Peter Schräpler

Die STASI nannte ihn "Betrüger"


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Nach der Devise „gute Miene zum bösen Spiel“ sprachen die Verantwortlichen nicht mehr darüber. Es war eine sich durch die gesamte „DDR“-Erziehung hindurchziehende Methode: Erst mit üblen Drohungen und verbaler Peitsche den „Angeklagten“ an den Rand der Verzweiflung treiben, um ihm später in sozialistischer Größe und väterlicher Güte ein Zuckerbrot entgegenzustrecken und ihn dabei mit den „vertrauensvollen“ Armen der „allwissenden“ Partei wieder einzufangen. Das gelang meistens prima. Man musste sie nur glauben lassen, dass es ihnen gelungen sei! Ich hatte immer mehr Erfolg damit. Meine schon sehr frühen Erkenntnisse bekam ich erst viel später bestätigt. In dem sehenswerten Film „Die Frau vom Check-Point-Charly“ aus dem Jahre 2002 redete der gut befreundete hohe Stasioffizier der Hauptdarstellerin energisch zu, sie möge doch einfach sagen, dass sie einen Fehler gemacht habe, den sie wiedergutmachen wolle. Einsicht eines verfehlten Bürgers und sichtbare Unterwürfigkeit waren die Kriterien, die die Staatsoberen sehen wollten. Ließ man sie das spüren, hatte man in der Regel gute Karten in der Hand. Leider gelang das den meisten aus verständlichen Gründen nicht.

      Schüleraustausch mit Frankreich

      Die Phase einträchtigen Gebens und Nehmens mit Partei und Staat währte bei mir nicht lange. Für den Sommer und die Zeit der Ferien war ein heiß erwarteter Schüleraustausch mit Jugendlichen der kommunistischen Jugendorganisation Frankreichs angekündigt. Die „roten Veranstalter“ nannten dies einen Austausch, aber ausgetauscht wurden immer nur die Franzosen – wir nie!

      Erwartet wurden französische Schüler und Schülerinnen aus der Hafenstadt Dunkerque [Dünkirchen] an der südlichen Nordseeküste im historischen westflämischen Sprachgebiet Französisch Flanderns. In unserem Schulatlas, den das „allumsorgende sozialistische Volksbildungsministerium“ herausgegeben hatte, war Frankreich nicht größer als ein halber Bierdeckel. In Frankreich waren neben Paris nur noch die Großstädte Lyon, Marseille, Toulouse und Bordeaux zu erkennen. Das war‘s. Die geografische Lage von Dünkirchen konnten wir nur erahnen. Westliches geografisches Kartenmaterial kam nicht in unsere Hände und sollte es auch nicht. Damit war die politisch-ideologische Grundlage für Margot Honecker gelegt, die erst 1963 als damalige stellvertretende Ministerin für Volksbildung mitmischte. Sie übertraf die bis dato schon vorgespurte Route der künftigen Bildungspolitik der „DDR“, denn sie hatte ihr „Spatzenhirn“ schon in den zwei Jahren Schmalspur-Hochschule des Komsomol in Moskau 1953/54 mit ideologischen Ballaststoffen aufgefüllt. Die drei übrigen Synapsen ihres Hirns hatten offensichtlich keine echte Chance mehr, noch zusätzlich zu begreifen, dass Geografie nicht an der Westgrenze der „DDR“ enden kann. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall während einer kleinen Feier in ihrer chilenischen Exil-Wohnung meinte Margot Honecker: „Ich weiß, dass heute sehr viele Genossen sich in Deutschland zusammengefunden haben: Wissenschaftler, Lehrer, Arbeiter. Überall haben sie sich getroffen, um an die „DDR“ zu denken. Es gibt zurzeit in Deutschland einen großen Feldzug gegen die „DDR“. Aber es ist ihnen nicht gelungen. 50 Prozent der Ostdeutschen sagen, dass sie schlechter leben im Kapitalismus. Wir haben eine schöne Zeit gelebt in unserer DDR. Und sie können machen, was sie wollen: Es ist nicht totzukriegen, sondern mehr und mehr und mehr besinnen sich die Menschen darauf, was sie gehabt haben in der Deutschen Demokratischen Republik.“

      Frau Honecker plant offensichtlich ein Comeback durch baldige Rückkehr ihres totalitären Unrechtsstaates. Sie deutete anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Falls der Berliner Mauer das Abschneiden der deutschen Linken ernsthaft als berechtigte Hoffnung. Einsicht, Reue und Schuld, all das scheint der „großen Lady“ aus der Riege der Betonköpfe fremd zu sein. Das mit ihr 2012 in ihrer Wohnung in Chile geführte Interview hinterließ bei mir den Eindruck: „Jetzt hat sie nur noch zwei Synapsen“.

