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konnten, hinterfragten sie viele von uns anfangs unbewusst, aber später tendenziell immer kritischer. Im wissenschaftlich orientierten Lexikon „Weltall-Erde-Mensch“ war die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung - mehr oder weniger geschickt verpackt – überall dominant. Mit über vier Millionen Exemplaren wurde es das meist verbreitetste Nachschlagewerk der „DDR“. Am Folgetag der Jugendweihe verschwand der sehenswerte Wälzer mit seinem optisch einprägsamen, farbigen Glanz-Cover im Bücherregal und fristete dort für Jahre ein oft bedauernswertes Dasein. Weil der Mensch geneigt ist ein praktisches Gewohnheitstier zu sein, hat sich die Jugend- weihe sogar über die „Wende“ gerettet. Das ursprünglich beabsichtigte Ziel ist dabei allerdings im nachsozialistischen Nirwana verschwunden. Die Weiterführung der Jugendweihe wurde in der Form erschwert, dass 1993 den Lehrern staatlicher Schulen per Kultusministerdekret untersagt wurde, organisatorisch und vorbereitend direkt in den Schulen die Jugendweihe zu unterstützen. Geblieben sind in den neuen Bundesländern Mitteldeutschlands Feiern, an denen sich noch etwa 40% der Schulabgänger beteiligen. Die Festlichkeiten erinnern heute eher an üppige Fressorgien, erstaunlich ist allerdings die hohe Zahl der Teilnehmer.

      Anders erging es uns mit der langwierigen und zugleich für uns langweiligen Vorbereitung zur religiösen Konfirmation. Was in meiner Erinnerung verblieb, sind die vielen sehr langen Lieder und Verse aus den Gesangbüchern der evangelischen Kirche. Es schien, dass der von uns als sehr streng empfundene Religionslehrer daraus von Mal zu Mal immer umfangreichere Textpassagen zum Auswendiglernen verteilte. Sie ergaben für mich und mein künftiges Leben keinen bemerkenswerten Sinn. Sie raubten uns Jungs während unendlicher Wochentage und schöner Wochenenden große Zeitfenster unserer schnell vergehenden Kindheit. Trotzdem wollte keiner von Konfirmation oder Kommunion ausgeschlossen werden. Also büffelten wir - häufig in kleinen Gruppen – oftmals unverständliche und ellenlange Texte und Verse. Die anderen Jahrgänge und die Atheisten gingen währenddessen bei schönem Wetter ins malerische Waldbad. Mein Frust über die Evangelische Kirche, der nur noch durch den zur sozialistischen Erziehung übertroffen wurde, gipfelte Jahrzehnte später aus einem anderen Grunde im Austritt aus der Evangelischen Kirche Baden-Württembergs (auf den Grund komme ich am Ende noch einmal zurück). In den Jahren des unsinnigen Büffelns von Versen und Strophen - es kam mir vor, als hätten wir bereits mehrere Gesangbücher auswendig gelernt - legte man mir den Grundstein für meine wachsende Abneigung gegen alle Ideologien oder Glaubensrichtungen. Beim Erlernen religiöser Texte blieb nicht aus, dass wir nur selten „im Inneren“ lernten, was wir auswendig aufsagten. Die Engländer lernen „learning by heart“ so, dass etwas im Herzen zu haben mehr als reines Faktenwissen ist. Rückblickend kann ich sagen, das Auswendiglernen hat mir und uns aber nicht wirklich geschadet, es förderte das Gefühl für die Sprache und stärkte unsere urteilsfähigere Haltung. Wenn wir diese inneren Werte nicht gebildet hätten, wären wir geistig ärmer ins Leben der Erwachsenen gestartet.

      Sehen wir von den wertvollen kirchlichen zehn Geboten und den tiefsinnigen Texten religiöser Lieder ab, haben Religionen oder Ideologien die Menschen oft zu bedauernswerten Fehlentwicklungen und zu geistiger Verkrüpplung verleitet. Ideologisierter Nonsens, wie wir ihn in der „DDR“ lernen mussten, bot die besten Voraussetzungen für wachsende Volksver- dummung. Diktatoren nutzen das gern, besonders dann, wenn sie uns wie in der „DDR“ weismachen wollten, dort sei das Proletariat der Diktator. Daraus entstand der bis zur Lächerlichkeit verkommene Slogan „plane mit, arbeite mit, regiere mit!“, den das schwer arbeitende Volk am Biertisch zum Besten gab. Dabei legte es Zeigefinger, Ringfinger und kleinen Finger der rechten Hand auf die Tischplatte und drückte kräftig zum Tisch, so dass der Mittelfinger nicht mehr zu sehen war. Dabei symbolisierte der nach oben bewegbare Zeigefinger das „plane mit“, der kleine Finger das „arbeite mit“ und der Ringfinger das „regiere mit“. Die Natur hat es aber nun einmal so eingerichtet, dass sich der Ringfinger in dieser Stellung um keinen Millimeter nach oben bewegen lässt. Damit wurde das Mitregieren zu einer lustigen Farce am Biertisch und verkam im Bewusstsein.

