Lea Badura

Die Stimme der Vergessenen


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das Ende einer Peitsche, auf die Finger.

      „Au!“, machte Roy und rieb sich den Handrücken. „Sie wollen uns wohl nicht rauslassen“, murmelte er und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Alisha schmunzelte und puffte ihn leicht gegen die Schulter.

      „Darüber solltest du dich nicht so freuen!“, sagte sie und dann lachten beide und die Anspannung zwischen ihnen verflog. So war es schon immer gewesen. Sie stritten sich oft und heftig, aber sie versöhnten sich auch fast ebenso schnell wieder.

      „Es freut mich nicht“, sagte Roy, als er wieder Luft bekam und Alisha rieb sich über die Augen, um die Lachtränen loszuwerden. Deutlich entspannter sah sie ihn an.

      „Ich weiß, es fasziniert dich“, sagte sie, denn sie kannte Roy fast besser als sich selbst.

      „Exakt“, murmelte er und stand auf. Vorsichtig, fast schon sanft, um die Pflanzen nicht zu verletzen, begann er das Mauerwerk abzusuchen und Alisha beobachtete ihn dabei. Sie mochte es, wie er mit Pflanzen umging, wie er sie automatisch mit Respekt behandelte.

      Sie stand auf und trat neben ihn, legte ihre Hände ebenfalls auf die Pflanzen und strich über ihre Blätter, über die raue Rinde und die glatten, kühlen Stängel. Neben ihrer Hand raschelte es plötzlich und ehe Alisha sie fortziehen konnte, hatte sich eine kleine Ranke um ihre Hand gewunden. Stocksteif verharrte sie und wartete ab. Wahrscheinlich hätte sie ihre Hand noch freimachen können, doch sie wollte die Ranke nicht verletzen und so beobachtete sie nur, wie sie sich um ihr Handgelenk wandte und sich durch ihre Finger schlängelte.

      „Lish …“, murmelte Roy warnend, doch sie hob die freie Hand zum Zeichen, dass er warten sollte.

      „Schon okay. Sie will mir nichts tun“, sagte Alisha mit mehr Überzeugung, als sie aufbringen konnte. Und dann blitzte ein Bild in ihrem Kopf auf und sie taumelte. Noch eines folgte und plötzlich bombardierte sie die Pflanze mit einer ganzen Bilderflut.

      Junge, wachsende Keime, die sich der Sonne entgegenreckten.

      Ein Bagger, der kam um die Erde aus dem Wald herauszureißen. Er stahl ihnen ihre Wurzeln und ihre Nahrung, er stahl ihnen die Grundlage ihres Seins.

      Menschen, in orangen Anzügen, mit lauten, kreischenden Maschinen.

      Fallende, sterbende Bäume.

      Straßen, die mitten durchs Herz des Waldes führten, die ihn in zwei schnitten und unwiederbringlich teilten.

      „Lish!“, rief Roy und durchdrang damit die Flut an entsetzlichen Momenten. Er packte ihre Schultern und der Kontakt brach ab. Die Ranke fiel von ihrer Hand und zog sich zurück, verschwand fast vollkommen. Alisha sank unbewusst gegen Roy, der sie festhielt, bis sie wieder allein aufrecht stehen konnte. „Was ist geschehen?“, fragte er besorgt.

      „Ich …“, sie schüttelte den Kopf und berichtete, welche Bilder sie gesehen hatte.

      „Du meinst, es war diese Ranke, die dir die Bilder gezeigt hat?“, fragte Roy zweifelnd und sah das kleine Ding an, das nur noch etwa fünf Zentimeter aus dem Geflecht der anderen Pflanzen hervorstand.

      „Ich habe keine andere Erklärung“, murmelte Alisha schulterzuckend und griff erneut nach der Ranke, doch Roy packte vorher ihre Hand.

      „Lass das lieber sein“, meinte er mit versteinertem Gesicht. Er sah sie dabei nicht an, sondern hatte den Blick immer noch auf das grüne Pflänzchen gerichtet.

      „Nein“, sagte Alisha fest und machte sich los. „Ich will wissen, was sie mir sagen will.“ Mit rechts griff sie vorsichtig nach der Ranke, strich über sie und hielt ihr ihren Finger hin. Tatsächlich begann das junge Ding, sich erneut um ihren Finger zu winden. Unbewusst griff Alisha nach Roys Hand und hielt sich an ihm fest, während sie beide die Ranke dabei beobachteten, wie sie sich immer weiter um Alishas Hand wandte und schließlich auch ihr Handgelenk erreichte.

      Hallo, Mädchen , die Stimme war glockenhell in ihrem Kopf und hinterließ ein Klingeln, das bis tief in Alishas Innerstes strömte. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie tatsächlich Worte hörte, oder ob sie einfach nur die Bedeutung dieses Singsangs kannte.

