Björn Ludwig

Krankes ICH


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schlecht schlecht. Das Schweineblut rieche ich noch heute. Die Gedärme beim Aufbrechen des Wildes, ach nein... nein nein nein, meine Kindheit, meine beginnende Jugend, endete jäh im Blute meines schießgeilen Onkels und seiner Kumpanen.

      Obwohl... eigentlich schon vier Jahre zuvor... aber das war ja nur ein böser Traum gewesen, wie Martin P. es mir es immer und immer wieder suggeriert hatte. Schließlich erfolgreich suggeriert hatte. Aber da war was gewesen, ganz gewiss. Herbst 1975. Es hatte ja auch in den Zeitungen gestanden, zweifelsohne. Ich wollte ja unbedingt an diese Alptraum-Variante glauben. Dass ich mich da in etwas hineingesteigert hatte.... dass ich zu viel Fantasie hatte... wie der Martin mir immer wieder väterlich in vielen vielen langen Gesprächen regelrecht eintrichterte. Jahrelang. Jahrzehntelang. Bis ich es glaubte. Aber es flackert hin und wieder gefährlich auf. Immer wieder bricht sich die Wahrheit in meinem Kopf bahn. Dann wird der Alptraum zur Realität. So auch am 6. 10. 1979, beim Anblick über dem Feuer brutzelnder Schweine. Vor allen Dingen beim Anriechen. Ja, fast wie Menschenfleisch. Da war es wieder, das Entsetzliche, das Unfassbare.

      Und schon war es wieder weg. Für viele Jahre.

      Viele Jahre.

      Im Anschluss wurde gesoffen, Bier und Schnaps. Diese visuellen Eindrücke, vor allem aber die olfaktorischen und gustatorischen Nachwirkungen jenes schicksalhaften Tages (ich hatte beim unvermeidlichen Dorffest auch Bier und Schnaps probiert) ließen mich zum Vegetarier und Anti-Alkoholiker werden. Hin und wieder esse ich Fisch, trinken tue ich jedoch nie. Bis zu jenem Tag, an dem sich alles änderte und meine Ich-Identität aufgeweicht wurde durch etwas Fremdes, aber Gutes...

      Warum erzähle ich das? Weil ich das Jagdgewehr geerbt habe. Vielleicht war es eine bittere Ironie, die meinem Onkel mit den Jahren innewohnte, ausgerechnet mich zu bedenken für sein dämliches Scheißgewehr. Ich vermute aber schlimmeres, Schlichteres. Ja, ich denke, wage sogar zu behaupten, dass mein Onkel mit den Jahren ein wenig verblödet und sentimental geworden sein könnte, und dass er fataler Weise eine völlig verquere Erinnerungstheorie aufgestellt hatte; eine Erinnerung, die aus seiner Jäger-Sicht subjektiver gar nicht hätte sein können und vermuten ließ, er dächte, mir hätte jener Horror-Jagd-Ausflug anno 79 irgendwie gefallen! De facto ging bei den Erbangelegenheiten letztlich irgendetwas schief; vielleicht, weil Sommer war (39°Celsius) und niemand mehr so richtig arbeiten konnte- und wollte hierzulande, da die Gehirnwindungen bei solchen Temperaturen anfangen zu sieden, sich auflösen in eine milchige Proteinsuppe des Schwachsinns. Jedenfalls wurde mir das Heckler & Koch SLB 2000 – Jagdgewehr vererbt und ausgehändigt ohne Quittung und Unterschrift von irgendwem. Ich holte es mir einfach von einer Nachbarin ab, die zum Zeitpunkt der Aushändigung durch UPS zu Hause war. Ich selbst war auf meiner Arbeitsstelle. Die Nachbarin überreichte mir das gut verpackte Gewehr mit einer respektvollen Gebärde (einer Art Knicks) und sagte mit einem leicht schiefem Lächeln ich wusste gar nicht, dass wir Golfer im Haus haben... Das brachte mich im Nachhinein auf eine – wenn auch abwegige – Idee. Ich dachte, wenn es so einfach ist, unterschätzt- und in meiner potentiellen Gefährlichkeit ignoriert zu werden, dann könnte ich mich verwandeln und richtig böse werden. Ich könnte mit dem Gewehr umherziehen und keiner würde es bemerken, weil ich der Rentner bin. Ein Flaschensammler mit geklautem Einkaufswagen von Netto. Ein armer alter, leicht verwirrter, zittriger Kauz des Elends. Einer, der Mülleimer untersucht wie eine Krähe. Einer, wo alle lieber wegschauen möchten, weil er so unansehnlich ist. Requisite hatte ich genügend bei meiner Arbeitsstelle. Schminke und ein wenig schauspielerisches Talent dito, kein Problem. Zugang auch, und einen wertvollen Kontakt - meine heimliche Geliebte. Ja, ich würde der Rentner sein. Meine Parole würde lauten: Unterwegs im Namen des Pfandes. Im Namen der Gerechtigkeit eines ungerechten Landes.

      Ich könnte. Aber wollte ich das? Würde ich das durchstehen? Es gab ein Problem, ein zu enges Zeitfenster meiner möglichen Taten. Alles müsste wie am Schnürchen laufen. Wenn es einen Garanten der Verlässlichkeit gibt, dann ist es wohl sprichwörtlich die Schweizer Uhr. Und diese Uhr müsste für mich ticken, für mich und mein Vorhaben, welches sich nun aus dem Brodem ungeborener Hirngespinste allmählich herauskristallisierte.

