Peter Schräpler

Die STASI nannte ihn "Betrüger"


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selbst gewählten Motto „eine freie Stimme der freien Welt“ sendete und zu dessen bekanntesten Chefredakteuren der spätere SPD-Politiker Egon Bahr zählte, der diesen Posten bis 1959 innehatte, wäre eine denkbare Alternative gewesen. Aber bedauerlicherweise hatte der damalige sowjetische Botschafter Semjonow mit einem dringlichen Wunsch an „Spitzbart“ W. Ulbricht und an den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl appelliert. Sie sollten wirkungsvolle Maßnahmen im Kampf gegen das Eindringen des reaktionären Rundfunksenders RIAS ergreifen. Also wurde der Sender auf seiner Mittelwelle [Amplitudenmodulation AM] in Westberlin von allen Gebieten der „DDR“ aus mit einem unerträglichen jaulenden Heulton gestört. Die „DDR“ erkannte nur ihren Berliner Rundfunk mit Sitz im Osten als alleinig zuständigen Rundfunk für die Stadt Berlin an. Später proklamierte die Parteiführung der „DDR“ Ostberlin als Berlin und damit als die Hauptstadt der „DDR“. Sie deklassierte über ihre Medien den RIAS und den SFB [Sender Freies Berlin] als nicht rechtmäßige Sender. Als dann RIAS Berlin in vielen Gebieten auch auf UKW [Frequenzmodulation FM] sendete, konnten wir nur noch über die kostspieligen Störmanöver schmunzeln. UKW war nahezu immer störfrei und astrein im Empfang.

      Eines Sonntags hatten sich mehrere Schüler der zwölften Klasse im Aufenthaltsraum des Internats vor dem gemeinschaftlichen UKW-Rundfunkgerät des VEB Stern-Radio Stassfurt eingefunden. Die meisten waren Schüler, die sich bereits in den Abiturprüfungen befanden. Sie hörten auf der Kurzwellenfrequenz 6090 kHz im 49m-Band Camillos Hitparade. Im Gegensatz zu uns Jüngeren, die wir - um nicht erwischt zu werden - sehr viel vorsichtiger waren, demonstrierten die „Großen“ eine gewisse Lässigkeit. Sie sollte ihnen kurz darauf zum Verhängnis werden.

      Der ständig sichtbar frustrierte, ältere Internatshausmeister, zugleich Parteimitglied der SED [Sozialistische Einheitspartei], schlürfte auf seinem Kontrollgang durch die Räume und humpelte hörbar treppauf und treppab. Es gehörte zu seinen selbstgesteckten Pflichten, Internatsschüler zu erwischen, die Sender des „Klassenfeindes“ hörten. So passierte an diesem Tag, was passieren musste. Wir hörten den Alten bereits, als sein humpelnder Tritt die Holztreppe zum Quietschen und Knarren brachte. Nahezu allen gelang die Flucht in die umliegenden Zimmer. Etliche Türen fielen lautstark ins Schloss. Nur zweien von uns gelang es nicht mehr, sich vorher aus dem Raum zu entfernen. Als der verlängerte Arm der Partei in den Aufenthaltsraum tappte, sah er die Schüler und hörte die „dekadente Westmusik“. Es war keine Zeit mehr verblieben, den Sender wegzudrehen. Der Aufpasser wusste sofort Bescheid.

      Unverzüglich meldete dieser überzeugte Wichtigtuer und Schleimer [er ist bereits verstorben; Gott oder wer auch immer, hab‘ ihn selig!] dem Schuldirektor dieses „fürchterliche Attentat“ auf den Staat. Dem nun unter Druck gesetzten und bedauernswerten Direktor blieb nichts weiter übrig, als ein abschreckendes Ritual zu vollziehen. Das Abhören von Sendern des „Klassenfeindes“ war nun einmal nicht tolerierbar. Die zwei Schüler, die der Hausmeister ertappt hatte, weil ihnen die Flucht aus dem Aufenthaltsraum nicht mehr gelang, wurden der Schule verwiesen. Das war - so glaube ich - im Jahre 1960. Wochen später erfuhren wir, dass sie über die noch offene Grenze in Berlin nach Westberlin gelangt waren - noch später, dass sie ihr Abitur in Westdeutschland nachgeholt hatten.

      Unser missliebiger Hausmeister war aus unserer Schülerperspektive ein widerlicher Verräter. Ähnliches gab es nicht einmal im Ganovenmilieu. Jeden Abend hörten wir aus seiner Wohnung im Nebengebäude um 20:00 Uhr den Fernsehton des Norddeutschen Rundfunks [NDR] mit den darauf folgenden Nachrichten. Offensichtlich meinte er, dass wir diesen unverwechselbaren Senderklang der Westnachrichten, die er wegen seiner Schwerhörigkeit immer laut gestellt hatte, nicht hören würden. Selbst den NDR hören und parallel dazu jungen Menschen die Zukunft zerstören, so lernten wir die Falschheit vieler SED-Mitglieder kennen. Das war niemals wiedergutzumachen und blieb fest verwurzelt in unseren Gedächtnissen haften. Den amtierenden Direktor konnten wir später begreifen. Ihm waren die Hände gebunden. Er musste im Sinne der „allwissenden“ Partei entscheiden, wollte er sich nicht selbst bloßstellen. In der letzten Stunde des Staatsbürgerkundeunterrichts vor den Osterferien 1961 machte er zwischen vielen Bemerkungen auch die: „Meine Damen und Herren, eines sollten Sie sich merken, Wahlen sind überall Volksbetrug – egal ob drüben oder hier!“

