Solveig Schuster

Samuel und der Tarnmantel


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Lichtchen auf den Stufen zu orientieren. Vor ihm geht Mama, die ebenfalls im Dunkeln wenig zu sehen scheint. Davor Papa, der jetzt an einer Sitzreihe stehenbleibt und auf die Karten schaut. „Hier müssen wir rein“, flüstert er. Der vierte und fünfte Platz in der Reihe sind noch frei. Mist, denkt Samuel und was mache ICH jetzt? Er hat ja keine Eintrittskarte und somit auch keinen Sitzplatz. Samuel setzt sich auf die Stufen im Gang. Papa hat noch Popcorn geholt. Wie gern hätte Samuel jetzt auch welches. Bis zu Papa und der Tüte würde er ja noch unbemerkt kommen, aber wie hereingreifen, ohne dass es auffällt und vor allem etwas runterfällt. Samuel kann sich vorstellen, was das für eine Aufregung wäre. Wohl keiner im Kino würde sich noch für den Film interessieren. Das kann Samuel auf keinen Fall riskieren. Also bleibt er auf den Stufen sitzen.

      Der Film beginnt. Samuel versteht kein Wort, der ganze Film wird in englischer Sprache gezeigt. Zwar hat Samuel inzwischen auch Englisch in der Schule, aber mehr als wie er heißt und wo er wohnt, hat er noch nicht gelernt. Und außerdem spricht Frau Ziegert, seine Lehrerin, auch viel deutlicher, als die Schauspieler dort auf der Leinwand.

      Samuel sieht sich im Kino um. Ob er mal rausgeht? Aber wo? Die Ausgänge sind vorn, links und rechts neben der Leinwand, davor hängen dicke Vorhänge. Die müsste er zur Seite schieben, um da durchzukommen. Das klappt nicht, ohne das jemand das bemerkt. In dem Saal sitzen bestimmt über Hundert Leute. Durch die Tür, durch die er gekommen ist, könnte es eher gehen. Die befindet sich links hinter den Stuhlreihen, die Zuschauer haben sie also im Rücken und können sie nicht sehen. Aber was, wenn gerade jemand herein kommt oder noch vor der Tür steht? Samuel ist doch ein bisschen unwohl bei der Sache. Unsichtbar sein, ist das eine, aber nicht aufzufallen, das andere und im Moment eine große Herausforderung.

      Und wenn er seinen Mantel und seine Tarnung ablegt, um aus der Tür zu gehen? Was soll schon passieren? Wenn ihn jemand entdeckt und fragt, dann sagt er einfach, er hätte sich in der Tür geirrt. Samuel ist begeistert von seiner Idee. Er steht auf und geht zur Tür. Weil niemand ihm zu folgen scheint und auch vor der Tür alles ruhig ist, zieht er den Mantel aus und legt ihn über seinen linken Arm. Dann öffnet er vorsichtig die Tür.

      Vor den anderen Kinosälen stehen jede Menge Leute, die alle noch auf den Einlass warten. Die meisten Filme beginnen zeitlich etwas versetzt, also manche früher, andere eine viertel oder halbe Stunde später. Samuel schaut sich um. Viel spannender ist das hier draußen aber auch nicht, denkt er sich. Das Kino kennt er ja. Er war schon oft mit Mama, Papa, Samantha oder seinen Freunden hier. Natürlich nicht so spät am Abend, aber so anders als am Tag ist es nun auch wieder nicht. Mehr Erwachsene als Kinder oder Jugendliche, aber sonst? Soll Samuel vielleicht doch nach Hause gehen? „Na, wo willst du denn hin?“, hört er plötzlich eine freundliche Stimme hinter sich. Die freundliche Stimme gehört einer Frau, die Sabine heißt. Das steht auf einem kleinen weißen Schild, das sie auf ihrem roten Pullover trägt. Sie arbeitet im Kino und ist für die Kontrolle der Eintrittskarten zuständig. „Das ist sicher nicht der richtige Film“, sagt sie und zeigt auf den Kinosaal, aus dem Samuel gerade gekommen ist. „Äh, nein“, sagt Samuel und sucht nach einer Ausrede. „Welchen Film wolltest du dir denn ansehen, im Moment läuft doch gar keiner in deiner Altersklasse?“ fragt Sabine. „Äh, hm, nein“, stammelt Samuel. „Ich wollte auch gar nicht ins Kino“, sagt er dann. Sabine schaut ihn fragend an. „Ich suche nur meine Eltern“, erklärt ihr Samuel, „meine Schwester liegt zu Hause im Bett, ihr geht es nicht so gut.“ Das klingt glaubhaft. Sabine ist jetzt sehr besorgt. „Soll ich deine Eltern ausrufen lassen. Wir haben an der Kasse ein Mikrofon?“ fragt sie. Nein, bloß das nicht, denkt Samuel, der jetzt angestrengt überlegt, wie er aus dieser Sache wieder heraus kommt. Er schaut sich um. Gegenüber geht gerade eine Frau zur Toilette, die in etwa das Alter seiner Mutter hat. Sie sieht zwar überhaupt kein bisschen so aus wie sie, aber das ist Samuel jetzt völlig egal. „Äh, nein nicht nötig. Da ist ja meine Mutter“, sagt er schnell und zeigt auf die Frau, die gerade hinter der Toilettentür verschwindet. Schnell rennt er hinterher.

