Peter Schräpler

Die STASI nannte ihn "Betrüger"


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wie mehrfach erprobt - mit einer lockeren Flanke den hinteren Holzzaun zum Hof überspringen.

      Leider verlief diese Aktion unglücklich. Während ich im meisterlichen Flugansatz über den alten Zaun ansetzte, trat vorn der von der Partei eingesetzte Leiter des Austauschprojektes aus der Tür. Er hatte auf der Eingangsseite die kleine Marceline allein kommen sehen und ahnte, dass sie unmöglich ohne Begleitung spazieren gewesen sein konnte. Bestimmt hatte er sich schon ausgemalt, wie ihm die Parteileitung wegen seiner beispielhaften Wachsamkeit anerkennend auf die Schultern klopfen würde. Also stürmte er auf die Rückseite des Hofes und betrachtete triumphierend meine erfolgreichen turnerischen Fähigkeiten beim Satz über den Zaun. Sofort war ihm alles klar.

      Am gleichen Abend wurde mir erklärt, dass ich als Betreuer nicht mehr tragbar wäre und deshalb unverzüglich das Internat zu verlassen habe. Mir war es, als würde man mir mit einer Keule die Beine wegschlagen. Ich hatte weder die Zeit, mich über unsere gemeinsame weitere Situation klar zu werden, noch hatte ich die Chance, Marceline noch einmal zu sehen und ihr das unlösbar scheinende Dilemma zu beschreiben. Ich musste sofort los, holte mein Fahrrad aus dem Schuppen des Internats und radelte nach Hause - 30 Kilometer über den steilen Anstieg des Hexentanzplatzes bis nach Stolberg/Harz am Rande des Südharzes. Unterwegs konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Ich glaubte, sterben zu müssen und machte mir wütend Gedanken darüber, was das nur für eine irre Ideologie und rücksichtslose Staatsführung sein muss, bei der liebende junge Menschen auf diese Weise voneinander getrennt werden.

      Leider habe ich Marceline nie wiedergesehen und konnte ihr auch niemals schreiben. Ich gelangte einfach nicht in den Besitz ihrer Adresse. Handys existierten noch nicht. Wir mussten auch ohne SMS auskommen. Meine Wut war nicht nur grenzenlos, sie hielt auch dauerhaft an. Mir kamen in diesem Moment erste ernsthafte Gedanken, die todbringende Staatsgrenze Richtung Westen zu überwinden, um diesem Staat den Rücken zu kehren. Was aus dieser Zeit für mich blieb, war ein unsäglicher Schmerz und bleibender, täglich wachsender Hass auf dieses Staatssystem, seine Parteibonzen, Stasi-Angehörigen und überzeugten Marionetten. Wenn ich auch ansonsten – wie viele Jugendliche – noch kein rechtes Ziel vor Augen hatte, schwor ich mir damals, aus diesem Staat irgendwann – wie wir es nannten - abzuhauen. Die erste und beste gefahrlose Möglichkeit, die sich böte, würde ich nutzen. Dass sich erst ca. zwanzig Jahre später eine solche gefahrlose Chance ergeben würde, konnte ich kurz vor dem Bau der Berliner Mauer noch nicht ahnen.

      Während des Fahnenappells nach dem Ende der Ferien erfolgte eine knappe Auswertung des Austauschprojektes mit den Franzosen. Natürlich wurde erwähnt, dass ein Schüler der Goethe-Oberschule in unerlaubter Weise Kontakt zu einer Französin aufgenommen hatte und deshalb das Lager verlassen musste. Das war mir zu diesem Zeitpunkt schon schnurzegal. Allerdings auch sehr peinlich. Vor dem Appell hatte es sich unter den Schülern bereits herumgesprochen, dass ich das war. Dummerweise wusste es dann auch meine damalige Schulfreundin. Ich hatte Verständnis dafür, dass sie in diesem Moment begann, das Fundament unserer Beziehung - wie 1989 die Berliner Mauer - mit Hammer und Pickel einzureißen.

      Mit dem Thema Französischunterricht wurde ich Wochen später noch einmal unangenehm konfrontiert. Meine innerliche Wut über diesen Staat und alle, die ihn hofierten, brodelte unaufhörlich unter der Decke weiter. Die Französischbücher mussten wir uns in den meisten Fällen selbst kaufen. Ich betrachtete deshalb mein Buch als mein persönliches Eigentum. Einer meiner Mitschüler hatte aus Langeweile und wohl auch ohne zu überlegen, an den nicht zur Vermehrung bestimmten Schwanz eines französischen Löwen, der ein Brückendenkmal in Paris schmückte, eine rote Fahne der Sowjetunion gemalt. Seine künstlerische Leistung an dieser Stelle war „reif für den Gulag“ [Besserungslager in der Sowjetunion, Arbeitslager. Ein monumentales historisches Werk lieferte Aleksandr Solschenizyn mit seiner autobiographischen Beschreibung des sowjetischen Lagersystems in seinem Archipel GULAG. Seine Erzählungen über politische Zwangslager und Verfolgung in der UdSSR bedeuteten für ihn die Ausweisung aus seiner Heimat. Gleichzeitig brachte es ihm aber auch eine große internationale Anerkennung. Solschenizyn erhielt 1970 den Nobelpreis für Literatur. Erst zwanzig Jahre später wurde Solschenizyn rehabilitiert und erhielt seine sowjetische Staatsbürgerschaft zurück. Vier Jahre später kehrte er nach Russland zurück. Angepasst entnommen: aus Wikipedia].

