die Planen drüber!“ herrschte sie die Kollegen von der Spurensicherung an. „Wir sind noch nicht fertig!“
Der Mann war aber bereits von oben und unten klatschnass. Der Fundort - oder sollte man Tatort sagen? – war nicht mehr weiter zu untersuchen, alle eventuellen Beweise schwammen vor ihren Nasen buchstäblich weg.
22. November, 7 Uhr
Am nächsten Morgen sah die Welt für Günnur schon wieder anders aus. Sie war erst um Mitternacht zu Hause angekommen. Der Marsch durch den Urwald in strömendem Regen zurück zu den Einsatzfahrzeugen erwies sich als Gewaltmarsch. Am meisten taten ihr die Träger der Leiche und beiden jungen Leute Leid. Aber das Tragen war immer noch besser als die beiden den ganzen Weg hindurch zu stützen, das hatten sie schnell festgestellt. Die zwei konnten wirklich kaum die Füße voreinander setzen und wurden ins Krankenhaus gebracht.
Zu Hause angekommen war sie klitschnass und dreckig sofort in die Badewanne gestiegen. Das warme, fast heiße Wasser leistete gute Arbeit an ihren Füßen, sodass sie schon fast warm geworden zu Tobias ins Bett schlüpfen konnte. Der war schon eingeschlafen und murmelte: „Na, auch schon da?“ „Sei still, ich will schlafen!“ erwiderte sie und kuschelte sich an ihn.
Jetzt saßen sie mit den Kindern am Frühstückstisch. Die Zeit nahmen sie sich beide regelmäßig. Es war die erste Zeit mit ihren Kindern am Tag, bevor alle auseinander strömten. Dafür standen sie gerne früh auf. Beyza matschte ihre Tomaten mit der Hand auf den Schafskäse. „Beyza, lütfen“ ermahnte Günnur ihre Dreijährige. Beyza schaute ihre Mutter aus kugelrunden braunen Augen unschuldig an und nahm ihre Gabel zur Hilfe. Beyza war unwiderstehlich süß. Sie hatte nicht nur ein niedliches Aussehen, sondern ihr Charakter war auch zum Knuddeln. Günnur musste sich selbst oft ermahnen, die Kleine nicht zu sehr zu verwöhnen. Sie war immer gut gelaunt und konnte reden wie ein Wasserfall. Ganz anders als ihre eher zurückhaltende Schwester Lale, die gerade wieder schweigend ihr Schafskäsebrot kaute. Zum Glück kam Lale trotz ihrer Schweigsamkeit anscheinend sehr gut in der Schule klar. Das Zeugnis der ersten Klasse war richtig super und ihre Lehrerin zeigte sich begeistert von ihr. Jetzt in der zweiten Klasse brauchten sich Tobias und Günnur kaum noch um ihre Schulangelegenheiten zu kümmern.
„Anne, bugün kütüphaneye gideceğiz“ sagte Serdar mit leuchtenden Augen. „Echt? In welche Bücherei geht ihr? In die Stadtbücherei oder die kleine bei euch an der Schule?“ fragte Tobias. „In die Stadtbücherei, Papa, wir sind doch jetzt vierte Klasse, die kleine ist zu klein für uns!“ antwortete Serdar mit leicht hochnäsigem Klang in der Stimme.
In der Familie Meier wurden die Kinder konsequent zweisprachig erzogen. Günnur redete nur Türkisch mit ihren drei Sprösslingen, während Tobias für die deutsche Sprache zuständig war. Er selbst konnte inzwischen recht passabel Türkisch. Ihre kleine glückliche Familienidylle war lange keine Selbstverständlichkeit gewesen. Günnurs Eltern waren weltoffen genug, um ihr das Abitur und das ersehnte Studium an der Polizeihochschule zu ermöglichen, aber bei der Wahl des Ehemannes waren sie konsequent konservativ geblieben. Es durfte nur ein Türke sein. Die fand Günnur schon immer eher diskussionswürdig als Lebenspartner für sich selbst. Die Exemplare, die sie näher kennen gelernt hatte, stellten sich als unverbesserliche Machos und Frauenunterdrücker heraus, was sie für sich selbst absolut ablehnte. Ihre Eltern ließen es aber nicht sein und schleppten immer wieder junge türkische Männer zu ihnen nach Hause, die mit ihr Tee trinken mussten. Es gab sogar welche, die aus der Türkei kamen! Es nervte. Die Eltern hatten Angst, weil sie an ihrer Uni mit vielen deutschen Männern zusammen studierte. An der Polizeihochschule war das Zahlenverhältnis Frauen – Männer nicht gerade ausgeglichen.
