Peter Schräpler

Die STASI nannte ihn "Betrüger"


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die digitale Welt gestellt. Manchmal tendiere ich auch zu leichter Ironie, steigere mich bis zum Zynismus, um schlussendlich im politischen Sarkasmus zu landen. Man verzeihe mir.

      Die ungarische Grenze

      Auf einer Länge von ca. 250 Kilometern war die VR [Volksrepublik] Ungarn zwar nicht vergleichbar wie die „DDR“ eingezäunt, aber in geografischer Richtung zu den unsicheren Kandidaten des Warschauer Paktes durch eine Grenzsicherungsanlage mit einem Alarmzaun abgeschirmt. Zu den unsichersten „Kandidaten“ zählte damals das sozialistische Jugoslawien. Die Gruppe um Tito hatte bereits im Jahr 1953 Gruppen von Bürgern das Recht eingeräumt, Unternehmen zu gründen und eigene Arbeitskräfte einzustellen. 1961, im Jahr des Mauerbaus, konnten private Personen sogar Devisen erwerben. Beides wurde 1963 in der Verfassung verankert. Damit war der Grundstein gelegt, dass die meisten „sozialistischen Brudervölker“ Jugoslawien als einen Verräter am Sozialismus bezeichneten. Einzige Ausnahme blieb die Sowjetunion. Jugoslawien hatte einen relativ liberalen Weg eingeschlagen, dem sich Ungarn später näherte. Österreich als unvergessener Partner der Österreich-Ungarischen Monarchie galt als „Klassenfeind“ – wenn auch als ein sehr sympathischer. Immerhin konnten sich die Österreicher besser in die Lage der Ostdeutschen und Ungarn versetzen, weil sie bis 1955 auch von russischen Truppen besetzt waren. Das hinderte die ungarische Führung aber nicht daran, sich auch von Österreich abzuschotten. Nach einer Entscheidung des ungarischen Politbüros im Jahre 1965 wurden die Minenfelder in Richtung Österreich in den Jahren bis 1971 durch die Grenzsicherungsanlage des Typs „SZ-100“, die über 24-Volt-Schwachstromleitungen Alarm auslöste, ersetzt.

      Das ungarische Fernsehen verkündete am 10.09.1989, dass sich die ungarische Regierung entschlossen habe, den Flüchtlingen der „DDR“, die sich zu Zehntausenden am Plattensee und in Budapest auf dem Sprung in den Westen aufhielten, die Grenze zu öffnen. Niemand hätte zu diesem Zeitpunkt dezidiert voraussagen wollen oder können, dass dieser Entschluss dazu führen würde, einen wesentlichen Anstoß zum Fall der Berliner Mauer, zur deutschen Wiedervereinigung, zum Zerfall der UdSSR und zum späteren Beitritt verschiedener RGW-/Comecon-Staaten [Kurzwort für engl. Council for Mutual Economic Assistance/Aid] Osteuropas zur NATO geben könnte. Historisch interessierten Lesern empfehle ich das Buch des ungarischen Autors Prof. Dr. Andreas Oplatka: „Der Riss in der Mauer“, September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze. [Er analysiert die Politik Ungarns im Jahr 1989 mit den damaligen Hauptakteuren Gorbatschow, Genscher und Miklós Németh. Als Historiker und Journalist zeigt Prof. Dr. Andreas Oplatka, wie aus Missverständnissen und en passant gefällten Entschlüssen, aus Zufällen und aus der Hartnäckigkeit verzweifelter Menschen eine Entwicklung in Gang kam, die Europa von Grund auf verändert hat. Quelle: amazon.de].

      Ein für die deutsche Entwicklung wesentlicher Anteil gebührt dem späteren Friedensnobelpreisträger Michael Gorbatschow. In einem Interview am 07. Oktober 2009 mit 3SAT stellte er seinen eigenen Beitrag zurück und erinnerte nur daran, dass die Franzosen hartnäckige Kritiker des Projekts der deutschen Wiedervereinigung gewesen waren. Sie hätten in den Vorgesprächen geäußert: „Wir lieben die Deutschen so sehr, dass wir froh sind, dass es zwei Staaten davon gibt“.

      Woran sich kaum noch jemand erinnert: Das Datum des Abrissbeginns der ungarischen Sicherungsanlagen war nicht der 10. September 1989 oder der 19. August 1989 beim Paneuropäischen Picknick, sondern bereits der 2. Mai 1989 vor in- und ausländischen Journalisten auf einer internationalen Pressekonferenz in Hegyeshalom. Dort erklärten die Ungarn, dass mit sofortiger Wirkung alle elektrischen Grenzmeldeanlagen abgeschaltet werden. Erst am 27. Juni 1989 wurden durch den ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Horn und Minister Alois Mock aus Österreich der Stacheldrahtzaun - der manifestierte „Eiserne Vorhang“ - an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich bei Sopron [Ödenburg] medienwirksam zerschnitten. Man sollte sich nicht täuschen lassen: Das war tatsächlich nur eine Schau für die Medien. In Wirklichkeit war diese Absicht seitens der Ungarn bereits an vielen Stellen und breiten Abschnitten umgesetzt worden. Große Verdienste für die provisorische Unterbringung und hilfreiche Versorgung tausender Deutscher aus der „DDR“ in Budapest und am Plattensee gebührt der Freifrau Csilla von Böselager. Die Deutsch-Ungarische Gesellschaft Düsseldorf e. V. verleiht jedes Jahr die Unionsmedaille für besondere Verdienste um die Belange der deutsch-ungarischen Freundschaft. Die Freifrau hat sie verdient.

      Zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde im Andenken an die verstorbene Freifrau Csilla von Böselager der von ihr gegründeten und von ihrer Familie weitergeführten Csilla-von-Böselager-Stiftung-Osteuropa-Hilfe-e. V. gedacht. Wer es bis hierher ausgehalten hat, dem versichere ich, ab jetzt mehr über unsere persönlichen Erlebnisse zu berichten, ohne möglichst in ein Curriculum vitae zu verfallen. Rückblickend begann die staatliche Indoktrination bereits schleichend in meiner Schulzeit in der „DDR“.

      Meine Zeit bis zum Abitur

      Die beginnende sozialistische Umerziehung tangierte meine Schulzeit bis zum Abschluss der Grundschule in kaum merkbaren Ansätzen. Ich empfand das als sehr vorteilhaft. 1957 wurde ich vierzehn und stellte erfreut fest, dass ich das Gehirn nicht nur zum erlernten Nachplappern, sondern auch zum eigenen Denken nutzen kann.

      Wie die meisten wurde ich „Junger Pionier“. Mit dieser Voraussetzung wurden wir in den Sommerferien auch außerhalb der Schule betreut und bekamen kostenloses Essen. Das reizte uns, weil es dem häuslichen Essen gegenüber den Vorteil hatte, mehr und abwechslungsreicher zu sein. Mancher von uns kam überhaupt nur deswegen. Viele Eltern waren knapp bei Kasse und freuten sich über die zusätzliche staatliche Versorgung der Kinder.

      Äußerlich bemerkte ein Beobachter den Pionierstatus nur an unserem blauen Pionierhalstuch und dem verordneten weißen Hemd zu staatlichen Feierlichkeiten. Mit richtigen Pfadfindern konnten wir uns nicht vergleichen. Der vom Staat eingesetzte Pionierleiter organisierte für uns sportliche Wettkämpfe. Andere Helfer erteilten Schwimmunterricht und Blauhemdträger der FDF [Freie Deutsche Jugend] lockten uns hin und wieder zu einer reizvollen Schnitzeljagd. Luftgewehrschießen und Wandern rundeten die Palette ab. Natürlich zogen wir Jungs auch außerhalb der staatlichen Betreuung durch den Wald. Er grenzte direkt an die Hinterhöfe der Häuser. Diese Streifzüge hatten schon deshalb einen spannenden Aspekt, weil es sowohl aufregend als auch verboten war, wenn wir Flugblätter sammelten. Die von amerikanischen Flugzeugen abgeworfenen, meist signalrot reflektierenden Flyer fanden wir beim Pilzesuchen und lasen sie mit großer Spannung. Es war verboten, deren Inhalt offen zu verbreiten. Also taten wir es heimlich, das war viel spannender. Die Amis wollten uns Mitteldeutsche darüber aufklären, dass der Kommunismus eine Diktatur ist und die Bewohner der SBZ [Sowjetische Besatzungszone] besser von dort flüchten sollten. Das war für uns ein ständiger Nervenkitzel. Trotzdem war es für unser Alltagsleben nicht besonders relevant. Schließlich konnten wir mit unserem jungen Alter für unser späteres Leben noch keine eigenen Entscheidungen treffen. Heute muss ich mir aber eingestehen, dass bereits das frühe Wissen über den Inhalt dieser Flugblätter ansatzweise mein späteres Leben beeinflusste.

      Zum Abschluss der Grundschule wartete die Jugendweihe auf uns. Institutionalisiert war sie bereits seit 1852 und in der „DDR“ bis 1954 verboten [vermutlich weil der Begriff Jugendweihe bereits von den Nazis verwendet worden war]. Das Politbüro der KPdSU fasste 1953 den Beschluss über „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“. Darin war auch eine sozialistische Alternative zur Konfirmation vorgesehen. Gegen die Einwände der Kirchen wurden diese Feiern mit entsprechendem Druck als ein Pendant zu Firmung und Konfirmation etabliert. Trotzdem wurden parallel dazu fast alle meine Mitschüler auch konfirmiert. Allerdings mussten Verweigerer der Jugendweihe damit rechnen, dass sie nicht zum Abitur zugelassen wurden und ihre Chancen bei der Studienbewerbung gegen Null tendierten. Uns Vierzehnjährigen sagte damals beides nicht viel. An die Jugendweihe erinnerte später nur noch das Nachschlagewerk „Weltall-Erde-Mensch“. Jeder, der an der Jugendweihe teilnahm, bekam während der Feier dieses illustre Buch ausgehändigt. Das erfolgte im gewünschten Einklang mit feierlichem, sozialistischem Brimborium. Schulleiter, Pionierleiter, FDJ-Leiter und Klassenlehrer „fütterten“