Lea Badura

Die Stimme der Vergessenen


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dass sie Roy wehtun könnten. Flehend sah sie ihn an und er ließ Messer und Feuerzeug sinken.

      „Okay“, gab er nach.

      Die folgende Nacht war eine reine Tortur. So gut wie Alisha zuvor geschlafen hatte, so mies war es diesmal. Es gelang ihr einfach nicht, auch nur ein Auge zuzumachen. Stattdessen machte sie sich Sorgen. Sorgen darum, dass ihr Wasser knapp wurde. Sorgen darum, dass Roy morgen verletzt werden könnte. Sorgen darum, dass Roy die Pflanzen abfackeln würde. Sorgen um eigentlich alles, was ihr einfiel. Was hatte die Stimme gemeint, als sie davon sprach, zurückzuschlagen? Was würde sie erwarten, wenn sie aus diesem Iglu hinauskamen, falls das jemals der Fall sein sollte? Alisha kämpfte gegen die Tränen an und gegen die diffuse Angst, die langsam einen Knoten in ihrem Magen bildete. Irgendwann war sie zu erschöpft, um sich noch weiter Sorgen zu machen oder auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen. Sie verschränkte die Arme hinterm Kopf, winkelte die Beine an und lag auf dem Rücken.

      Auch Roy schlief schlecht. Er wälzte sich herum und fand keine bequeme Liegeposition. In seinem Kopf gingen recht ähnliche Überlegungen herum, wie in Alishas. Was, wenn er sie morgen nicht hier raus bringen konnte, oder wenn die Pflanzen sich entschlossen, doch noch zurückzuschlagen. Sie würden sich wehren, wenn er sie mit dem Messer attackierte, da hatte Alisha schon recht gehabt. Könnten sie schnell genug sein, um dem Wald zu entkommen? Roy bezweifelte es ernsthaft, doch sie mussten es versuchen! Sie konnten nicht ewig hier bleiben. Und für Alisha würde Roy alles tun.

      Er drehte den Kopf und blinzelte in die Dunkelheit. Es war zu finster, um Einzelheiten erkennen zu können, doch ihm war, als würde ein Mondstrahl Alishas Haut aufhellen, sich in ihren Augen spiegeln, die ihn ansahen. Sein Blick wanderte zu den verschwommenen Konturen ihrer Lippen und verharrte dort.

      Es geschah fast gleichzeitig, dass sich ihrer beider Gedanken von ihrer Misere abwandten und einander fanden. Alisha dachte daran, dass Roy sie seit so langer Zeit wieder „Süße“ genannt hatte, während Roy sich erinnerte, wie sie ihre Hand sanft auf seine gelegt und ihn gestreichelt hatte.

      Darüber schliefen beide ein.

      3. Verändert

      Am nächsten Morgen kam es ganz anders, als sie beide gedacht hatten. Alisha und Roy wachten fast gleichzeitig auf, denn sie wurden von dem Geräusch raschelnder Blätter und knarrender Stämme geweckt. Unwillkürlich griff Alisha nach Roys Hand und blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit an, die sich auf sie ergoss, als die Pflanzen ihren Bunker auflösten.

      Schnell sprang Roy auf und zog Alisha mit sich auf die Füße. Beide sahen sich um, doch der Wald hatte sich nicht verändert. Hier und da schien er dichter geworden zu sein. Alisha atmete erleichtert auf. Nach der Ankündigung der kleinen Ranke hatte sie mit allem gerechnet. Jetzt diese Normalität vorzufinden, war beruhigend. Andererseits war da immer noch dieses nagende Gefühl in ihrem Magen. Das konnte doch nicht alles gewesen sein, oder?

      „Komm, wir sollten Heim gehen!“, sagte Roy und schulterte seinen Rucksack, während er Alisha den zweiten reichte. Dann machten sie sich auf den Heimweg. Nach etwa fünfzig Metern kam Alisha nicht umhin, zu bemerken, dass der Abstand zwischen Roy und ihr wieder größer geworden war. Leicht traurig dachte sie an den letzten Tag zurück. So nah waren sie sich schon seit Jahren nicht mehr gewesen. Sie ließ sich etwas zurückfallen und betrachtete Roy. Ob sie es einfach riskieren sollte und seine Hand nehmen? Doch ehe sie sich dazu durchringen konnte, erreichten sie den Waldrand und Roys Schritt stockte schlagartig.

      „Oh heilige …“, murmelte er und seine Stimme war rau, tonlos und entsetzt – alles zur gleichen Zeit. Alisha runzelte die Stirn und trat neben ihn. Auch ihr Atem stockte.

      Der Wald hatte Wort gehalten.

      Sie hatten angegriffen.

      Die Stadt … lag unter einem Urwald begraben.