      Irgendwie waren wir schon geistig abstinent bereits in den Osterferien. Keiner machte sich zu dieser provokanten Bemerkung des Schulleiters ernsthafte Gedanken. Wir wussten nur, wenn ein Parteisprössling petzen würde, dann wäre der Direktor die längste Zeit an unserer Penne gewesen. Niemand wollte in diesem Moment mit anderen darüber reden. Wir befanden uns bereits gedanklich in unseren lang herbeigesehnten Ferien. Erst nach den Osterferien kam das Aha-Erlebnis. Die Direktion ließ mitteilen, dass der Direktor und die engagierte Musiklehrerin, zugleich Chorleiterin der Schule, den „Werbungen des Klassenfeindes“ erlegen und der „DDR“, und somit ihrem Volk in den Rücken gefallen seien. Das war das offizielle Credo. Wir wussten, Sie hatten sich gemeinsam, definitiv und langfristig vorbereitet nach Westberlin abgesetzt. Noch während der Osterferien hatte die Kreisleitung der Partei einen „Ersatz“ für den eigentlich unersetzbaren Direktor platziert: einen 100%ig überzeugten „Partei-Dödel“, der den Auftrag hatte, unsere ansatzweise westlich dekadente Schule wieder auf den rechten sozialistischen Weg zu leiten. Im Vergleich zu unserem bisherigen Direktor, der einen leicht aristokratischen Touch mit gefestigtem Charakter zeigte und eine integre Person darstellte, war die neue Gurke der Partei ein absoluter Tiefflieger. In unseren Augen hatte sich die Partei wieder einmal „ins Knie geschossen“.

      Wahl der FDJ-Leitung

      Unter der Führung des „Partei-Dödels“ fanden auch die jährlichen Wahlen der FDJ-Leitung [Freie Deutsche Jugend] der Schule statt. Wir durften uns nach dem Unterricht im Kulturhaus der Stadt Thale in der Walpurgisstraße treffen. In blauen Pflichthemden und -blusen der FDJ verteilten wir uns auf den Klappsitzen im Saal. Auf der Bühne stand ein langer Tisch. An ihm saßen bereits die Verantwortlichen: Die alte FDJ-Leitung, der „Partei-Dödel“ und einige Lehrer, die als brauchbare Staffage der Zeremonie dazu aufgefordert waren. Die künftigen FDJler der Leitung standen bereits fest. Sie waren eine Kompromisslösung zwischen den Vorschlägen der Parteileitung der Schule und den politischen Wichtigtuern, die sich wie der Spatz in die „Pferdescheiße“ gestürzt hatten, um auch einen abgefallenen Brösel des bescheidenen Machtkuchens zu erhaschen. Diese angeblich von den Mitschülern vorgeschlagenen Stützen der Organisation platzierte man an dem mit einer blauen Fahne der FDJ überzogenen Tisch. Dann kam der spannende Moment. Wir wurden aufgefordert, unsere Hand zu heben und auf diese Weise unsere Zustimmung zur Wahl der neuen FDJ-Leitung abzugeben. Langsam gingen die vielen Arme nach oben - bis außer Armen nichts Wichtiges mehr zu sehen war. Dann kam das Kommando: „Arme runter!“ Flopp, und alle Arme waren plötzlich wieder unten. Nun erfolgte die viel spannendere Frage: „Gegenstimmen?“. Es wurde im Saal ganz leise, es knisterte förmlich. Nichts tat sich. Ja, bis plötzlich mein rechter Arm in die Höhe flog. Heute kann ich es nicht mehr richtig begründen, warum ich das in dieser Situation tat. Vielleicht nur aus einem gesunden inneren Trieb heraus? Alle Köpfe vor mir drehten sich neugierig um und schauten mit entsetzten Augen voller Fragen zu mir. Plötzlich sah sich der Verantwortliche dieser Wahlfarce genötigt, mich vor allen Schülern laut zu fragen: „Was soll das, warum stimmst Du nicht dafür“? Er konnte nur so fragen, weil es ein Dagegen eigentlich gar nicht geben durfte. Also rief ich zurück ins weite Rund: „Ich kenne die Neuen ja gar nicht, warum soll ich sie dann wählen?“

      Alles brummelte und grummelte im Saal. Soviel „lebensmüden“ Mut am falschen Platze hatte niemand erwartet.

      Spätestens jetzt kannte mich jeder, der in der FDJ war. Alle, die ich am Folgetag traf, schmunzelten mir zu. Das Schmunzeln ging fast immer in ein sympathisches, offenes Lachen über. Ich wusste, Du hast nicht nur Blödsinn gemacht, es war richtig und ist prächtig angekommen. Unsere Gehirnwäscher sollten wissen, dass jeder Grad von organisierter Einflussnahme seine Grenze hat und irgendwann - provozierend, trotzig und etwas spleenig angestoßen - in eine andere Qualität umschlägt.

      In der Schule wurde mir allerdings bewusst, dass ich eine kleine Lawine losgetreten hatte. Ich wurde von verschiedenen Lehrern und der [bereits verstorbenen] Heimleiterin, die wir die „Düse“ nannten,