Lea Badura

Die Stimme der Vergessenen


Скачать книгу

die Müdigkeit und sie gähnte.

      „Hör auf damit!“, murmelte Roy, der ebenfalls gähnen musste, als er es sah. Sie schnitt ihm eine Grimasse und warf das Telefon neben ihren Rucksack. Auch Roy hatte seinen danebengestellt und Alisha schnappte sich jetzt einen davon und machte es sich mit ihm als Kopfkissen so bequem, wie es eben möglich war. Dann ließ sie ihre Taschenlampe erlöschen.

      „Was machst du da?“, fragte Roy sie.

      „Nach was sieht es denn aus, du Superhirn?“, gab sie zurück. „Schlafen!“ Roy zuckte mit den Schultern und legte sich dann neben sie. Auch er bettete seinen Kopf auf einen Rucksack und knipste dann die Lampe aus.

      „Gute Nacht, Lish“, murmelte er.

      „Gute Nacht, Roy“, nuschelte sie zurück. Eigentlich dachte Alisha nicht, dass sie schlafen könnte, so dicht wie er neben ihr lag, aber innerhalb von wenigen Minuten war sie eingeschlafen. Sie fühlte sich komischerweise sicher.

      Kein Vogel sang, kein einziger. Nur ab und zu war das Rascheln eines Tieres zu vernehmen und das sanfte Rauschen der Blätter, als würde Wind hindurchfahren – oder die Bäume sich wieder in Bewegung setzen. Von weit her meinte Alisha, Geräusche an ihr Ohr dringen zu hören, doch als sie still saß und lauschte, war da nichts mehr. Es hätte immer noch Nacht sein können, so still wie der Wald und seine Bewohner waren. Doch es war Tag.

      Das wusste Alisha nicht nur wegen der Uhr auf ihrem Handy, sondern auch wegen den Sonnenstrahlen, die sich einen Weg in ihr Versteck – oder Gefängnis? – suchten und es erstaunlich gut ausleuchteten. So stark, dass sie die Taschenlampen ausgeschaltet ließ.

      Alisha drehte den Kopf und musterte Roy. Er schlief noch immer, zusammengerollt und die Hände unter der Wange verschränkt. Als sie aufgewacht war, hatte sie sich in seinen Armen wiedergefunden und ihr Herz war zu allererst einmal fast stehengeblieben, so heftig war es gestolpert. Noch wenn sie jetzt daran zurückdachte, fühlte sie seine Arme um ihren Bauch und seine Schenkel, die sich gegen ihre drückten. Sie hatte es genossen, wenn auch nur für kurze Zeit.

      Ein Blick auf ihre Uhr sagte ihr, dass es inzwischen schon fast Mittag war. Sie beide hatten knapp neun Stunden geschlafen und Alisha fühlte sich ausgeruht und voller Tatendrang. Das jedoch scheiterte daran, dass sie immer noch eingesperrt waren. Sie stand auf und streckte die Hand nach der einen Seite aus. Sanft legte sie sie auf die Pflanzen und fühlte die kühlen, glatten Blätter auf ihrer Haut, die raue Borke der Stämme unter ihren Fingern.

      „Warum lasst ihr uns nicht raus?“, murmelte sie fragend. Die einzige Antwort, die sie bekam, war von Roy und bestand in einem genuschelten: „Hmm?“ Er streckte sich so gut es in dem kleinen Raum ging und setzte sich dann auf. Alisha lächelte ihm kurz zu und er nickte.

      „Guten Morgen, Schlafmütze“, sagte er zu ihr und sie lachte.

      „He, jetzt mal halblang. Wer ist hier die Schlafmütze?“, fragte sie ihn belustigt und er grinste sie auf eine Art und Weise an, bei der ihr ganz heiß wurde.

      „Naja, ich konnte ja schlecht zeigen, dass ich schon länger wach war als du“, gab er zu und Alisha drehte sich schnell weg, um zu verbergen, dass sie knallrot angelaufen war. Er war wach gewesen? Dann waren seine Arme um ihren Körper … Absicht gewesen?

      „Kann ja jeder sagen“, antwortete sie lahm und wartete auf den nächsten verbalen Schlag von Roy, doch als nichts kam, drehte sie sich wieder zu ihm um. Er wühlte in den Rucksäcken und kramte alles ess- und trinkbare hervor.

      „Viel ist es nicht“, antwortete er und Alisha war froh, dass er das Thema ganz fallengelassen hatte.

      „Ich hoffe nicht, dass wir noch lange hierbleiben“, gab sie zurück und setzte sich ihm gegenüber. Wieder streckte sie die Hand nach den Pflanzen aus und strich mit dem Zeigefinger sanft über einen kräftigen sattgrünen Stängel. „Wann lasst ihr uns wieder raus?“, murmelte sie den Pflanzen zu und da regte sich etwas unter ihrer Berührung.