      Was wir an der „DDR“ gehabt hatten, konnte ich Tage später bereits erleben. Die französischen Gäste sollten zwischen fünfzehn und einundzwanzig Jahre alt sein – und Achtung - Mädchen sollten auch dabei sein. In den Ferien stand unser Jungs-Internat grundsätzlich leer. Es muss eine glückliche Fügung gewesen sein, dass ich in der Schule den neusprachlichen Bildungszweig mit Französisch, Russisch und Latein belegen konnte. Aufgrund dieser vorteilhaften Konstellation wurden wir „Pseudo-Franzosen“ gefragt, ob wir als freiwillige Ferienhelfer während der Sommermonate bereit seien, das sozialistische Projekt „Schüleraus- tausch“ mit Frankreich zu unterstützen. Ein solch aufregendes Abenteuer konnte ich nicht abschlagen. Ich sagte ohne weitere Überlegung zu.

      Keiner von uns konnte sich so richtig vorstellen, was sich wie und wohin entwickeln würde. Etwas mulmig war es mir schon. Unser schulischer Französischunterricht grenzte fast an sprachliche Inzucht. Wir hatten ja niemanden – außer der Lehrerin – mit dem wir alltagstauglich Französisch sprechen konnten. Wie sollte das überhaupt mit unserem spärlichen Vokabular gehen? Wir trösteten uns damit, dass wir nicht mit Russisch antreten mussten. In dieser slawischen Sprache mit den sechs grammatischen Fällen war die sprachliche Abgrenzung noch viel schlimmer. Der organisierte Briefverkehr mit russischen Pionieren flachte nach dem zehnten Brief im Allgemeinen wieder ab und löste sich in nichts auf, weil sich die so unterschiedlichen Briefpartner nichts mehr zu sagen hatten – eventuell noch etwas zu zeigen. Das aber war aus finanziellen Gründen von kaum einem Elternpaar zu stemmen. Also begnügten wir uns mit jährlichen Wiederholungen über die siegreichen sowjetischen Rinderoffenställe, in denen nach der Übernahme durch die „DDR“ in einem harten Winter die Kühe mit den Füßen eingefroren waren. Von der Sowjetunion lernen hieß eben siegen lernen!

      Im Russischen ging es nur um Nina, die Agraringenieurin, den Traktor, die Elektrifizierung der siegreichen Sowjetunion und den unsterblichen Genossen Stalin. Sich mit russischen Schülern zu treffen wäre zu einem sprachlichen Desaster ausgeartet. Zum Glück forcierte die sowjetische Parteinomenklatura keine Schüleraustausche. Die russischen Besucher hätten feststellen müssen, dass sie gar nicht besser leben als die Ostdeutschen, und wir wären uns bewusst geworden, dass die „DDR“-Losung: „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ erneut ein „Schuss ins Knie“ war.

      Immerhin beinhalteten französische Sprachtexte im Lehrbuch noch Passagen für Touristen über einen Ausflug nach Paris zum Louvre, zum Hügel des Montmartre mit der Basilika Sacré Coeur, der Notre Dame und einem Spaziergang auf der Avenue des Champs-Élysées bis zum Arc de Triomphe. Dass ich erst zweiundzwanzig Jahre später eine Möglichkeit hatte, mir diese bislang nur erträumten und unerreichbaren Ziele persönlich anzusehen, war zu dieser Zeit nicht zu erahnen.

      Einen Tag vor der erfreulichen Ankunft der „echten“ Franzosen erfolgte eine spezielle Gehirnwäsche. Es wurde uns u. a. bei angedrohter Strafe untersagt, mit einem andersgeschlechtlichen französischen Jugendlichen irgendeinen persönlichen Kontakt aufzubauen. Wer das täte, hätte mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen und müsse das Internat sofort verlassen. Großes Schweigen. Als die Franzosen kamen, staunten wir nicht schlecht. Es waren viel mehr Mädchen als Jungs. Kaum hatten wir die „Franzosensichtung“ beendet, war mir klar: da war ein bildhübsches, kleines und zierliches Mädchen dabei, das mich unglaublich faszinierte. Ich war hin und weg. Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, an ihren Namen zu gelangen. Die Franzosen unterstützten mich irgendwie, als sie bemerkten, dass sich da etwas anbahnte. Offensichtlich hatte die internationale Solidarität doch etwas Gutes an sich. Die männlichen Dünkirchner hatten ihr etwas gesteckt, und ich erfuhr bald, dass sie Marceline hieß. Unser beider Chemie stimmte trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme von Anbeginn. Ein, zwei Tage später hatten wir uns unabhängig zu den organisierten Ausflügen bereits mehrfach verabredet. Weil wir nicht gemeinsam gesehen werden durften, mussten wir das Internat einzeln verlassen und uns erst in einigen hundert Metern Entfernung treffen.

      Wir gingen im nahen Wald lange spazieren. Es dauerte auch nicht lange und wir küssten uns. Ich war unglaublich in sie verknallt. An ein Mehr konnten wir aber damals im Alter von siebzehn - sie vielleicht sechzehn - Jahren nicht denken, weil medizinisch gestützte Schwangerschaftsverhütung für die sozialistische Jugend noch kein Thema war. Fest stand jedenfalls: ich war über beide Ohren in sie vernarrt, wie man es in diesem Alter eben sein konnte. Marceline – so empfand ich - war es auch. Unsere geschickte Taktik, unbemerkt dem staatlichen Überwachungssystem en miniature des Internats zu entziehen, war tagelang sehr erfolgreich.