Tobias lief ihr dann aber nicht in der Polizeihochschule über den Weg, sondern sie stießen – ganz unromantisch - in der Unibibliothek zusammen. Dabei fielen ihre Bücherstapel auf den Boden und schon während des Aufhebens merkten beide, dass es gefunkt hatte. Beim anschließenden Kaffee, der sich über Stunden hinzog, wurde das Gefühl noch stärker, denn beide merkten, dass sie gleiche Interessen und Gedanken hatten. Tobias schrieb gerade seine Doktorarbeit in Geografie und war durch sein Studium über die Türkei geografisch gut informiert. Die gesellschaftliche und kulturelle Härte der Türkei musste er in den nächsten Monaten und Jahren leidvoll erfahren. Ohne seinen Humor, seine Hartnäckigkeit und vor allem die tiefe Liebe zu Günnur hätte er wohl aufgegeben und sich eine andere Frau gesucht. Dafür war ihm Günnur ewig dankbar. Er lernte Türkisch, um sich bei ihren Eltern stilvoll vorstellen zu können, denn dass ihre Beziehung auf Heirat hinauslaufen sollte, war beiden schnell klar. Der erste Auftritt bei ihren Eltern wurde zur Katastrophe. Günnurs Vater schmiss ihn laut schreiend hinaus, woraufhin Günnur, genauso laut ihren Vater anschreiend, hinter Tobias herlief. Sämtliche Verbote der Eltern, sich mit Tobias zu treffen, ignorierte Günnur geflissentlich. Die Freiheit nahm sie sich, dazu war sie zu verliebt und zu selbstbewusst. Tobias fuhr indessen sogar in die Türkei und schrieb sich in Istanbul an der Fremdsprachenuni ein, um mehrmonatige Türkischkurse zu belegen. Sein Türkisch wuchs auf Studierniveau an. Von sich aus suchte er den Kontakt in die „türkische Szene“ in ihrem Ort, was sich natürlich bis zu Günnurs Eltern herumsprach und nicht gerade für Begeisterung sorgte, weil nun alle Freunde von Günnurs Eltern wussten, dass sich ein Deutscher für ihre Tochter interessierte.
Das widerum war ihre Chance, denn nun war allen klar, dass Günnur einen deutschen Freund hatte und das konnte nicht so bleiben.
Irgendwann waren die Eltern so weichgekocht, dass sie einer Heirat nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Auch Tobias’ Eltern, aufgeschreckt durch die ganzen Schwierigkeiten, die ihr Sohn ihnen schilderte, waren nicht sehr begeistert von ihrer Verbindung, sahen sie ihren Sohn doch schon unter die Räder der türkischen Kultur kommen.
Tobias war sogar zum Islam konvertiert, weil Günnurs Eltern es im Zuge der Hochzeitsvorbereitungen so verlangt hatten. Mit dem eigenen evangelischen Glauben hatte er es nicht so, sodass es ihm egal war.
Nach drei turbulenten Jahren war es endlich soweit und ihre trubelige deutsch-türkische Hochzeit konnte gefeiert werden. Bunt gemischt waren die Gäste und inzwischen freuten sich alle mit dem Paar, sogar ihre Eltern hatten sich inzwischen aneinander und an den Gedanken einer bikulturellen Ehe ihrer Kinder gewöhnt.
Nicht wirklich gewöhnen konnte sich Günnur an ihren neuen Nachnamen. Musste es ausgerechnet Meier sein, der deutscheste aller urdeutschen Namen und das bei ihrem urtürkischen Aussehen? Sie war in der Tat versucht, ihren Namen zu behalten oder einen Doppelnamen anzunehmen. Aber Meier-Gören oder Gören-Meier klang auch nicht wirklich gut, außerdem wurde ihr Nachname von den Deutschen immer falsch ausgesprochen, was sie seit ihrer Kindheit gestört hatte. Wer sprach es als Deutscher schon auf der zweiten Silbe betont aus? Ein Nachname, der im Deutschen wie die Definition für freche Kinder ausgesprochen wurde, war auch nicht gerade einfach gewesen und führte oft genug zu Hohn und Spott ihrer Klassenkameraden. Ein korrekt ausgesprochenes „Meier“ war immer noch besser als ein gewürgtes, gegrinstes „Görenmeier“ oder so ähnlich. Also entschied sie sich schweren Herzens für den Nachnamen ihres Zukünftigen. Bei der Arbeit wurde sie meistens aufgezogen, wenn sie sich als „Meier“ vorstellte. Schallendes Gelächter und frotzelige Sprüche von blonden Kollegen wie „Jaja, und ich heiße Öztürk“ folgten eigentlich immer. Sie hatte sich passende Reaktionen zurechtgelegt und im Laufe der Jahre und der zunehmenden Integration wurden die Kommentare weniger. Vielleicht lag es aber auch an ihrem stärkeren Bekanntheitsgrad bei der Arbeit und im Ort.
Heute hatte sie die Aufgabe, Beyza in den Kindergarten zu bringen, der auf ihrem Weg zur Arbeit lag. Lale und Serdar gingen zu Fuß zur Schule in die entgegengesetzte Richtung. Sie trieb die Kleine etwas an, weil sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus zur Befragung der beiden jungen Leute wollte. „Kendine iyi bak, cicim“ verabschiedete sie Beyza und gab ihr ein Küsschen, obwohl ihr klar war, dass Beyza natürlich auf sich aufpassen würde. Die Verabschiedung kannte sie aus ihrer eigenen Kindheit und sie war ihr so vertraut und lieb geworden, dass sie sie an ihre eigenen Kinder weitergab. Sie winkte Beyza noch mal zu, die sie schon nicht mehr sah und um die Ecke stob.
22. November, vormittags