      „Das ist aber die Damentoilette“, sagt die Frau, die er eben für seine Mutter ausgegeben hat. „Oh, Entschuldigung. Ich will mir auch nur kurz die Hände waschen“, erwidert Samuel. Er ist erstaunt, zu welchen Ausreden er heute fähig ist. Als die Frau hinter einer der Türen verschwunden ist, prüft Samuel im Spiegel seine Nase. Ob die jetzt wohl ein ganzes Stück länger geworden ist? Er schämt sich, weil er sonst eigentlich immer ganz ehrlich ist. Auch wenn Samantha immer sagt, dass kleine Notlügen erlaubt sind. Die Nase hat sich nicht verändert. Samuel ist erleichtert. Jetzt aber nichts wie weg hier. Schnell zieht er den Mantel über und wartet bis seine neue Mama aus der Toilette kommt, um mit ihr gemeinsam durch die Tür nach draußen zu gehen. Es klappt. Unbemerkt gelangt Samuel in den Flur.

      Sabine steht am Eingang zu Kinosaal 3 und reißt Karten ab. Sie hat die Toilette nicht im Blick und auch nicht den Kinosaal 1, aus dem Samuel zuerst gekommen ist. Weil gerade ein älterer Herr hineingeht, schiebt sich Samuel kurzentschlossen mit durch die Tür. Hinter ihm steigt er die Stufen mit den roten Lichtchen hinunter, bis zu der Reihe, in dem seine Eltern sitzen. Papa hält Mamas Hand, und sie hat sich jetzt eng an seine Schulter gelehnt. Ist sie etwa eingeschlafen? fragt sich Samuel, dem allmählich auch die Augen schwer werden. Ihm ist langweilig. Er setzt sich auf die Stufen, lehnt sich an den ersten Sitz der Reihe und schließt die Augen.

      Plötzlich spürt Samuel einen Fußtritt im Rücken. Um ihn herum herrscht ohrenbetäubender Lärm. Zumindest hat Samuel das Gefühl, dass es sehr laut ist. Er war eingeschlafen und hat nun Mühe, wieder zu sich zu kommen. Er hat so tief geschlafen, dass er gar nicht mitbekommen hat, dass der Film schon zu Ende ist. Die Leute sind inzwischen aufgestanden und verlassen das Kino. Auch die Plätze seiner Eltern sind schon leer. Mist, wo stecken die? Samuel wird unruhig. Und wenn die schon weg sind? Naja, ganz so schlimm ist es nicht, beruhigt er sich. Den Weg nach Hause findet er auch allein. Er schlängelt sich zwischen den Leuten hindurch zum Vorhang und dem Hinterausgang. Draußen ist es jetzt noch etwas kälter geworden. Samuel friert. Er legt den Tarnmantel noch etwas enger um sich.

       Ein Dieb im Tanzlokal

      Ob er doch nach Hause geht? Der Kinobesuch hat Samuel doch sehr zu schaffen gemacht, und er ist jetzt ziemlich müde. Samuel schlendert zur Bushaltestelle und sieht sich um. Da! Auf der anderen Straßenseite stehen seine Eltern an einem Taxi-Stand. Samuel schaut nach links und rechts, und als er sieht, dass die Straße frei ist, flitzt er rüber. Papa winkt einem Taxi, das gerade heranrollt. Aber es hält nicht an und fährt einfach vorbei. „Auch schon voll“, sagt er. „Vielleicht gehen wir doch lieber nur um die Ecke ins „Bardolino“?“ fragt Mama. „Ich bin schon etwas müde und mache mir wegen Samuel auch noch immer etwas Sorgen. So früh geht er sonst nie ins Bett...“ Also die Aufregung ist völlig unbegründet, denkt Samuel. Mir geht es gut und Samantha ganz sicher auch. Überhaupt, was die jetzt wohl gerade macht? Vielleicht wäre es doch interessanter gewesen, wenn Samuel zu Hause geblieben wäre? Andererseits hat er schon viel vom „Bardolino“ gehört und das macht ihn jetzt auch ein wenig neugierig. Das „Bardolino“ ist ein ganz bekanntes Tanzlokal, wo Mama früher öfter mit Tante Margit zum Tanzen war. Tante Margit hat mal erzählt, dass Mama und Papa sich dort kennengelernt haben. Samuel ist schlagartig hellwach und bereit, seine kleine Abenteuerreise fortzusetzen.

      Das „Bardolino“ befindet sich nur eine Straße weiter, zum Eingang gelangt man durch einen Hinterhof. Ziemlich schaurig hier, findet Samuel. Er ist froh, jetzt nicht allein zu sein. „Danke, du bist süß“, sagt Mama zu Papa, die sich jetzt wieder bei ihm untergehakt hat. Weil er ihrem Wunsch ins „Bardolino“ zu gehen und nicht mit dem Taxi wegzufahren, nachgegeben hat? überlegt Samuel. Oder warum findet Mama, dass Papa süß ist? Samantha findet ihren kleinen Bruder auch süß, hat sie heute Nachmitttag zu Luca gesagt. Samuel weiß nicht, was er davon halten soll. Schokolade ist süß oder Honig, manchmal auch Babys, aber er und Papa?

      Samuel bleibt jetzt ganz eng an der Seite seiner Eltern. So ganz wohl ist ihm immer noch nicht. Es ist ziemlich dunkel. Der Weg von der Straße zum Hinterhof führt durch einen langen Gang. An der Decke sind nur zwei kleine Lampen angebracht, die nur wenig Licht geben. In einer Ecke hat sich ein alter bärtiger Mann in eine löchrige Decke gehüllt und zündet sich gerade mit einem Feuerzeug einen Zigarettenstummel