Björn Ludwig

Krankes ICH


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erhalten können, selbst wenn ich verheiratet war. Und das war ich ja immerhin schon zwei Mal. Eventuell bin ich leicht gestört. Aber das stört mich nicht sonderlich. Es gibt Schlimmeres im Leben, als auf der verlässlichen Beziehungsebene Defizite aufzuweisen. Zum Beispiel, wenn ein Mensch keine Liebe in sich trägt. Einem solchen Menschen bin ich auf der Spur, seit dem 22. September 2010, 11 Uhr vormittags.

      Ein strahlender Tag. Wettertechnisch. Und einer der dunkelsten zugleich.

      Ich hatte meinen Opel Corsa unter einer Platane geparkt und ärgerte mich noch über eine tumbe Taube, die die Unverschämtheit besaß, meinen Wagen zu beschmutzen, um dann, blöde gurrend, ziemlich unsportlich hinweg zu flattern. Da erblickte ich Martin P., wie er im Begriff war, die Wohnung seiner Geliebten zu verlassen. Ich schoss ein, zwei brauchbare Beweisfotos mit ihm, der Eingangstüre und der Hausnummer im Hintergrund. Das war gut. Das Klingelschild (Stefanie Kunze, die Geliebte des Observierten, war ebenfalls gut lesbar), hatte ich vorher schon fotografiert und auch wieder den Wohnungseingang mit Hausnummer. Das ist Basisarbeit, Handwerk. An Tagen, an denen es gut läuft, halte ich mich für einen wirklich seriösen und gar nicht mal schlechten Detektiv. An anderen Tagen... ja ja.

      Mein Opel Corsa war wunderbar unscheinbar. Und so sollte es ja auch sein. Vor einem halben Jahr hatte ich allerdings einmal ein unverhofftes Rennen im Dienst verloren, gegen einen BMW der neuesten Serie (dessen Fahrer ein koreanischer Schmuggler aus Pusan war); 30 000 Euro Honorar gingen mir damals verloren, weil mir der ‚Kunde’ entkam... Daraufhin habe ich meinen Motor ein bisschen bei Auto-Dieter hoch-frisieren lassen. Das klingt für manche Ohren jetzt vielleicht auch wieder ein wenig gestört, ist es aber durchaus nicht. Es ist pragmatisch und macht Sinn. Vor allem die Beschleunigung im dritten Gang war jetzt für solch einen bescheidenen Wagen, wie es der 98er Corsa nun einmal ist, sehr beachtlich. Genutzt hat es mir bis dato noch nichts, aber ich stehe ja auch erst am Anfang meiner Karriere. Ich werde schon noch durchstarten. Im wahrsten Sinne.

      Ich zoomte Martin P. heran, eigentlich nur so, ohne eine berufliche Rechtfertigung. Dabei fiel mir auf, dass der rechte Schnürsenkel seiner feinen Budapester Schuhe lose war. Jetzt bückte er sich, um diese kleine Nachlässigkeit zu beheben. Ich verstehe die Frauen manchmal nicht. Er hatte eine regelrechte Fresse. Glattrasiert zwar, aber er hatte doch auch etwas von einem Penner. Innerlich, meine ich. Aber was maß ich mir eigentlich an, ich kannte diesen Herrn ja gar nicht. Um ehrlich zu sein, war ich schon jetzt ein glühender Anhänger meiner Klientin. Das war es. Ich war fast befangen. Ich mochte seine Ehefrau. Ihren Scheck habe ich aber dennoch angenommen, schließlich bin ich ein Profi.

      Und dann explodierte sein Schädel und alles in meinem Leben änderte sich. Kurz zweifelte ich doch an meinem Verstand. Da ich mich nicht so recht auskenne mit meinem Stammbaum, meiner Ahnengalerie, weiß ich auch nicht, ob irgendwelche verborgenen Geisteskrankheiten in meiner Gen-Schiene verankert sein könnten. Aber nein, dies hier war real. Martin P. war nicht mehr. Jemand hatte ihn regelrecht weggeballert wie in einem Horror-Computerspiel. Aber dies hier war real, meine Güte! Meine gute alte Canon glitt mir aus den Händen, das registrierte ich am Rande. Jetzt sah ich mit meinen eigenen Augen das ganze Ausmaß des Geschehens und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich da in eine üble und grauenvolle Sache hineingeraten war. Ich würde mich da nicht raus halten können, ich würde mit der Polizei Kontakt aufnehmen müssen, ich würde... ich war Zeuge der besonderen Art, ich musste... mein Handy war ausgeschaltet und mir fiel vor lauter Schreck die Pin-Nummer nicht mehr ein. Vielleicht war ich doch kein Profi?

      Oh doch, ich bin ein Profi, denn ich sah aus einem eingerüsteten Altbau einen Mann aus einem Fenster im Erdgeschoss fliehen. Ein Bauarbeiter, augenscheinlich ein Maurer. Vielleicht eine Tarnung, dies musste der Täter sein. Jetzt musste ich die Verfolgung aufnehmen und mich von meinem Schock lösen, was mir auch gelang. Handbremse gelöst, Zündschlüssel gedreht, Kupplung durchgetreten, Rückwärtsgang eingelegt, Gas gegeben, dann gleich danach in den ersten Gang geschaltet... durchgestartet, Gas und los, hinterher. Dieser Killer hier entgeht mir nicht. Beim Beschleunigungsvorgang überfuhr ich fast einen Obdachlosen, der mit einem Einkaufswagen voller Pfandflaschen und anderen Utensilien die Kreuzung querte, dieser Idiot! Der Maurer war schnell, offensichtlich ein sportlicher Mensch. Er hatte nichts dabei, gar nichts, außer seine weiße Maurer-Kleidung. Wo ist die Waffe? Gibt es einen zweiten Täter, ein besonderes Versteck? Was ist überhaupt geschehen? Dies hier muss der Täter oder zumindest ein Komplize sein. Es ist nicht normal, durch ein Fenster einer Baustelle abzuhauen, wenn kurz vorher 30 Meter entfernt einem Mann der halbe Kopf vom Rumpf geschossen wurde. Folglich muss dies der Täter sein, ganz klar.

