Björn Ludwig

Krankes ICH


Скачать книгу

P. stehen blieb. Es ist für einen ungeübten Schützen vollkommen unmöglich, ein sich bewegendes Ziel aus gut 30 Metern ins Knie zu schießen, zumal, wenn noch eine stark frequentierte Straße dazwischen liegt. Unwillkürlich richtete er das Fadenkreuz auf das rechte Knie Martin P’s aus, vielleicht, weil ihn der Schnürsenkel visuell dorthin verführte, was allerdings fatale ballistische Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Der Rentner drückte in dem Moment ab, als Martin P. sich bückte, um sich die Schnürsenkel zu binden. Sonst hatte alles geklappt: Die Ampel schaltete zum gewünschten Zeitpunkt auf Rot und die Autos blieben brav stehen, in einer niedlichen Reihe aus grün/grau-Mettalic. Aber jetzt schob sich der Kopf Martin P’s zwischen das Knie und die Kugel, und so etwas nennt man dann Faktor X. Die unbekannte Variable. Der Todfeind eines jeden Planes.

      Der Kopf zerplatzte wie eine Wassermelone, die aus dem 20. Stock fällt. Das änderte alles. Jetzt wurde aus einer schweren Körperverletzung ein eiskalter Mord. Ein Mord an einem fünffachen Familienvater. Oh Gott, das hatte der Rentner doch nicht gewollt, nein, oh Gott... niemals! Selbst Hippokrates-Eid-schwörende-Mediziner würden bei jenem grauenvollen Anblick, der sich ihnen hier bot, auf das Puls messen verzichten: Es gab keinen Zweifel, Martin P. war tot, mausetot. Der Plan war durch einen offenen Schnürsenkel vereitelt worden, komplett daneben gegangen. Die qualvollen Schmerzen, die sich der Rentner für Martin P. ausgemalt hatte, zerbarsten in 10 000 Fragmente und mäanderten in ein rotes Delta des Grauens, welches sich im Rinnstein ergoss und sich fürchterlich ausnahm. Um 11 Uhr vormittags. Eine harmlose Zeit, sollte man meinen. Aber nicht für Martin P. an diesem Tage. Und auch nicht für den Rentner. Die Strafe, die er sich für Martin P. ausgesucht hatte, zündete nicht. Vermutlich hatte sein Opfer sich nur einmal ganz kurz gewundert, bevor alles schwarz wurde. Wenn überhaupt. Er ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr in sich gegangen, denn alles, was einst in ihm drin war, floss innerhalb kürzester Zeit in den Rinnstein.

      Hätte es geregnet, wäre es dunkel gewesen oder eiskalt- und die Stadt in Düsterkeit gehüllt, dann wäre dieser Anblick, der sich den Passanten und Zeugen hier bot, vielleicht ein wenig erträglicher gewesen. Es war aber ein strahlender Spätsommer-Tag, so richtig aus dem Lehrbuch eines sogenannten Altweibersommers. Die Straße, auf der Martin P. so jäh aus dem Leben gerissen wurde, war in gleißendes Licht getränkt.

      In jenem Moment hatte auch die Jagd auf den Rentner begonnen, der diese verteufelte Schweinerei hier angerichtet hatte. Es war der 22. September 2010 in Berlin Kreuzberg, als diese Geschichte seinen Lauf nahm.

      Der Rentner hatte ein enges Zeitfenster. Er musste sich jetzt entscheiden. Konnte er sich von der Schreckstarre befreien, die ihn erfasste, nachdem sein Vorhaben derart eskaliert war? Es waren fünf Sekunden, die ihn einbanden. Fünf Sekunden der Starre, in denen auch ein Suizid möglich schien.

      Dann spürte er die Anwesenheit eines fremden Individuums in seinem Nacken, ein Rascheln im Hintergrund. Er zögerte kurz, bevor er sich umdrehte.

      Und in jenem Drehmoment spürte er wieder die Energie des Rentners.

       3

      Als Frau P. Mitte September 2010 in meinem Büro erschien, dachte ich zunächst an einen stinknormalen Eifersuchts-Fall. Zumindest hoffte ich das. Ich sollte mich bitter täuschen. Frau P. war eine hübsche Frau Anfang Dreißig, die einen weitaus älteren Mann geheiratet hatte. Martin P. war 51 Jahre alt, was ihn aber nicht darin zu hindern schien, ein wenig Rock’n Roll zu betreiben, außerhalb des Ehebettes. Und das mit einer Frau seines Alters! Ziemlich bescheuert, fand ich in einem erstem Impuls, aber andererseits auch wiederum fast originell. Jedenfalls hätte ich ihn noch unsympathischer gefunden, würde er seine Ehefrau mit einer 19-Jährigen betrügen. Aber noch war ja nichts bewiesen. Ich spürte jedoch instinktiv, dass Frau P. niemals ohne einen triftigen Grund in mein kleines Kreuzberger Büro gekommen wäre. Leider sollten sich ihre Verdachtsmomente sehr schnell erhärten. Nachdem ich Janina P. auf ihr interessiertes Nachfragen hin die Geschichte meines Nachnamens erklärte, kamen wir gut miteinander ins Gespräch. Wir tranken einen grünen Tee und aßen jeweils einen Schokoladenkeks. Das fand ich irgendwie erdverbunden und bescheiden. Ihr schien es auch zu gefallen, denn sie wurde gesprächig, fast vertraulich. Sie fragte:

      „Ich sehe Umzugskartons – wo soll es denn hingehen, geben sie ihr Büro auf?“

      „Das sind zwei Fragen auf einmal“, entgegnete ich, „und ja und nein ist meine Antwort: Ja, ich ziehe um, nach Berlin-Mitte, und nein, ich gebe mein Büro nicht auf, ich expandiere.“

      „Sie expandieren? Das bedeutet, sie machen ein zweites Büro auf? Laufen die Geschäfte denn so gut?“

      „Wieder Ja und Nein, diesmal umgekehrt. Nein, ich mache kein zweites Büro auf, sondern ein richtiges am Koppenplatz in Berlin-Mitte. Ich meinte mit Expansion nicht Größe oder Vervielfältigung, sondern Qualität und Status. Sorry, ich habe mich wohl falsch ausgedrückt.“

      „Sie klingen wie ein sehr komplizierter Mensch. Haben sie Probleme? Ich meine das nicht böse, ich finde sie durchaus sympathisch.“

      Das brachte mich ein wenig aus der Fassung. Ich sammelte mich, ehe ich wahrheitsgemäß entgegnete: „Probleme, ich weiß nicht – ich war als Kind mal im Heim für zwei Jahre.“

      Nun tat sie etwas Wunderbares. Sie lachte. Ein wenig dreckig sogar. So etwas mag ich. Die Betroffenheitsnummer kann ich partout nicht ausstehen, aber ich mag Menschen, die ein wenig dreckig lachen, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Und so entstand eine erste Bindung zwischen uns. Ich fragte, „Mögen sie noch ein wenig grünen Tee?“ und sie antwortete „Danke, sehr gerne“.

      Ich erfuhr ferner, dass sie selbst 2 Kinder mit Martin P. hatte und ihr Ehemann außerdem noch drei weitere, freilich etwas ältere Kinder mit in diese Ehe gebracht hatte. Eine ziemlich hohe Verantwortung, wie ich finde. Eine große Show – vier Mädchen, ein Junge, im Alter von 16, 14, 13, 5 und 4. Alles unter einem Dach. Ein ziemlicher Zirkus, stellte ich mir vor. Ich habe selbst zwei Kinder von zwei Frauen. Eine neunjährige Tochter, die ich regelmäßig sehe und einen fünfzehnjährigen Sohn, der mich hasst, seitdem ich mit ihm mal relativ streng war wegen ‚Zähneputzen’.

      Als er drei war. Schwieriges Alter. Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass wir – mein Sohn und ich – uns vorher erst zwei Mal gesehen hatten. Und danach nur noch ein Mal. Die Mission 'Zähneputzen' war gründlich in die Hose gegangen und schien im Vorhinein jegliches Vertrauen seinerseits zerstört zu haben. Irgendwas mit Revierverhalten und sensiblem Mundhöhlenbereich, zu dem nur die vertraute Mutter hätte Zugang haben dürfen, sagte mir der Kinderpsychologe damals. Tiefen-Psychologie.

      Nun ja. Baustelle.

      Große Baustelle.

      Ich übernahm den Auftrag und dachte häufig an Janina P. An ihr Lächeln und an ihre natürliche Eleganz. Da war nichts Aufgesetztes. Ein bisschen Show, ja, aber nichts geziertes, Gestelztes. Eine reine Weiblichkeit, die es nicht verdient hatte, betrogen zu werden von einem 51-jährigen Pfau, der einen Hortbetrieb einer Kreuzberger Grundschule leitete, gute Kontakte zum Senat hatte und eigentlich gern Politiker oder sogar Kanzler geworden wäre. Ziemlich mäßige Ausbeute, wie ich fand. Nicht gar so mäßig wie meine eigene Vita, aber ich war schließlich auch 9 Jahre jünger, als Martin P. Außerdem war ich gerade im Begriff, durchzustarten. Die Umzugskartons standen ja schon im Flur. Das Geld reichte, ich hatte keine Schulden. Jedoch muss ich immer am Ball bleiben, am besten jeden Tag. Unterhaltspflichtige Väter können es sich nicht leisten, flatterhaft zu sein und aus dem Tritt zu geraten. Sonst drehen sie eines Tages durch, geraten an die Flasche und landen im Knast oder in der Irrenanstalt. Dieser strenge Rhythmus, dem ich mich unterwarf und der daraus resultierte, jenes Elends-Szenario zu vermeiden, machte mich bisweilen fertig. Aber er legte mich nicht lahm. Ich bin ein Profi in Sachen Problemlösungsstrategien. Hin und wieder muss man einen Gang rausnehmen, um nicht durchzudrehen. In die Sauna gehen. Ins Whirlpool hüpfen. Grünen Tee trinken. Sushi bestellen. Eine Frau verführen oder sich von einer Frau verführen lassen. Ja. So geht das.

      Meine Sache.

      Ehrlich