Franziska Frey

Sein letzter Cache


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hatte er vor dem „Team Geohasen“, na ja, Angst war das falsche Wort, eher einen sportlich, konkurrierenden Druck, der ihn schon oft zu Höchstleistungen angetrieben hatte. Mit Erfolg – die meisten FTFs hatte er!

      Mit der Spitze voran rammte er sein rechtes Steigeisen in das Baumholz. Der Baum schien unter dieser Attacke zu ächzen. Das störte ihn allerdings nicht. Er hatte in seinem Leben noch nie viel Rücksicht auf andere genommen, seien es Menschen, Tiere oder Pflanzen gewesen. Da störten ihn auch die strengen Regeln des Geocachings nicht, die verlangten, dass man beim Cachen auf die Natur in besonderer Weise achten sollte. Ihm war das egal, Hauptsache, er kam zu seinem Cache.

      Die Buche war so gesund und stand in ihrem Saft, dass er doch auf die Krampen zurückkommen musste und er rammte mit Hilfe seines Hammers die erste Krampe in das Baumholz. Der Baum schien zu vibrieren, bis er die Krampe festgeschlagen hatte und darauf zu stehen kam. Aus dieser Höhe konnte er sein Seil über den ersten Querast werfen, um dann mit Hilfe der Steigeisen den Stamm hochzuklettern. Er rammte weitere Wunden in den Baum und setzte sich leicht keuchend auf den Ast in ungefähr fünf Metern Höhe. Nach oben hin verjüngte sich der Baum, allerdings war der nächste stabil aussehende Querast erst weit über ihm zu sehen. Von hier aus hatte er bereits eine bessere Sicht nach oben in die Baumkrone, die um diese Jahreszeit sehr licht war und dadurch besser einsehbar. In der Mitte kamen mehrere Äste zusammen und bildeten etwas, das von unten aussah wie eine natürliche Mulde. Dort konnte der Final liegen, aber bis dahin war es noch eine Strecke von wieder ungefähr drei Metern in die Höhe.

      Er schlug eine weitere Krampe in den Stamm hinein, kletterte hoch und zog sich an einem kleineren Ast weiter. Wieder konnte er das Seil über den stabilen Ast werfen, um dann den Stamm mit den Steigeisen weiter zu verletzen und hochzuklettern. Er prüfte den Ast auf Standfestigkeit für seine durchtrainierten 80 Kilo und zog sich hoch. Jetzt lag die Baumkrone noch knapp über drei Meter über ihm und machte einen einladenden Eindruck. Das konnte man ohne Seil schaffen. Er schlug eine letzte Krampe in den Ast, stellte sich hinauf und stemmte sich höher, um sich auf einen kleinen Ast zu stellen. Jetzt lag die Baumkrone fast zum Greifen nah vor ihm und er konnte aus den Augenwinkeln die Ecke einer dunkelgrünen Kiste erspähen. Glücksgefühle durchwallten ihn, er hatte also wieder mal die richtige Spur gefunden. Einen letzten Schritt musste er auf einen abgestorbenen Querast setzten, dann konnte er nach dem Ast greifen, der zur Krone gehörte und sich daran hochziehen. Er legte alle Energie in das Greifen und verlegte seine ganze Kraft in die Arme.

      Was war das?

      Es war glitschig.

      Seine Hände rutschten ab, warum auch immer.

      In Zehntelsekundenschnelle verlor er die Kontrolle über seine Hände und seinen Körper.

      Während er krachend auf den unteren Ast fiel, durchzuckte ihn sein letzter Gedanke: „Nicht gehoben.....“

      21. November, Spätnachmittag

      „Team Geohasen“ keuchte in leichtem Regen durch den Wald. Die letzten beiden Stationen hatten sie wirklich gefordert. Für eine Station mussten sie Hunderte von Metern weit durch den Wald stapfen, bergauf und bergab. Die letzte Station vor dem Final lag unter Wasser hüfttief in einem Bach. Sie hatten so was schon befürchtet, daher hatte Matthias seine Wathose im Rucksack mitgenommen. Seine Hände und Füße waren immer noch eiskalt vom Bachwasser. Aber immerhin hatte der Hinweis in dem wasserdichten Döschen sie nach einigem Hin- und Herüberlegen und Internetrecherchen zum Final geführt. Barbara seufzte. Schon wieder einen Hügel hoch durch eine Lärchenschonung. Sie waren schon den gesamten Nachmittag unterwegs gewesen und langsam fing es an zu dämmern. Sie mochte es nicht sonderlich, während der Dunkelheit im Wald zu zweit abseits von jeglicher Zivilisation unterwegs zu sein. Aber das würde sie Matthias nie eingestehen. Immerhin war sie nicht allein und mit Matthias im Team hatten sie schon so manchen Fund im Wald bei Nacht gehoben. Der Kick nach dem FTF war bei ihr dann doch einfach zu groß. Sie mochte diese Wettrennen um den FTF. Mit Matthias als „Team Geohasen“ war es einfach gut und sie hatte sich noch nie gefährdet gefühlt.