      Ticken Ticken Ticken, ich höre es ticken, in mir drin, tief in mir drin. Manchmal muss ich Luft holen, so wie jetzt, Luft holen, bevor ich diese Aufzeichnungen hier verbrenne, so wie immer. Luft holen, Luft holen, Luft Luft Luft, damit es durch mich durchsickert, mich durchtränkt und mich erfüllt, bevor die Störungen überhand nehmen. Das ist dann wie... aus der Achterbahn springen in voller Fahrt, hart landen, überleben, abwarten, bis sich der Schwindel gelegt hat und dann weitermachen. Aber diesmal ist ja endlich etwas Essentielles passiert.

      Endlich!

      Eine Ex-Freundin hat mir mal vorgeworfen, dass ich fast alle meine Sätze mit ich beginne. Sie könnte Recht gehabt haben. Außerdem ließ sie mich wissen, dass ich nicht in meiner Mitte sei, und auch in diesem Punkt muss ich ihr Recht geben. Vollkommen recht geben, denn ich bin außer Rand und Band. Mein Herz ist angefüllt mit Hass. Meine Seele ist verseucht, sie trieft vor Unglück. Aber ich habe eine Komplizin, sie ist mein einziger Halt. Sie ist ein klein wenig älter als ich, gibt mir Geborgenheit, gibt mir Kraft, schenkt mir Liebe. Auch sie ist enttäuscht vom Leben, das verbindet uns beide. Während des Geschlechtsverkehrs sagt sie manchmal ‚Oh Gott’, was ich lustig finde, denn sie betont stets, dass sie nicht an Gott glaubt. Und ich, was ist mit mir? Ich verliere mich allmählich in meinem Ich, löse mich auf, werde jemand anders, werde böse, werde der Rentner mit dem Gewehr. Das Gewehr würde nicht auffallen. Große blaue Müllsäcke mit Stecken drin zum Aufsammeln würden es tarnen.

      Ich lebe seit Jahr und Tag in einem psychosozialen Moratorium. In einer Warteschleife. In einem Auffangbecken bemitleidenswerter, unverheirateter Hartz-4-Idioten, die in einem Glas voller Zierfische gehalten werden und nicht zu den Haifischen ins große Becken dürfen, weil sie noch nicht reif dafür sind, instabil sind; für unfähig gehalten werden, ohne dass es jemals offen ausgesprochen werden würde oder gar schriftlich belegt wäre. Wie in einer Endlosschleife am Service-Telefon, wo man nie und nimmer durchgestellt wird und am Ende eine Rechnung von 8 Euro erhält.

      50 Patronen waren beigefügt. 50 Patronen. Was sollte ich damit anfangen? Ich wusste es noch nicht. Wusste es noch nicht. Aber dann reifte ein Entschluss in meinem Hirn. Ein Entschluss, der besagte, dass ich doch kein so guter Mensch sein konnte, wie ich es immer von mir gedacht hatte... Eine Veränderung meiner Seele, eine Veränderung meiner Welt, eine Veränderung von Allem. Ein Perspektivenwechsel der anderen Art. Um es mir selbst zu beweisen, fuhr ich mit der Bahn in ein argentinisches Restaurant in Berlin-Zehlendorf, wo mich niemand kannte, und bestellte ein Hüftsteak vom Rind, 220 Gramm, medium. Es schmeckte gut und auch gar nicht nach Blut. Auch das Bier vorneweg und den Grappa im Anschluss bekam ich locker durch den Hals. Eine psycho-gustatorische Veränderung vernetzte Zunge, Gaumen und Synapsen miteinander. Mit anderen Worten, es schmeckte mir wieder. Der Pawlowsche Hund in mir, dieses verfluchte konditionierte Biest, war begraben. Es schmeckte gut, so gut! Ich wurde auch schnell betrunken, was kein Wunder war, denn meine Leber war die eines neugeborenen Menschenkindes. Ach, das Leben war herrlich, wenn man wichtig war. Ich war jetzt wichtig, wurde wichtig, extrem wichtig. Meine geliebte Freundin und Komplizin würde mir ein Alibi geben, wenn ich aktiv werden würde. Ich musste aktiv werden. Im Geiste prostete ich meinem Onkel zu und meiner Komplizin. Niemand bemerkte etwas, niemand. Meine Gedanken waren rein privat, intim. Die Kellnerin flirtete sogar ein wenig mit mir. Vielleicht, weil ich jetzt ein Raubtier war. Im Innern. Ich gab ihr ein unangemessen hohes Trinkgeld (ich rundete 22 Euro auf 30 Euro auf), aber für mich war es angemessen, denn dieser Moment war einzigartig in meiner Historie. Ich war jetzt ein wenig wie mein Onkel aus der Schorfheide. Ich war jetzt wieder ein Fleisch-Typ geworden. Wie der Abend zu Ende ging, weiß ich nicht mehr so genau; ich bekam aber noch schemenhaft mit, verinnerlichte es quasi, war gewissermaßen durchtränkt davon, wie mein eigenes Ich, meine Identität, und wenn man so will meine Werte... wie alles zusammenschmolz in einem einzigartigen inneren Schmelztiegel des Hasses.

      Ich war jetzt nicht mehr Ich. Ich war jetzt ER, der Rentner.

      Zwei Tage später sah er, wie die Nachbarin, die ihm das Gewehr ausgehändigt hatte, wegzog. Ihre Freunde beluden einen stadtbekannten LKW-Verleih-Service und sahen allesamt