Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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erklärte sie in orakelhafter Manier weiter.

      „Dies ist mir schon klar, ich verstehe ein wenig von Philosophie“, erwiderte ich. Zugleich ärgerte ich mich jedoch über meine Dummheit. Die Alte war doch taub und konnte gar nicht meine Worte hören.

      „Wenn ich nun schon Geld für die Wahrsagerei ausgebe, würde mich interessieren, ob ich die Vollkommene auch wirklich finde?“ Um zu vertuschen, dass mir das erneut in der Aufregung herausgerutscht und tatsächlich an die taube Wahrsagerin gerichtet war, tat ich zum Schluss so, als spräche ich zu Grace. Zumindest sie sollte den Eindruck behalten, dass ich alles unter Kontrolle hatte und nicht mit einer Gehörlosen sprach. Anastasia schien aber in ihrem fast somnambulen Zustand diese Feinheiten nicht zu bemerken.

      „Manchmal sieht man das Offensichtliche nicht, selbst wenn es neben einem sitzt“, antwortete die Blinde mit einem alten Spruch. Ich vermutete insgeheim, dass die Hexe log und doch zumindest ein wenig hörte. Wie konnte sie mir sonst so passend antworten? Das gehörte sicher zu ihrer speziellen Vorführung.

      Ein Schauer des Entsetzens übermannte mich trotzdem. Zugleich jubelte es in mir. Die Antwort war doch so etwas wie eine Zustimmung zu meiner Frage. Ein Seitenblick zeigte mir, dass sogar Grace sich zu freuen schien. Sie hatte einen Teil ihrer Beherrschung wieder gefunden und sah plötzlich zufrieden aus. Das alles war seltsam und wirkte vollkommen burlesk.

      Als Mann der Wissenschaft wollte ich aber absolute Gewissheit.

      „Bitte keine Metaphern mehr. Werde ich sie finden, ja oder nein?“, forderte ich eine unmissverständliche Antwort ein. Oh je! Wozu fragte ich schon wieder, wenn sie mich doch nicht hörte?

      Aber die angeblich Taube erwiderte vollkommen passend: „So klug bist du anscheinend auch nicht. Ich habe dir schon die Antwort gesagt.“

      „Ja oder nein?“, beharrte ich. „Wie können Sie überhaupt meine Frage beantworten, wenn Sie mich doch angeblich gar nicht hören. Lippenlesen geht auch nicht, da sie ja angeblich auch noch blind sind?“, spottete ich. Mich konnte sie nicht mit ihren gruseligen Tricks beeindrucken. Na gut, sie war vielleicht tatsächlich blind. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie mit diesen trüben Augen etwas wahrnehmen konnte.

      Laute Gewehrschüsse unterbrachen den merkwürdigen Dialog zwischen Wissenschaft und Aberglaube. Die Alte zeigte keine Reaktion und sah mich nur grinsend an. Sie hörte ja nichts. Grace und ich blickten uns jedoch erschrocken in Richtung des Geknalles um. Die Demonstration schien in einem Gewaltexzess zu enden. Ich hatte diese durch die merkwürdigen Erlebnisse hier fast vollkommen vergessen.

      Doch diese Verblüffung war nichts gegen die neuerliche. Vor Schock sprangen wir auf und hielten uns sogar an den Händen fest. Ein spitzer Schrei entrang sich Graces Kehle. Sie bekreuzigte sich. Auf dem Platz der alten Dame befand sich nichts außer einem uns böse aus feuerroten Augen anfunkelnden schwarzen Kater. Wo war die Wahrsagerin von einem auf den anderen Augenblick hin? Wie konnte die Alte sich quasi auflösen? Wir hatten doch nur einen ganz kurzen Moment in die andere Richtung geschaut. Dass sie sich in den Kater verwandelt hatte und somit eine echte Hexe war, erschien mir dann doch eine zu unwissenschaftliche These. Ich verstand eigentlich gar nichts und suchte mit den Augen nach einer verborgenen Tür. Die schreckliche Alte musste erfolgreich irgendeinen magischen Trick angewandt haben.

      „Was geht hier nur vor?“, murmelte die bleiche Grace entsetzt und drückte so sehr meine Finger, dass ich Schmerzen empfand. Sie zitterte an allen Gliedern. Für einen Moment war ich versucht, sie in meine Arme zu nehmen. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Auch meine innere Angst stieg.

      „Lass uns gehen!“, forderte ich. Grace sah mich mit großen Augen an. „Ich habe große Furcht!“, hauchte die Arme. Wir waren uns durch die verborgene Gefahr auf besondere Weise nahe, wie noch nie. Sie erschien mir so kindlich bezaubernd, geradezu des Beschützen wert und unheimlich schön.