      „Arschkalte Flossen trotz Taschenofen“, sagte Matthias. „Nimm du mal das GPS!“ Barbara schaute auf die Anzeige. Noch 350 Meter. Sie liefen auf einen Mischwald zu, der sich an die Lärchenschonung anschloss. Noch 150 Meter. Es wurde dunkler. Die eng stehenden Bäume verschluckten das eh schon weniger werdende Dämmerungslicht. „Rechts lang, Matthias“ sagte Barbara. Noch 60 Meter. „Wart mal...“ sagte sie zu ihm. Irgendwas stimmte nicht. Schräg vor ihr sah sie im letzten Licht etwas Großes, Rotes auf dem Boden liegen. „Matthias, was ist das?“ sagte sie. Das GPS zeigte genau in die Richtung des Roten. „Wahrscheinlich das Final“, gluckste der, „ist wohl ein Zelt oder ein Schlafsack oder eine halb eingegrabene rote Munitionskiste“. Sie stapften weiter und versuchten, mit den Augen zu erkennen, was das war. „Oh Gott“, sagte Barbara, „ich glaub, da liegt wer!“ Als sie noch näher kamen, setzte ihr Verstand aus und sie schrie, schrie, schrie durch den einsamen Wald....

      Matthias hielt sich die Ohren zu vor Barbaras gellenden Schreien. Als ausgebildetem Rettungssanitäter war ihm innerhalb weniger Sekunden klar, dass der dort liegende Mann mausetot war und das schon seit einigen Stunden. Das Allerschlimmste war aber, dass sie beide den Mann kannten. Es war „bigC“, ihr Cacherkonkurrent, mit dem sie sportlich um die FTFs in ihrem Gebiet wetteiferten. Wie oft waren sie mit ihm um einen FTF unterwegs – meistens war „bigC“ der erste, manchmal sie. Eigentlich mochte Matthias ihn nicht besonders. Er fand ihn arrogant, schnöselig und vor allem sehr angeberisch. Aber sportlich war er, das konnte man ihm nicht aberkennen, sportlich war er. Als das „Team Geohasen“ vor einigen Wochen mal als erste am Cache war und er sich um Minuten verspätet hatte, konnte er mit einem lockeren Spruch seine „Niederlage“ verkraften. Auf den Cacherevents in der Region hatten sie bei ein paar Bierchen mit ihm mehrmals durchaus amüsante Gespräche geführt. Vor allem an Barbara schien er mehr als interessiert – nicht, dass Matthias eifersüchtig war, er hatte mit seiner Freundin Helga eine mehr als gute langjährige Beziehung, die es ihm erlaubte, mit Barbara ausgedehnte Cachertouren zu unternehmen. Barbara war da lockerer – eigentlich wusste er gar nicht, ob sie aktuell einen Freund hatte oder nicht. Darüber sprachen sie auch nicht, war nicht weiter interessant für ihn auf ihren gemeinsamen Touren. „bigC“ war auf jeden Fall der Typ „Frauenversteher“. Matthias war immer schon schleierhaft gewesen, warum Frauen in seinem Alter auf so viel ältere Männer stehen konnten, auch wenn die wie „bigC“ noch recht gut aussahen. Er war groß gewachsen und schmal, Typ Athlet, gut durchtrainiert. Seinen blonden, kurzgeschnittenen Locken konnten anscheinend in Kombination mit seinen großen braunen Augen nur wenige Frauen widerstehen. Er kannte sich da als Mann nicht so aus. Seine Cacherklamotten und seine Ausrüstung waren immer auf dem neuesten Stand. Er musste vor Geld nur so stinken. Auf einem Cacherevent hatte er gesehen, dass er ein Cabrio fuhr. Eben ein Angeber.

      Barbara schrie immer noch gellend und die Tränen spritzten ihr aus den Augen. Sie war auf die Knie gesunken und schlug fortwährend die Fäuste vor den Kopf. „Barbara“, sagte Matthias laut, hockte sich zu ihr und schüttelte sie an den Schultern. „BARBARA!!!“ Sie reagierte nicht und schrie weiter. Er verpasste ihr mit voller Wucht eine Ohrfeige. Das brachte erfahrungsgemäß Leute unter Totalschock wieder etwas zur Besinnung. Barbara fiel um wie ein Sack Mehl und lag wimmernd auf dem Boden. „Entschuldige, entschuldige“ murmelte er, hob sie auf und zog sie in seine Arme. Sie wehrte sich nicht und weinte leise weiter. Sie bebte am ganzen Körper. Erst jetzt merkte er, dass er auch ganz zitterig war und seine Beine ihn nicht länger gut getragen hätten.

      „Ich muss die Polizei anrufen“ sagte er zu Barbara und kramte sein Handy aus der Tasche. Das Allerletzte, was er jetzt gebrauchen konnte, wäre das Signal „Kein Empfang“. Aber beim Blick auf das leuchtende Display sah er erleichtert, dass es „NUR NOTRUF“ anzeigte. Das genügte.

      „Matthias Kannenheim“ meldete er sich. „Hier gibt es einen Toten.“ „Sagen Sie uns bitte die genaue Adresse“ erwiderte der Polizist am anderen Ende. „Kann ich nicht, das ist mitten im Wald. Aber ich kann Ihnen unsere Koordinaten geben.“ antwortete Matthias. „Sie werden feste Schuhe brauchen, da müssen Sie mindestens eine halbe Stunde weglos