Lea Badura

Die Stimme der Vergessenen


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weckte einzige Tiere auf und mit einem empörten Krächzen erhob sich ein ganzer Schwarm Vögel in die Luft. Alisha stolperte rückwärts – nur weg von der Gestalt vor sich.

      „Lish, beruhige dich!“, rief diese dann plötzlich und erst da erkannte Alisha, dass es Roy war, der dort vor ihr stand.

      „Um Gottes Willen! Verdammt, Roy!“, schrie sie ihn an. „Willst du, dass ich einen Herzinfarkt bekomme?“

      „Mach dich nicht lächerlich, du Angsthase“, gab er nur zurück und sie stieß ihm hart ihre Faust gegen die Schulter. Überrascht sah er sie an und sie funkelte wütend zurück, was ihm nur ein Lächeln entlockte.

      „Was machst du hier?“, fragte sie ihn immer noch böse.

      „Das wollte ich dich gerade fragen. Ich wusste, dass du etwas Dummes tun würdest und bin dir hier her gefolgt“, gab er zurück und sein selbstgefälliger Ton ließ Alisha mit den Zähnen knirschen. Wie sie es hasste, wenn er so tat, als wäre sie noch ein Baby, um das er sich kümmern musste.

      „Verschwinde!“, zischte sie ihn an. „Ich brauche deine Hilfe nicht!“ Und dann stolzierte sie los, mit gestrecktem Rücken und hoch erhobenem Kinn direkt ins Unterholz hinein. Roy folgte ihr natürlich, doch sie ließ sich davon jetzt nicht beirren. Nach einigen Minuten hatte sie sich wieder beruhigt und dann bemerkte sie auch, dass jetzt plötzlich etwas anders war.

      Es war, als hätte ihr Schrei den Wald erweckt.

      Es war noch ruhiger als eben, doch diesmal war die Stille erwartungsvoll, angespannt. Fast konnte Alisha das Knistern auf ihrer Haut spüren. Es war, als beobachtete sie etwas aus dem Unterholz, aus den Baumkronen heraus. Augen, unsichtbar für sie, lagen auf ihr und jagten ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Auch Roy schwieg, doch inzwischen ging er ganz dicht neben ihr. Alisha konnte die Anspannung fühlen, die auch ihn ergriffen hatte.

      Roy war wie sie ein Naturforscher, er kannte den Wald ebenso gut wie Alisha.

      „Etwas ist komisch“, murmelte er leise und plötzlich war alle Überheblichkeit aus seiner Stimme verschwunden. Alisha verkniff sich einen abschätzigen Kommentar und fasste stattdessen ihre Taschenlampe fester, bereit, sie allem und jedem über den Kopf zu ziehen, falls das nötig sein sollte – und ihr Angreifer einen Kopf besaß.

      Langsam tasteten Alisha und Roy sich weiter in den Wald hinein. Irgendwann fragte sie sich, was sie hier eigentlich taten und gerade wollte sie sich an Roy wenden, als dieser sie am Arm packte und beide stehen blieben.

      „Wa – “, begann Alisha.

      „Still!“, fiel Roy ihr ins Wort und legte den Finger über die Lippen. Sie schwieg sofort und auch er war mucksmäuschenstill. Alisha strengte sich an, in der Dunkelheit jenseits des Lichtkegels ihrer Lampen irgendetwas zu erkennen, doch da war nichts. Absolut nichts. Der Wald war still, so als wäre er schon längst tot. Oder als bereitete er sich auf einen Angriff vor.

      Plötzlich kam ihr diese Stille vor wie die Ruhe vor einem gigantischen Sturm und Angst kroch ihr Rückgrat hinauf, ballte sich in ihrem Magen zu einem festen, schmerzvollen Knoten und ließ ihren Atem schneller gehen. Was geschah hier?

      Ohne noch länger nachzudenken, packte sie Roy am Arm und wollte sich umdrehen, um denselben Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. Ihr stockte der Atem, als ihr Licht auf den Rückweg fiel. Da war kein Weg mehr.

      „Roy!“, hauchte sie und stolperte rückwärts. Auch er wandte sich um und als der Schein der zweiten Lampe hinzukam, konnte Alisha das ganze Ausmaß dessen sehen, was geschehen war. Vollkommen lautlos und unbemerkt hatten die Pflanzen ihnen den Rückweg versperrt. Sie waren gewachsen, hatten sich bewegt und einen dichten Urwald aus armdicken Stängeln und Blättern geschaffen, die größer waren, als Alishas Brustkorb. Es schien, als seien auch die Bäume näher zusammengerückt und starrten nun bedrohlich auf sie hinab.