      „Hallo“, gab sie murmelnd zurück, was der Pflanze ein Lachen entlockte. Der helle Klang ließ auch Alisha lächeln, so fröhlich war er, so leicht und unbeschwert. Wie hatten sie jemals denken können, der Wald wollte ihnen etwas tun? Vielleicht, weil er dich angefaucht hat, Alisha? ; fragte die leise, ironische Stimme ihres Unterbewusstseins.

      „Was möchtest du?“, fuhr Alisha fort, ohne die Stimme zu beachten.

      Ich möchte dir etwas zeigen .

      „Was?“

      Der Wald stirbt, Mädchen. Wir alle sterben. In eurer technischen Welt ist kein Platz mehr für uns und das macht uns traurig. Andere macht es wütend und sie schlagen zurück. Wir schlagen zurück.

      „Was meinst du damit?“, fragte Alisha und plötzlich hatte sie ein ganz schlechtes Gefühl im Bauch. Es kroch herauf, einer dunklen Vorahnung gleich, und bescherte ihr am ganzen Körper eine Gänsehaut.

      Die Zeit der Toleranz ist vorbei . Bildete Alisha sich das ein, oder klang das Pflänzchen traurig? Wir haben keine Luft mehr. Es muss sich etwas ändern!

      Und dann zog sich die Ranke ruckartig zurück und gab Alishas Hand frei. Unbewusst rieb sie über die Stellen, an denen ihre Haut die Pflanze berührt hatte. Sie kribbelten, als wäre sie immer noch mit dem Wald verbunden, doch sie hörte ihn nicht mehr, spürte seine Präsenz nicht mehr.

      „Was hat es gesagt?“, fragte Roy und klang dabei fast ungläubig, dass er das wirklich fragte. Alisha drehte sich mit fahlem Gesicht zu ihm um und berichtete dann Wort für Wort, was sie erfahren hatte.

      „Heißt das, er will angreifen?“, fragte Roy unsicher und lachte auf. „Vielleicht hast du dir beim Fallen den Kopf gestoßen und bildest dir das jetzt alles nur ein“, wiegelte er ab.

      „Ich bilde mir nichts ein!“, entgegnete Alisha scharf. „Du hast doch auch gesehen, dass der Wald uns verfolgt hat! Er ist lebendig, Roy. Und er wird sich wehren.“

      „Ich weigere mich, zu glauben, dass der Wald Menschen angreifen wird!“, wehrte er sich und Alisha hob eine Augenbraue.

      „Was brauchst du noch für Beweise? Er hat uns eingeschlossen und bewegt sich, Roy! Ich habe ihn sprechen gehört!“ Der Zweifel verschwand nicht von seinem Gesicht und sie seufzte tief. Dann griff sie nach ihrem Rucksack.

      „Was macht du?“, fragte er.

      „Ich hab Hunger!“, gab sie zurück und griff nach den Energieriegeln, die sie in ihrer Ausrüstung immer mit sich führten. Einen davon gab sie Roy und sie aßen schweigend. Alisha hatte auch eine Feldflasche voller Wasser und nachdem sie ihre karge Mahlzeit beendet hatten, schwiegen sie eine Weile. Alisha konnte sehen, dass Roy scharf nachdachte. Zu gern hätte sie gewusst, was in seinem Kopf vorging. Ob er sich darauf einlassen könnte, auf das alles hier?

      „Okay“, sagte er plötzlich und sie blinzelte. Wie lange hatte sie einfach nur da gesessen und ihn angestarrt? „Nehmen wir an, das alles ist wahr und passiert wirklich. Du kannst mit dem Wald sprechen und er hat gesagt, er greift an.“

      „Sie greifen an“, verbesserte Alisha. „Der Wald ist nicht ein einziges kollektives Wesen, sondern eine Gemeinschaft, ein …“, sie zuckte mit den Schultern. „Ein Zusammenschluss aus vielen, selbst denkenden Pflanzen, die miteinander leben.“ Roy sah sie kurz an.

      „Okay“, sagte er und Alisha fragte sich, ob das ironisch gemeint war. Sie sah ihn stirnrunzelnd an und er grinste kurz. „Wenn du das sagst“, fügte er an und sie machte „Hmm?“

      „Also, um nochmal darauf zurückzukommen“, fuhr er fort und konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen. Dann wurde er ernst. „ Sie haben also gesagt, sie wollen angreifen?“ Alisha nickte. „Was machen wir dann?“, fragte er sie ernst und da sie keine Antwort auf diese Frage wusste, schwiegen sie beide.

      Alisha zog