      Bald , war die gemurmelte Antwort und diesmal klang die Stimme tiefer. Sie war alt und weise, auf eine Art als hätte der Sprecher schon hunderte von Jahren gelebt. Alisha erkannte, dass dies ein Trieb eines alten, großen Baumes war und sie streichelte nochmal sanft darüber, ehe sie die Hand wegzog.

      „Und?“, fragte Roy und sie musterte ihn. Sein Gesicht zeigte einen offenen, ehrlich interessierten Ausdruck und unwillkürlich fragte sie sich mit ein bisschen fröhlicher Genugtuung, ob er ihr jetzt doch wirklich glaubte. Er konnte immerhin nicht von der Hand weisen, was geschehen war und das wusste auch Roy.

      „Bald, sagt er.“

      „Er?“

      „Der Baum“, sagte Alisha, als wäre es selbstverständlich. Sie grinste in sich hinein. „Der Baum!“, wiederholte sie und spürte, wie sich ein Lachanfall in ihrer Kehle zusammenbraute. Als Roy auch noch zu grinsen begann, konnte sie ihn nicht mehr zurückhalten und platzte laut hinaus. Ihr Lachen drang durch den ausgestorbenen Wald und hallte zwischen den Pflanzen hin und her.

      „Verrückt“, sagte Roy schließlich, als sie sich wieder gefangen hatte.

      „Verrückt“, stimmte ihm Alisha zu. Und dennoch war es wahr.

      Es verging noch ein weiterer halber Tag und als es wieder Abend wurde, hatte Roy mehrere Schrammen und Alisha brummte der Kopf. Sie hatten versucht, sich einen Weg aus dem Dickicht zu bahnen, doch egal, wo sie die Zweige und Äste auseinanderbogen, es wuchsen sofort Neue nach und irgendwann hatten sie angefangen, Roys Hände gleich zu Anfang wegzuschlagen. Fluchend hatte er eine andere Taktik versucht, doch auch das war wenig von Erfolg gekrönt gewesen. Alisha hatte währenddessen versucht, mit den Pflanzen zu reden. Sie wollte noch mehr von ihnen erfahren, warum sie die beiden hier festhielten und was es mit dem angekündigten Angriff auf sich hatte, doch sie schwiegen beharrlich und wenn Alisha dann doch etwas zu hören bekam, war es nur ein geflüstertes Bald werdet ihr sehen.

      „Das hat keinen Sinn“, sagte Roy schließlich resignierend und ließ sich auf den Boden sinken. Sofort entspannten sich die Pflanzen und Alisha hörte, wie ein Raunen ihr Gefängnis durchlief. Irgendwo schüttelte sich ein Ast, seine Blätter raschelten.

      „Wir haben nicht mehr viel Nahrung hier“, sagte sie und auch wenn es keine Anklage Roy gegenüber sein sollte, sah er sie genervt an. „Sorry“, sagte sie und ließ sich neben ihn sinken. Sie legte ihre Hand auf Roys und streichelte seinen Handrücken mit ihrem Daumen.

      Sie wusste, dass er sauer war, das konnte sie ihm ansehen. Doch den Grund begriff sie nicht. Er konnte doch nichts dafür, dass sie hier festsaßen. Und doch fühlte er sich verantwortlich. Er war genervt und sauer auf sich selbst, weil es ihm nicht gelingen wollte, Alisha hier rauszuholen.

      Er zog seine Hand unter ihrer hervor und angelte sich einen der Rucksäcke, den er am Boden packte und grob vor sich auf den Boden ausschüttelte. Hinaus vielen verschiedene Dinge. Ein Besteck zum Erd- und Gesteinproben nehmen, eine kleine Schaufel, eine Harke, Batterien, Wasserflaschen, Energieriegel, Seile, Messer und ein Feuerzeug. Er nahm das Messer in die Hand und in die andere das Feuerzeug.

      „Nein, Roy!“, sagte Alisha schnell und ihre Stimme klang erschrocken.

      „Warum nicht, Lish? Wir müssen hier raus, sonst verdursten wir. Das Wasser reicht höchstens noch für einen Tag!“, gab Roy verärgert zurück. Ihm passte es auch nicht, dass er sich seinen Weg freischneiden musste, vor allem jetzt, da er gesehen hatte, dass das „Leben des Waldes“ nicht nur ein diffuser Begriff war, der darauf beruhte, dass sie wuchsen und Stoffwechsel betrieben. Er hatte gesehen, wie sie sich bewegten, er hatte gesehen, wie sie sich mit Alisha unterhielten. Und dennoch, hier ging es um ihr Überleben.

      Er konnte Alisha ansehen, dass sie mit sich selbst rang. Sie schüttelte leicht den Kopf, während sie ihn gequält ansah.

      „Na gut“, sagte sie schließlich. „Aber erst morgen früh!“, forderte sie. „Wenn sie dir schon die Hände zerkratzen, nur weil du an ihnen ziehst, will ich nicht wissen, was sie mit dir machen, wenn du sie abfackelst oder in Stücke hackst, Roy.“ Insgeheim hoffte sie, die Bäume und Pflanzen bis