      „Was geschieht hier?“, murmelte Roy und trat näher zu Alisha. Er ließ seinen Lichtkegel links und rechts der lebenden Mauer entlanggleiten. „Oh Gott …“, murmelte er, als er es sah. Es war wie damals, als sie im Unterricht den Zeitrafferfilm vom Pflanzenwachstum gesehen hatten. Nur dass es diesmal nicht ganz so hektisch wirkte, sondern spielerisch leicht, fast anmutig, wie die Ranken, Stängel, Blätter und Stämme sich in die Höhe streckten, wuchsen und wuchsen, bis sie größer waren, als Roy. Und immer noch wuchsen sie weiter, verschlossen die Lücken zwischen den Bäumen und schlängelten sich zielstrebig an ihnen vorbei. Da begriff Roy, was die Pflanzen vorhatten.

      „Sie wollen uns einsperren, Lish!“, rief er plötzlich laut und Alisha zuckte zusammen. Sie sah ihn an und in ihren Augen stand Panik. Roy überkam plötzlich das unbändige Bedürfnis, sie zu beschützen und er packte ihre Hand. „Los, wir müssen laufen!“ Und dann zog er sie hinter sich her und sie stürzten durch den Wald.

      Jetzt war er nicht mehr still, sondern erfüllt von ihren Rufen, ihren Schritten im Unterholz, die Zweige knacken ließen. Und auch die Pflanzen wuchsen jetzt nicht mehr leise und unbemerkt, sondern immer schneller. Ihre Blätter raschelten und ihre Wurzeln peitschten aus der Erde. Knarrend bogen und streckten sich ihre Stämme und Alisha erinnerte die Geräuschkulisse an den Sturm des Nachmittags.

      Nur diesmal war der Grund dafür nicht der Wind. Es war der Wald selbst, der versuchte, sie einzukreisen, sie festzusetzen. Alisha wollte sich nicht ausmalen, was danach mit ihnen geschehen sollte.

      „Lauf doch schneller!“, fuhr Roy sie an. Normalerweise schoss die dann gleich zurück, doch diesmal klang es nicht wie eine versteckte Beleidigung, wie Roy sie gern ausstieß, sondern drängend, wichtig. Ohne Kommentar versuchte Alisha, schneller zu rennen und hielt dabei Roys Hand ganz fest umklammert. Sie mussten aus dem Wald raus. Und zwar schneller als sonst!

      Roy hob die andere Hand, die mit der Taschenlampe, und leuchtete nach vorn. Das Licht flackerte und hüpfte auf und ab und im Schein tauchten Bäume auf, Pflanzen, die genauso schnell auch wieder verschwanden. Alisha hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie so schnell rennen konnte. Es sah fast so aus, als würden sie es schaffen.

      Und dann überholte der Wald sie und die dunkle Masse vor ihnen kam in Bewegung. Sie schien zu brodeln, wog hin und her und jetzt traf der Lichtkreis auf peitschende Äste, auf Wurzeln, die sich aus dem Erdreich erhoben um die beiden Menschen zu Fall zu bringen.

      Alisha schrie erschrocken auf, als sich plötzlich eine Ranke um ihren Fuß wandte und schneller zupackte, als es ein Mensch hätte tun können. Der Länge nach landete sie auf dem Boden und die Wucht des Aufpralls trieb ihr die Luft aus den Lungen und die Tränen in die Augen.

      „Lish!“, rief Roy und sprang zu ihr. Hektisch riss er sie auf die Füße und Alisha strampelte die Ranke von ihrem Bein ab. Ein Ächzen begleitete sie, als die beiden wieder losliefen. Doch die Verzögerung hatte ausgereicht. Sie waren umzingelt, ehe sie noch zehn Meter zurücklegen konnten. Sobald die kleine Lücke vor ihnen verschlossen war, wurde der Wald leiser, er wuchs langsamer, fast als hätte dieses kleine Rennen auch ihn erschöpft.

      „Nein …“, stieß Alisha mit zittriger Stimme aus und ließ die Taschenlampe sinken. Roy hingegen hielt sie hoch erhoben und drehte sich um sich selbst, beobachtete, wie die Ranken immer näher rückten, den Kreis um ihn und Alisha zuzogen wie eine tödliche Schlinge.

      Sein Blick fand Alishas und als er die Panik in ihren Augen sah, trat er auf sie zu und nahm ihre Hand. „Alles gut“, murmelte er ihr zu und komischerweise glaubte sie ihm. Roy und Alisha waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten ihre Pubertät zusammen durchlebt und waren aus dem peinlichen Alter von Pickeln und unreiner Haut herausgewachsen. Roys Züge waren männlicher geworden, ausgereifter. Alisha hatte Rundungen bekommen und war zu einer großen, schlanken jungen Frau geworden. Dennoch hatten sie sich noch nie so im Arm gehalten, wie jetzt.

      Roy beschützte sie schon immer, das wusste Alisha. Und dennoch wurde es ihr erst in diesem Moment klar.

      In diesem Moment, als die Pflanzen sich um sie zuzogen und ihnen immer weniger Raum zum Atmen ließen. Alisha sah nach oben und bemerkte, dass die Pflanzen begonnen hatten, ein Dach über ihrem Kopf zu bilden. Von links, rechts, eigentlich von allen Seiten streckten