      Glücklicherweise bieten heutige Demokratien andere brauchbare Ansätze für das zwischenmenschliche Dasein. Aber auch nur, wenn sich das Volk darüber im Klaren ist, dass es der Souverän ist und nicht die von ihm gewählten Volksvertreter. Was nützt dem deutschen Volk eine gewählte Volksvertretung, die nach Lust und Laune das Grundgesetz ändert, ohne den Willen des Volkes zu befragen? Würde unser Parlament seine Aufgaben ernst nehmen, dann müsste es die im Grundgesetz postulierte deutsche Verfassung umsetzen und durch ein Plebiszit bestätigen lassen. Der Nachteil wäre dann, dass die parlamentarischen Volksvertreter keine Änderungen mehr nach ihren Bedürfnissen beschließen könnten, weil immer ein Volksentscheid zwingend erforderlich sein würde. Wie dann Volkes Entscheidung zur EU-Verfassung und zur Einführung der Euro-Währung und zum gigantischen „Milliarden-Schutzschirm“ für die EU-Staaten ausgefallen wäre, diese Beurteilung überlasse ich dem geschätzten Leser. Vielleicht orientieren sich deshalb so viele Menschen an Meditationen und fernöstlichen Lehren und Kursen. Für mich sind das keine Alternativen, sondern nur eine nützliche Krücke, um den Istzustand schadensfrei zu überleben. Bedauerlicherweise ist in unserer schnelllebigen und auf Gewinnmaximierung orientierten kapitalistischen Gesellschaft, in der die meisten Menschen im Modell „Hamsterrad“ leben, das Interesse an den Erkenntnissen der großen Philosophen, die das eigene Denken inspirieren könnten, fast verloren gegangen. Wo sollte es auch herkommen, werden doch Teile der „zivilisierten Welt“ nur mit dem „Tittytainment“ [eine Wortbildung aus „titty“, dem englischen Slang für Busen, Brust: vergleichbar als milchgebende Brust und „entertainment“ als Unterhaltung verstanden] versorgt. Ausreichend Essen und Trinken, gepaart mit einer Fülle medialer Verblödungsinstrumentarien ab Kindesalter, damit die heranwachsenden Fettwänste der Kevin- und „Schantall“-Generation von ihrer unerfreulichen Umwelt abgelenkt werden, ist doch auch ein Ziel. Wir sollten nur die Medien kritischer betrachten, ihre Computerspiele, die Star Wars, den Big Brother und die Talk-Shows verschiedenster Genres, eben das instrumentalisierte Prekariatsfernsehen zur systematischen Verblödung einer ganzen nachwachsenden Generation.

      Woher sollten auch Schüler mit dem IQ einer Preiselbeere wissen, wer Kant und Hegel waren. Ohne aber die Wurzeln unserer unterdrückten Vergangenheit richtig zu kennen, wird es wohl kaum möglich sein, die Gegenwart besser zu verstehen und die Zukunft in den Griff zu bekommen. Es genügt auch nicht, wenn sich unsere „Parteiendiktatur“ unserer großen Dichter und Denker nur an deren Gedenktagen erinnert. Ebenso ist es mit der Philosophie, die für viele keine oder keine große Bedeutung mehr hat. Die Theorien der Erkenntnis, der Logik und Ethik spielen aber heute eine ebenso große Rolle wie zu Lebzeiten der großen Philosophen Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Wilhelm Leibnitz. Wenn wir die Geisteswissenschaften nicht pflegen, verflacht unsere Kultur und führt zu einem ordinären Materialismus, den wir eben dort vermeiden wollen. Unsere materielle Produktion ist naturwissenschaftlich fundamentiert und stellt die Grundlage unseres modernen Lebens dar. Wir sollten uns immer erinnern, dass nur das Zusammenspiel von Natur- und Geisteswissenschaften die Voraussetzung für die Annäherung an das erstrebte - nie erreichbare, aber vollkommenere menschliche Leben - bringen kann.

      Nachdem ich die Grundschule in der „DDR“ mit „sehr gut“ abgeschlossen hatte, wurde ich für den Besuch einer sogenannten „Erweiterten Oberschule“, bzw. EOS vorgeschlagen. Mir war das eigentlich alles egal. In dieser Zeit hatte ich noch kein langfristig gestecktes Lebensziel und auch keine hilfreiche Orientierung aus dem Elternhaus. Um ganz ehrlich sein: Ich vermochte mich gar nicht aus meiner Froschperspektive zu orientieren oder mich am Schopf aus diesem Desaster der Orientierungslosigkeit herauszuziehen. Das Elternhaus ließ mir eine ganz lange Leine mit all ihren Vorzügen und Nachteilen. Die Pubertät setzte ganz andere Prioritäten, an die ich mich noch heute mit einem Wechselbad meiner Gefühle erinnere. Im Gedächtnis sind in erster Linie nur manche skurrile Ereignisse hängen geblieben. In den fünfziger Jahren hatten die meisten mittelalterlichen Fachwerkhäuser meiner Geburtsstadt Stolberg/Harz zwar Wasserleitungen und Kanalisation, aber nur selten WCs. In einem solchen Haus ohne WC wohnten wir. Wenn jemand ein menschliches Bedürfnis verspürte, musste er die Wohnung verlassen und das kleine Domizil aufsuchen. Im hinteren Bereich unseres Hofes befand sich ein Holzhäuschen, das ein „Doppelsitzer-Klo“ in sich barg. In unserem Falle war es ein Doppelhäuschen, das in beiden Türen ein fast