aber kurz vor ihrer Entlassung – gut, dass sie direkt gefahren war. So konnte sie beide getrennt voneinander befragen.
Matthias Kannenheim schien es wieder recht gut zu gehen. „Ich weiß auch nicht, ich hab ja schon einiges mitgemacht als Rettungssanitäter, aber gestern hat‘s mich so richtig aus den Socken gehoben, ich musste mich sogar übergeben...“ sagte er. „Das kann dem Härtesten der Harten passieren“ tröstete Günnur ihn.
„Vielleicht weil ich ihn kannte oder weil Barbara so ausgerastet ist oder weil ich schon körperlich so ausgelaugt war – ich weiß es nicht.“ sinnierte Matthias.
„Oder weil sie den Unfall gesehen haben?“ fragte Günnur vorsichtig. „Nein, wirklich nicht“ beteuerte Matthias. „Wir haben ihn dort liegen sehen, man konnte schon von weitem seine rote Jacke erkennen. Ich hab noch Witze gerissen, dass das der Cache ist, aber dann wurde die Lage ja sehr schnell ernst.“
„Was ein Cache ist, weiß ich ja glücklicherweise, aber erzählen Sie doch bitte: Was haben Sie da im Wald gemacht und wieso sind Sie da zusammen mit dem Toten gewesen, obwohl Sie nicht zusammen unterwegs waren?“
Matthias erzählte in aller Ausführlichkeit von der Jagd nach den FTFs, die sie sich mit „bigC“ seit vielen Monaten lieferten. Matthias wusste nur den Vornamen seines Mitcachers: Clemens. Man kannte sich oft nur unter dem Pseudonym oder mit dem Vornamen. „Wir sind ziemlich sicher, dass er an den Folgen eines Sturzes aus großer Höhe gestorben ist“ sagte Günnur.
„Das kann echt sein“ sagte Matthias. „Der Cache war höchstwahrscheinlich auf der Riesenbuche versteckt, unter der er lag. Ich hab zwar nicht mehr auf mein GPS geschaut, aber die Koordinaten müssten stimmen. Weil das ein T5 war, ist das Final mit Sicherheit ein Klettercache. Clemens hatte ehrlich gesagt sehr unorthodoxe Klettermethoden. Während Barbara und ich einen Kurs belegt haben, immer zusammen unterwegs sind und mit Ausrüstung klettern, ist er alleine unterwegs und klettert meist ohne jegliche Sicherung, manchmal nimmt er ein Seil. Außerdem rammt der seine Steigeisen in die Bäume und manchmal haben wir auch schon Löcher in den Bäumen gefunden. Da hatte er dann Krampen eingeschlagen, auf denen er stehen kann. Die zieht er natürlich nach dem Cachefund wieder raus, damit bloß kein anderer diese Kletterhilfe nutzen kann. Der blutende Baum, der nach seiner Attacke oft qualvoll stirbt, ist ihm völlig egal. Die Cachergemeinde hat ihn schon oft angemahnt. Aber das war ihm total schnuppe. Er prahlte damit, dass er noch nie einen Unfall hatte.“ Er atmete tief. „Tja, einmal ist immer das erste Mal... Ich geb ja zu, mein Fall war er gar nicht. Aber DAS hätte ich ihm niemals gewünscht!“
Günnur glaubte dem jungen Mann eigentlich. Das, was er sagte, wirkte ehrlich. Aber könnte es nicht auch sein, dass die beiden unter dem Baum gestanden haben und schadenfroh gesehen haben, wie ihr Cacherkonkurrent fiel? War eine Konkurrenz ein Motiv für unterlassene Hilfeleistung? Aber war eine Konkurrenz bei einem Hobby ein Anlass für einen Mord? Oder war es doch ein Unfall, an dem die beiden nichts ändern konnten? Sie durfte diese Gedanken nicht aus dem Auge verlieren.
Ihr wurde klar, dass sie noch mal in den Wald musste, um die Umgebung zu untersuchen und Restspuren zu sichern. Das war gestern aufgrund der Dunkelheit und des Regens fast unmöglich gewesen. Ärgerlich. Sie hatte sich auf einen Tag innerhalb der Dienststelle gefreut und fühlte sich in ihrem Kostüm mit den hochhackigen Schuhen richtig wohl. Das würde heute nicht lange ihre Dienstkleidung bleiben....
Barbara Groß saß blass mit rotgeränderten Augen in ihrem Zimmer. Sie bestätigte das, was Matthias Kannenheim gesagt hatte. Sie wusste auch den Nachnamen von Clemens: Berger. Ebenfalls konnte sie der Kommissarin sagen, wo er wohnte und dass er eine geschiedene Frau und eine Tochter hatte, sodass sie endlich jemanden benachrichtigen konnten.
„Gut zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht“ sagte Günnur zu ihr. „Sie waren ja gestern mächtig mitgenommen.“
Barbaras Unterlippe zitterte. „Ja, ich..., also ich und Clemens, wir waren mal für kurze Zeit ein Paar...“ Sie zog die Luft ein. „Aber es war Schluss zwischen uns. Trotzdem...“ sie konnte nicht weiterreden.