      Bäume, Sträucher, Pflanzen und Gras waren über die 36 Stunden, die Alisha und Roy weggesperrt verbracht hatten, gewuchert und gewachsen. So ähnlich, wie das, was im Wald passiert war. Bäume überragten die Häuser, schlangen ihre Äste durch Fenster und Wände. Autos lagen auf dem Rücken, Pflanzen wucherten durch Straßenasphalt, fingen Fahrräder, Briefkästen, Zäune, Motorräder, alles, was nicht niet- und nagelfest war ein. Nirgendwo war mehr Platz dafür, sich mit einem Auto fortzubewegen. Es war kaum noch möglich, es zu Fuß zu tun. Brücken waren eingestürzt, denn die Pflanzen hatten ihre Pfeiler zerschlagen. Tunnel waren eingestürzt, bei manchen Gebäuden fehlten ganze Wände. Der Kirchturm, den sie von hier aus in den Himmel ragen sahen, war in der Mitte durchgebrochen und hing jetzt mit der Spitze nach unten, nur gehalten von Ästen, die dicker waren als ein Bus.

      „Oh Gott …“, murmelte Alisha und Tränen rannen ihre Wange herunter. Roy griff nach ihrer Hand und dankbar hielt sie sich an ihm fest. „Sie haben sich ihren Platz zurückerobert …“, murmelte Alisha und ihr Blick fiel auf eine Sonnenblume, die mehr als sieben Meter groß war. Ihre Blüte war so ausladend, dass Alisha sich darauf hätte setzen können. Roy begann, sich einen Weg durch das fast mannshohe Gras zu bahnen, zu ihrem Auto. Der Van lag auf der Seite, die hintere Schiebetür eingedellt, als wäre ein Riese darüber gestolpert. Die Glasfenster waren pulverisiert worden, die Reifen hatten keine Luft mehr und das Benzin hatte eine Lache in der Wiese gebildet.

      Alisha legte die Hand auf einen Ast, dessen Durchmesser etwa dem von Roys Brustkorb entsprach und versuchte, seiner Präsenz nachzuspüren.

      „Was habt ihr getan?“, fragte sie und das Entsetzen ließ ihre Stimme rau klingen. Sie bekam keine Antwort, doch ihr war, als würde reine, pulsierende Energie durch den Ast fließen, wie Adrenalin durch menschliche Adern. Das hier war noch nicht vorbei.

      „Wir müssen ins Institut“, sagte Roy plötzlich und Alisha stimmte ihm nickend zu. Sie mussten wissen, wie es den anderen ging.

      Nur fünfzehn Minuten später sank ihre Hoffnung rapide gegen Null. Es war gar nicht so leicht, sich durch diesen Urwald zu schlagen. Roy hatte nach nur fünf Schritten das Messer aus seinem Rucksack geholt und versuchte es jetzt wie eine Machete einzusetzen und die urwaldähnlichen Pflanzen aus dem Weg zu räumen. Es war natürlich viel zu klein und das machte die Unternehmung verdammt anstrengend. Sobald sie die Stadt erreichten, wurde es etwas besser. Zwar wucherte das Gras immer noch brusthoch, doch die Bäume standen nicht mehr so dicht. Dafür stieg Alisha ein schrecklich süßlicher Geruch in die Nase. Sie packte Roys Hand und deutete nach links. Er verharrte und folgte ihrem Blick.

      Vor ihnen lag der Eingang in ein Haus. Die Tür war aus den Angeln gehebelt und ein riesiger Ast hatte sich hindurchgeschlängelt und verschwand im Dunklen. Die Schwärze, die dahinter lag, wirkte irgendwie bedrohlich und Alisha schlug das Herz bis zur Brust, als sie darauf zutrat. Sie schlüpfte unter dem Baum hindurch und durchquerte die Eingangshalle. Dabei versuchte sie, nicht darauf zu achten, dass die Pflanzen auch hier alles zerstört hatten. Das Zimmer war verwüstet, als hätte ein Einbrecher hier drin seinen großen Coup geübt.

      Der Geruch wurde stärker und Alisha folgte ihm durch eine weitere Tür. Dann sah sie es. Sie schrie auf und drehte sich schnell um. Roy war direkt hinter ihr und sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Dennoch verschwand das Bild nicht vor ihrem inneren Auge. Es war deutlich in ihr Hirn gebrannt. Mitten auf dem Boden, in einer Lache ihres eigenen Blutes, lag eine junge Frau. Der Ast des Baumes hatte sich durch ihre Brust gebohrt und sie aufgespießt. Alisha wurde von heftigen Krämpfen gepackt und ihr ganzer Körper zitterte.

      „Komm, Süße“, murmelte Roy und führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Gern hätte er noch etwas für die junge Frau in diesem Zimmer getan, aber sie war tot und er konnte ihr nicht mehr helfen. Dieser Wald … sie hatten zu Alisha gesagt, sie wollten kämpfen. Offensichtlich hatten sie das ganz wörtlich gemeint.

      Jetzt, da sie wussten, worauf sie achten mussten, bemerkten sie die Toten. Es waren viele. Zu viele und mit jedem Schritt, den sie taten, sank ihre Hoffnung, im Institut noch Überlebende zu finden. Die Stadt war sonderbar still. Kein Motorenlärm, keine Stimmen, keine Schritte auf den Gehsteigen. Nirgendwo war ein Radio an. Es war zu still.

      Totenstill , begriff Alisha. Sie hatte geweint, nachdem Roy sie