Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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Die Mathematik macht dich besessen!“

      Der Doktor nickte zustimmend und kritzelte wild in sein Buch.

      „Was schreiben Sie da?“, erkundigte ich mich und errötete zugleich. „Und ich bin zudem achtzehn Jahre alt!“

      „Was schreibst du da?“, konterte meine Mutter mit Blick auf das Blätterchaos. Wenn ihre Augen das Zeug verbrennen könnten, würde meine Stube lichterloh flackern.

      Ich fühlte mich hilflos. Wie sollte ich Mama erklären, dass ich bereits nach der vollkommenen Liebe suchte? Ich wollte nicht irgendeine. Dann würde ich am Ende nur unglücklich werden.

      „Bist du denn besessen?“, fragte der Doktor ganz nebenbei, als sprächen wir über die Qualität von einem Tee.

      „Ich bin vollkommen gesund!“, rief ich wütend. Was erlaubte sich der Kerl nur?

      Er rümpfte die Nase, lächelte verschmitzt und brachte seine Gedanken erneut zu Buche.

      Indessen schlich der Gesandte in Richtung der Türflügel und überlegte, wie er sich standesgemäß verabschieden konnte. Er wollte sich dem Desaster entziehen.

      Meine Mama verprügelte mich weiter mit Worten.

      „Er ist ein Genie“, versuchte der Bote mir beizustehen. „Wahrhaft ein Genie!“

      „Genie und Wahnsinn sind oft vereint“, belehrte die Nase ihn überheblich.

      Bei diesem Satz kam mir ein Gedanke. Natürlich, wie hatte ich das übersehen können? Die Lösung lag direkt vor mir!

      Ich stürzte zu einem Papierhaufen und wühlte darin. Man musste Poincarés Vermutung unbedingt in Bezug zu chaotischen Systemen setzen!

      „Sehen Sie!“, stieß Mama hervor und wies anklagend auf mich. „Er ist krank!“

      „Vollkommen besessen!“, ergänzte ihr Begleiter zustimmend, als wäre es ein unumstößlicher Fakt.

      Das war ein Narrenhaus. Der hohe Besuch wirkte verwirrt. Der Arzt wog seinen Kopf sinnend hin und her, gab sich besorgt und klopfte meiner Mutter beruhigend auf die Schulter. Das wirkte unangemessen intim, als wären sie bereits ein Paar.

      „Die Zahlen machen ihn noch wahnsinnig! Er hat schon Fieber!“, stöhnte Mama leidvoll und stützte sich auf einen Stuhl, als verlöre sie sonst den Halt.

      Ohne dass ich etwas dagegen machen konnte, ergriff der Gnom beinahe habgierig meine Hand und fühlte den klopfenden Puls.

      „Sehr beunruhigend! Zeig mal deine Zunge!“, befahl er, als wäre ich ein kranker Knabe.

      Um meine Ruhe zu haben, tat ich es.

      „Ich habe es befürchtet!“, stieß der Arzt hervor. Das Auge unter dem Monokel schien noch größer zu werden und seine Nase bebte erschüttert. Allein durch dieses merkwürdige Schauspiel hatte er die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf seiner Seite.

      „Was?“, rief meine Mutter ängstlich. Sie sorgte sich ehrlich um mich. Kein Wunder, denn ich war ihr einziger Sohn.

      Aber der Quacksalber verfolgte eigene Pläne. Ich musste mich in Acht nehmen. Er war durchtrieben. Und dann kam sie, die Diagnose.

      „Er leidet bereits unter schizoider Psychopathie!“

      Alle machten bei diesen gefährlich klingenden Begriffen erschrockene Augen, selbst der Sprecher.

      „Oh!“, entfuhr es Mama. Es sah aus, als fiele sie jeden Moment in Ohnmacht.

      Ich lachte laut über diesen Quatsch. Die Ärzte erklärten jeden für verrückt, der anders als sie selbst erschien. Die ganze Welt war für sie krank und behandlungsbedürftig. Es gab für sie keine Gesunden, sondern nur nicht gründlich genug Untersuchte. Natürlich stand ihr Diagnosewahn in direkter Beziehung zu ihrer grenzenlosen Geldgier. Nicht ohne Grund hatte Casanova die Ärzte, die ihn zur Ader lassen wollten, mit seiner Pistole davongejagt. Wenn man lange leben wollte, sollte man diesen Berufsstand konsequent meiden.