„Jetzt beruhigen Sie sich, kommen Sie wieder zu sich und gehen Sie erst mal nach Hause. Ich habe ja Ihre Adresse und wenn noch Nachfragen sind, werde ich mich an Sie wenden, ja?“ sagte Günnur beruhigend. Barbara nickte und sah der attraktiven jungen Kommissarin hinterher, als sie aus der Tür ging. Sie war sich sicher, dass sie ihr Vieles, was sie erlebt hatte, niemals sagen durfte. Sie hoffte inständig, dass das niemand je erfahren würde. Es würde sie in den Kreis der Hochverdächtigen bringen und das durfte nicht passieren – zumal sie ja wirklich unschuldig war. Aber bei dem, was in der Beziehung mit Clemens vorgefallen war, würde sie jetzt mit einem oder beiden Beinen im Gefängnis sein.
Nach dem Neujahrs-Cacherevent im letzten Januar waren sie in seiner Wohnung gelandet. Sie fand ihn attraktiv und amüsant. Schnellen Abenteuern war sie nicht abgeneigt und er schien Gleiches spannend zu finden. Ihr Sex war kurz und heftig und hatte beiden Lust auf mehr gemacht, sodass sie eine recht atemberaubende Nacht bei ihm verbrachte. Er lebte allein in einer großen Penthousewohnung mit Blick über die Altstadt, war geschieden und hatte eine erwachsene Tochter. Der Altersunterschied zwischen ihnen störte Barbara nicht, im Gegenteil. Sie fühlte sich auf der einen Seite väterlich geborgen, auf der anderen Seite zog sie seine so ganz andere Körperlichkeit als die der jüngeren Männer an. Außerdem war er extrem zuvorkommend, höflich, ein Kavalier der „alten Schule“, der Frauen verwöhnte. Das zeigte er am nächsten Morgen mit einem opulenten Frühstück. „Zum Glück habe ich heute keinen Außentermin“ sagte er nach dem Frühstück, zog ihr den Morgenmantel von den Schultern und sie mit in die Badewanne, in die er ohne dass sie es bemerkte das Badewasser eingelassen hatte. Er wusste in allen Lebensbereichen genau, was Frauen wollten und sie genoss es in den nächsten Wochen in vollen Zügen. Er lud sie zu teuren Essen ein, zu denen er sie in seinem Cabrio chauffierte und spendierte der „armen Studentin“, wie er sie liebevoll nannte, neue Markenklamotten, die er ihr nach dem Shopping im Schlafzimmer dann wieder langsam vom Leib zog. Sie verbrachten ein verlängertes Wochenende in einem Luxushotel in der brandenburgischen Einsamkeit, in dem sie nur zum Essen das Hotelzimmer verließen.
In dieser Zeit hatte sie recht wenig mit Matthias gecacht. Clemens hatte fast alle FTFs bekommen. Matthias fragte nicht groß nach, er hatte selbst manchmal Phasen in seinem Studium, in denen er wenig Zeit hatte.
Obwohl sie es nicht wollte, war Barbara kurz davor, sich richtig in Clemens zu verlieben. Sie war gegen jede Form emotionaler Bindung. Aber er schaffte es, mit seinem Charme, seiner Attraktivität und seiner Großzügigkeit ihr Herz zu erobern.
Was er sich wohl zu ihrem Geburtstag ausgedacht hatte? Sie hatte ihm gesagt, wie wichtig ihr Geburtstag für sie war und freute sich schon auf diverse Überraschungen von seiner Seite. Sie hatte extra ihre Freundinnen und Freunde zu einer Wochenendparty eingeladen, um am Tag selbst Zeit für Clemens zu haben. Morgens stand er mit einem Riesenblumenstrauß vor der Tür und sagte bedauernd: „Tut mir Leid, ich muss den ganzen Tag arbeiten!“ Weg war er. Barbara heulte und tat sich den ganzen Tag selber Leid – bis er spätabends wieder vor der Tür stand. Sie war unbeschreiblich glücklich und ließ sich im Bett die Augen von ihm verbinden. „Warte auf meine Überraschung!“ flüsterte er ihr ins Ohr. Das, was dann kam, hatte sie so gut wie aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Es war der bisher schmerzhafteste, brutalste Sex, den sie je gehabt hatte. Als es endlich vorbei war, sie von ihm abgewandt lag und er sie beruhigend streicheln wollte, schlug sie nach ihm. Er war wieder ganz der Alte und versuchte, sie mit betörenden Worten und Entschuldigungen einzulullen, bis sie erschöpft einschlief.
Seit ihrer Geburtstagsnacht hatte sie Angst vor ihm. Er konnte nach wie vor der alte Kavalier und Liebhaber sein, aber das Dämonische in ihm nahm zu. Er erniedrigte sie mit Worten wie „Ach, du bist doch nur eine kleine Studentin!“ oder „Du weißt ja gar nicht zu schätzen, was du an mir hast!“ und schien sich an ihrer Verletztheit zu weiden. Immer härter wurden auch seine Sexpraktiken. Das Schlimme war, dass er völlig unberechenbar war. Manchmal hatten sie ihren alten Sex, den sie so liebte, manchmal fühlte sie sich ihm nur hilflos ausgeliefert und auch hier hatte sie den Eindruck, dass er es genoss, sie zu erniedrigen.
„Mir reicht das jetzt“