      Er rannte, ich fuhr. Früher oder später ein ungleiches Duell. Aber dann tat er – aus seiner Sicht – das einzig Richtige und bog in eine Einkaufspassage ein, in der ich mit meinem illegalen Motor nun wirklich nichts ausrichten konnte, es sei denn, ich wäre einer von denen, die mit einer Amokfahrt und dutzenden verletzter oder toter Passanten in die Geschichte eingehen wollten. Wollte ich aber nicht. Also, Wagen geparkt, vielmehr gerammt (an den Bordstein, was meinen Felgen nicht gefiel), und hinterher gerannt, den Maurer immer im Blick. Er war fit, ich auch, doch er hatte Vorsprung. Langsam wurde mir sein Ziel klar: Sie S-Bahn-Station bei den Yorckbrücken, dort, wo Kreuzberg zu Schöneberg wird und sich Horizonte erweitern oder verkleinern, je nach individuellem Blickwinkel. Er war ein guter Läufer, das erkannte ich an seinem federnden Schritt, der trotz der schweren Bauschuhe elegant über den Asphalt glitt. Ich verlor ein wenig den Anschluss, denn meine Muskeln waren nicht warm. Dann jedoch verstrickte der Maurer sich in einer Menschenschlange, die eine Döneria zierte, und es kam zu einem tumultartigen Durcheinander, in dem fluchende Trinker, radikale Radfahrer und ignorante Spinner involviert waren. Auch ein paar Touristen, sowie seriöse Arbeitnehmer auf dem Weg zu ihrem Dienst. All dies untermalt von Sirenen. War die Polizei bereits unterwegs? Der Maurer bog links ein, die Treppen zur S-Bahn hin. Ich sprang über einen gestolperten Teeny und spurtete hinterher. Gleichzeitig rollte die S-Bahn ein, es grollte. Wenn man sich anfängt zu fragen, warum Dinge zeitlich nie in das eigene Konzept passen, läuft man Gefahr, zu verbittern. Aber warum kam die S-Bahn ausgerechnet jetzt mal pünktlich, so dass der Täter sie noch vor mir erreichen konnte? Warum? Ich fragte mich das tatsächlich während des Sprints.

      Berlin ist eine schnelle Stadt mit ungezählten genervten, bedrückten und entrückten Menschen. Aber es gibt auch viele gute Seelen, Leute mit Verständnis. Jemand machte mir Platz, schob seine breite Schulter zurück, weil er scheinbar irgendetwas erkannte. Den Ernst der Lage vielleicht. Und weil er sich selbst zurücknahm und in seinem Ego nicht erschüttert wurde, obwohl ich ihn auf der Treppe versehentlich, dienstlich, anrempelte. Vielleicht einfach auch nur, weil er keinen Stress wollte. Auch dafür habe ich ein tiefes Verständnis. Im Grunde meines Herzens will ich doch auch keinen Stress, bloß keinen negativen Stress! Aber ich bin in Ausübung meines Dienstes und muss gewisse Dinge regeln in meinem Leben. Und für andere Leben.

      Wie dem auch sei, ich konnte den Typen noch, kurz bevor sich die Türen seines gewählten Waggons schlossen, am Revers packen, ihn dabei halb aus dem Waggon herausziehend, was Geschrei und abermals Tumult auslöste. Dabei erhaschte ich einen ganz kurzen Blick auf ein gut geschnittenes, südländisches, markantes Gesicht, bevor mich seine linke Faust unvermittelt hart aufs Jochbein traf. Das tat weh. Jochbein-Treffer tun immer weh, verdammt noch mal. Seinen zweiten Schlag jedoch (diesmal mit der rechten Faust ausgeführt), parierte ich mit einem ebenso rechten Hansonnal-pakkat-makki, eine mit der Handkante geschlagene Abwehrtechnik, wobei seine Uhr (eine blau-metallisch schimmernde Citizen, gar nicht schlecht), regelrecht vom Handgelenk platzte. (Sehr gut, wichtiges Beweismittel!). Ich war jetzt auch wütend, weil mir dieser Mann so weh getan hatte, und unterdessen hatte das Adrenalin auch längst den lähmenden Schock aus meinen Adern geschwemmt. Und ich wollte diesen Täter dingfest machen, um jenen schrecklichen Fall für mich so schnell wie möglich abzuschließen und der Polizei zu übergeben. Darum war es notwendig, noch einen trockenen und harten Ap-chagi auszuführen, mit meinem rechten, meinem stärkeren Fuß. Dieser Tritt beförderte den Verdächtigen aber ausgerechnet zurück in den Waggon, und unmittelbar danach schlossen sich die Türen und die S-Bahn fuhr los. Zeitnah zu diesem Ereignis, vielleicht sogar in Koexistenz, traf mich irgendetwas aus Hart-Gummi von hinten an meinem Schädel. Es fühlte sich eher an wie ein Edelstahlrohr und ich weiß noch, dass ich, kurz bevor ich das Bewusstsein