       Der Doktor funkelte mich böse an. Er hielt sich wohl für besonders schlau und wollte mir meine ironische Bemerkung von vorhin heimzahlen. Wir mochten uns nicht. Das stand fest.

      „Die mathematische Überaktivität, verbunden mit seinem jugendlichen Geschlechtstrieb, hat eine Überhitzung der inneren Säfte bewirkt. Sein Blut gerinnt bereits“, ängstigte er die anderen weiter.

      „Das ist doch Schwachsinn!“, warf ich nochmals ein. „Da klumpt nichts!“

      Doch keiner hörte auf mich. Sie glotzten erschrocken die übergroße Nase an, als wäre ich Luft.

      „Sehen Sie, meine Kostbare?“, fuhr der Lügner mit kalter Stimme fort. „Den Erkrankten geht in der Regel jede Einsichtsfähigkeit verloren. Sie halten sich deswegen für vollkommen gesund.“

      Alle schauten mich mitleidig an. Der Gesandte des Ministers umklammerte erschrocken den Ordner und war wohl insgeheim froh, dass ich die Arbeit überhaupt noch geschafft hatte.

      Dieser ärztliche Schurke war wirklich gewieft. Sagte ich jetzt, ich wäre gesund oder schmisse ich ihn aus dem Haus, hielten sie mich erst recht für behandlungsbedürftig. Ich war noch nicht volljährig und somit den Anordnungen meiner Mama ausgeliefert. Sein teuflischer Plan funktionierte.

      „Wie wäre es mit einer Kur auf dem Lande?“, fragte meine Mutter den Scharlatan. „Alle kuren doch heutzutage.“

      Der Mistkerl machte ein nachdenkliches Gesicht. Gewiss wollte er mich nur loswerden, um sich ungestört an meine Mutter und unser Geld heranzumachen. Ein kluges Söhnchen im Haus war da nur hinderlich. Andererseits wollte er in diesem Moment vertrauenswürdig erscheinen.

      „Das könnte durchaus hilfreich sein“, murmelte er nachdenklich. „Die Winde kühlen sein Blut. Es ist vielleicht seine letzte Chance.“ Insgeheim wog er ab, was diese zumindest zeitweilige Verbannung meiner Person für ihn an Vorteilen brachte.

      Wenn ich weniger wohlerzogen wäre, würde ich ihm an die Gurgel gehen. Der Hinterhältige wollte mich lieber heute als morgen kaltstellen. Es war erstaunlich wie viel Einfluss er auf meine Mutter bereits hatte. Diese war ihm verfallen.

      Beide beratschlagten gerade, welche bäurische Region für mich ideal sei, aber so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben. Außerdem hielt eine Kur mich nur auf. Mein Herz verlangte, dass ich meine große Liebe fand.

      „Ich habe keine Zeit für so etwas!“, rief ich aufgebracht dazwischen.

      „Sehen Sie, keine Einsichtsfähigkeit!“, bestätigte der Betrüger sein medizinisches Urteil.

      Alle warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Ihr Urteil stand fest. Das Gefecht war für mich im Augenblick verloren.

      „Du fährst zu deinem Urgroßvater in die Black Hills“, entschied Mama aus dem Bauch heraus. „Er ist sehr betagt. Du kannst ihm Gesellschaft leisten und dabei deine angegriffenen Nerven erholen.“

      Der hinterhältige Medikus machte ein zweifelndes Gesicht. Diese Wendung gefiel ihm nicht so sehr. Er hätte mich doch lieber in der Anstalt gesehen.

      „Seit wann habe ich einen Urgroßvater? Ich kenne ihn gar nicht!“ Mein Inneres sträubte sich noch immer. Niemand hatte mir jemals von einem Verwandten in den abgelegenen Bergen erzählt. Lebten dort nicht noch immer Indianer? Zumindest war das Gebirge für diese heilig, da deren Geister dort angeblich hausten.

      „Dann wird es Zeit ihn kennenzulernen!“, schloss meine Mutter bestimmt ab. Sie wollte sich als Hausherrin präsentieren – als strenge Dame, die einen Sohn in die Schranken wies. „Dieser Urgroßvater ist der Vater der Mutter deines Vaters. Er wirkt vielleicht etwas merkwürdig und unmodern, jedoch immer noch rüstig, obwohl er bereits das hunderte Jahr überschritten hat. Zudem hat er gewisse medizinische Kenntnisse.“

      Alle drei nickten zustimmend, als wüssten sie, was das Beste für mich wäre. Ich stand wie ein Dummkopf da und hatte verloren.

      „Das werde ich