es den auch wirklich“, spottete ich geradezu blasphemisch. „Die ersten Flugmaschinen erobern gerade den Himmel. Da müssen sie ihn doch bald entdecken! Ich geb dir Nachricht, wenn ich davon etwas lese!“

      „Sehr lustig, darüber spottet man nicht!“ Er schien wirklich verärgert. Woran sollte sich der arme alte Tor sonst klammern? Autsch, meine Äußerungen waren erneut recht überheblich. Ich war offenbar in der Tat ein Besserwisser und musste lernen, dies besser zu verbergen. So viel war mir klar.

      „Ja, du hast wohl recht“, versuchte ich mich aus der Schlinge der Unhöflichkeit zu ziehen und lenkte vom Thema ab. „Ich habe doch ein wenig Furcht, den Brief zu öffnen. Mein Benehmen kam auch bei Grace nicht so gut an. Scheinbar fehlt mir das gewisse Talent zur Diplomatie.“

      Nun reichte es meinem alten Freund und treuen Dienstboten endgültig. Er brabbelte etwas Unverständliches in seine langen Koteletten. Das war bei ihm ein Zeichen höchster Verärgerung.

      „Oh!“, entglitt es mir erstaunt. Ich achtete nicht weiter auf meinen Gesprächspartner. Der verließ offenbar mein Arbeitszimmer.

      Grace hatte mir tatsächlich eine Einladung gesandt. Sie schlug ganz unverbindlich einen gemeinsamen Spaziergang im Stadtzentrum vor und benannte auch einen Treffpunkt, an dem sie auf mich ein wenig warten wollte. Falls ich kein Interesse hätte, würde sie eben allein bummeln gehen. Das war ein klares Freundschaftssignal. Sie war nun einmal temperamentvoll und bereute anscheinend ihre Überreaktion. Das war gut. Mir war ein solches Zusammensein nur recht. Ich konnte ihr so vermitteln, dass ich sie