      Während des Unterrichts stand nun urplötzlich unsere Lehrerin zuerst hinter und dann neben dem „Maler“. Sie sah das „antisozialistische Machwerk“ [so pflegten die Führer des Proletariats derart banale Dinge zu benennen] in seinem Lehrbuch und wusste im Moment nicht, sollte sie warten, bis sich ihr hochrot angelaufenes Gesicht wieder normalisiert hatte oder sollte sie gleich losbrüllen. Sie entschied sich für Letzteres. Der Mitschüler sank sichtbar auf seinem Stuhl zusammen und versuchte ansatzweise zu argumentieren. Es war sinnlos und provozierte die junge Dame umso mehr.

      In dieser gereizten Atmosphäre konnte ich es wieder einmal nicht lassen und meldete mich. Nervös wollte sie von mir wissen, was es denn dazu noch zu sagen gäbe. Ich erklärte in etwa der gleichen Reiztonhöhe: „Wenn das Buch meines ist, kann ich dort hineinschreiben, was ich will – und wenn ich „Scheiße“ hineinschreibe!“

      Der Vorgang hatte mich in meinem Gerechtigkeitsempfinden unglaublich provoziert, so dass ich mich zu dieser nicht ganz stubenreinen Bemerkung hinreißen ließ. Ich fühlte mich mit meinem vorlauten Kommentar wie ein späterer 68er Student der einsetzenden Studentenproteste im Lande des „Klassenfeindes“. Wenn ich damals schon gewusst hätte, dass der Mörder des Studenten Benno Ohnesorg, der die Studentenproteste anführte, ein IM der „STASI“ war und der Mord dem „dekadenten Klassenfeind“ in die Schuhe geschoben wurde, wäre mein Engagement noch heftiger ausgefallen. Glücklicherweise vermochten wir nicht in die Zukunft zu schauen.

      Meine verbale Intervention passte der Lehrerin überhaupt nicht, weil sie die rote Fahne am Schwanz des Löwen bereits politisch eingeordnet hatte. Offensichtlich musste beides für sie zu viel gewesen sein. Sie schoss im Stile von Speedy Gonzales zurück zu ihrem Pult und raunzte mir aber noch schnippisch zu: „Wir sprechen uns noch!“ Ein Glück für mich, dass die Pausenklingel der Schule schrillte.

      Als Ergebnis meiner kameradschaftlichen Einsprache verpasste sie mir später in meinem Abschlusszeugnis der 12. Klasse einen „androhenden Verweis von der Schule“. Das verstärkte aber nur mehr meinen Willen, mir künftig von keinem sozialistischen Apparatschik oder eine Schleimspur hinterlassenden Natschalnik [russischer Begriff für Leiter, Vorgesetzter oder Chef] mein individuelles Denken und Handeln vorschreiben zu lassen.

      Möglicherweise hatte das dazu beigetragen, dass ich mich in dieser Zeit schon oft zu einem provokanten Bürger der „DDR“ entwickelte. Wie man heute zu sagen pflegt, empfand ich mein provozierendes Tun von damals als „cool“ –. Jedenfalls erinnere ich mich heute so, wenn ich daran denke, wie ich eine ganz liebe Mitschülerin nicht ganz sinnfrei geärgert hatte.

      Unsere Bänke hatten im oberen Bereich der Kante in die Schulbank eingelassene Tintenfässer für unsere Füllfederhalter. Uns Jungs motivierten die Tintenfässer häufiger als die Mädchen dazu, ausufernden Fantasien freien Lauf zu lassen. Was lag z. B. näher, als die nächste im Landeanflug befindliche Fliege blitzartig entgegen ihrer geplanten Flugrichtung zu fangen. Den aufgeregt zappelnden Störenfried in der hohlen Hand packte ich zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Rechten an seinen Flügeln und tunkte ihn in das Tintenfass. Dann drehte ich mich - für meine Mitschülerin unverhofft - um und setzte die tiefblau getränkte und kurzzeitig am Fliegen gehinderte Musca domestica [Stubenfliege] auf die leere Seite des Schreibheftes meiner hinter mir sitzenden Banknachbarin. Die Fliege vermochte in dieser Situation noch nicht wieder zu starten und zog in einem unkontrollierten Zick-Zack-Kurs, der Schräge der Bank folgend, auf dem Heft eine verschmierte blaue Bahn nach unten. Die Mitschülerin quietschte erschreckt und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Andere Mitschüler, die erst nach und nach die Ursache erkannten, waren vollauf begeistert, und ich konnte mich vor Schadenfreude nicht mehr halten. Um nicht den Unterricht zu unterbrechen und unseren Lehrer zu reizen, blieb mir nichts weiter übrig, als meine Federmappe mit einem Platsch auf das ahnungslose Tierchen fallen zu lassen. Es erinnerte mich an Wilhelm Busch: „Da holt er aus mit voller Kraft, die Fliege wird dahingerafft“. Ganz wohl war es mir dabei ja nicht, weil ich wusste, was in der folgenden Pause auf mich zukommen