      Wir eilten schnurstracks aus der Tür. Diese schlug zäh quietschend hinter uns in den Riegel. Als ich kurz zurücksah, war mir so, als gewahrte ich die verschwundene Alte hinter einer Gardine uns nachschauen und verächtlich lachen. Das konnte aber auch eine Sinnestäuschung sein, denn es war ziemlich dunkel auf der Straße und hinter den Gardinen nur mattes Kerzenlicht.

      Wir hörten ganz in der Nähe weiteres Gewehrfeuer und panisches Geschrei. Das ließ nichts Gutes ahnen.

      Wir schritten hastig davon, fast liefen wir. Nieselregen setzte ein.

      „Ich weiß nicht, ob man der Alten glauben kann“, relativierte ich im Laufen. „Zumindest hat sie mir bestätigt, dass ich die Allervollkommenste finde. Ich muss mich gleich wieder den Berechnungen zuwenden.“

      Grace schüttelte den Kopf und blieb stehen. Sie hatte sich inzwischen wieder gefasst. Die frische Luft tat nach dem Gestank in dem Hexenhäuschen gut.

      „Sie hat doch nicht gesagt, dass du die Vollkommene nur mit Hilfe der Mathematik findest, eher das Gegenteil. Erinnere dich einfach, was sie zu Anfang murmelte. Sie bezeichnete deine Idee als Humbug.“

      Ich dachte verblüfft nach. Wäre die Alte nur nicht so schnell verschwunden, dann hätte ich da noch nachhaken können.

      „Nein, so war das nicht von ihr gemeint. Indirekt hat sie später bestätigt, dass ich die Vollkommene finde“, beharrte ich.

      „Nein! Sie hat etwas vollkommen Anderes gesagt.“ Meine Begleiterin wirkte unzufrieden.

      „Inwiefern?“, bohrte ich und hatte das Gefühl, dass wir uns heftig stritten.

      „Was heißt wohl: Du siehst nicht das, was direkt neben dir ist?“, klärte sie mich auf.

      „Das ist oft so bei wissenschaftlichen Problemen und zudem eine allgemeine Redeweise“, belehrte ich sie. Wieso stellte sie sich gerade jetzt so aufreizend hin? Ich übersah nicht, dass sie ihren schönen Busen unter dem Mantel besonders in meine Richtung präsentierte.

      Die aufgebrachte Grace schlug sich aufgeregt die Hand vor den Kopf.

      „Denk doch nach! Es gibt eben auch etwas anderes als die Wissenschaft! Wer saß denn da gerade neben dir, als sie das sagte?“

      Wir waren an einem Platz angekommen, an dem zwei wartende Droschken standen. Die Kutscher unterhielten sich aufgeregt und wiesen in Richtung der Schüsse.

      Ironisch schaute ich Grace an. „Du meinst doch nicht etwa, dass sie das wörtlich meinte …“

      Meine Freundin schmiss den kleinen Blumenstrauß wütend auf die Straße. Aufgebracht bestieg sie eine Kutsche und gab ihre Adresse an. Das Bummeln war anscheinend beendet.

      Im Abfahren rief Grace mir zu: „Melde dich, wenn du endlich weißt, wer die Vollkommene denn nun ist! Vielleicht ist es ja die alte Hexe?“

      Temperament hatte die Süße. Doch so sollte eigentlich die Versöhnung nicht enden.

      „Meine Mutter schickt mich für längere Zeit zu einer Kur fort!“, rief ich ihr nach.

      Durch das laute Getrampel der mit Eisen beschlagenen Pferdehufe verstand ich leider nicht, was sie mir erwiderte.

      Die lange Reise

      Mama gab sich leider unerbittlich. Der Einfluss ihres neuen Liebhabers wuchs von Tag zu Tag. Mein Reden half nichts und prallte wie geworfene Steine von einer Mauer ab. Sie schien ihm geradezu hörig zu sein, so als hätte er sie mit Hypnose gefügig gemacht und aus ihr eine neue Persönlichkeit geformt. Ich fühlte mich wie ein Fremder im eigenen Haus. Einzig meine Berechnungen und meine Gedanken an Grace trösteten mich. Sie bildeten geradezu einen erholsamen Rückzugsort.

      Unsere letzte Begegnung hatte den leidigen Streit leider auch nicht aus der Welt geschafft. Weder besuchte sie mich, noch schrieb sie mir seitdem. Ich wiederum war zu beschämt oder auch zu stolz, um sie erneut um Verzeihung zu bitten. Ungesagtes trennt zuweilen Menschen mehr als das Ausgesprochene. Was sollte ich ihr auch mitteilen, solange klar war, dass ich eine andere liebte oder lieben würde?

      Der