Tür zu dem anderen, der noch immer den Raum absucht. Samuel nickt heftig mit dem Kopf und wünscht sich auch, dass Leo seine Suche beendet. Solange er den Mantel an hat, kann Leo Samuel zwar nicht sehen, aber wer weiß, wie lange der Zauber überhaupt noch wirkt. Bei dem Gedanken, der Zauber könnte irgendwann vorüber sein, wird Samuel ganz mulmig.
„Tja, dann ist der Rest Trinkgeld“, sagt Leo schließlich und hört auf, weiter zu suchen. Er nimmt den Euro und geht damit durch die Flügeltür zur Kasse. Trinkgeld, auch das hat Samuel schon einmal gehört. So etwas wie Wechselgeld, nur das man nichts eintauscht und eigentlich auch nichts zurück bekommt, oder so ähnlich? Jedenfalls bekommt das immer der Taxifahrer, wenn er uns zum Bahnhof fährt, oder der Kellner im Restaurant, Mama hat auch schon der Putzfrau Helene Trinkgeld gegeben. Apropos Mama. Samuel hat keine Zeit zu verlieren. Er sollte wieder an den Tisch zurückkehren. Wer weiß, wie spät es schon ist und ob Mama und Papa überhaupt noch dort sitzen.
Tatsächlich, der Tisch ist leer. Aber Mamas Tasche hängt noch über dem Stuhl. Samuel ist beruhigt, dann können sie nicht weit sein. Er läuft rüber zum Tisch, setzt sich auf seinen Stuhl und will gerade die Flasche ansetzen, um endlich seinen Durst zu stillen. Da schleicht hinter ihm ein Mann heran und hat sich mit einer kurzen Handbewegung blitzschnell Mamas Tasche von der Lehne geangelt. Reaktionsschnell streckt Samuel ein Bein unter dem Tisch hervor, der Mann strauchelt und fällt zu Boden. In dem Moment kommen Mama und Papa von der Tanzfläche herübergeeilt. „Meine Tasche, haltet den Dieb, meine Tasche“, ruft Mama ganz aufgeregt. Und sofort stürzen sich zwei Männer auf ihn und drücken den Dieb, der sich gerade aufrappeln will, wieder zu Boden.
Jetzt kommt auch Leo vom Tresen herüber. „Was ist passiert?“ fragt er. Samuel will soeben lossprudeln, schließlich hat er ja alles aus nächster Nähe erlebt. Aber wieder muss er sich zurückhalten. „Das ist unglaublich, der Mann wollte meine Handtasche stehlen. Wir waren tanzen, und ich hatte sie dort über den Stuhl gehängt“, sagt Mama und zeigt auf den Stuhl neben Samuel. „Ich ruf' dann mal die Polizei“, sagt Leo und verschwindet wieder hinter dem Tresen. Das Telefon hängt dort an der Wand, und Samuel beobachtet aus der Ferne wie Leo mit der Polizei telefoniert. Dass der Abend noch so eine spannende Wende nimmt, hätte er nie und nimmer gedacht. „Fünf Minuten, Achim“, ruft Leo einem der Männer zu, die den Taschendieb jetzt einer links, einer rechts fest an den Armen packen. Gleichzeitig zeigt er Achim die flache Hand mit fünf gespreizten Fingern, um zu demonstrieren, wieviel Zeit die Polizei bis zu ihrem Eintreffen noch benötigt. Wohl für den Fall, dass Achim ihn bei dem Lärm nicht hören kann. Achim nickt und die beiden Männer schupsen den Gefangenen quer durch den Raum zum Ausgang.
Schon wieder rüttelt es an Samuels Stuhllehne. Diesmal ist es kein Dieb, sondern Harald, der den Stuhl, auf dem Samuel eben noch saß, mit einem Ruck vom Tisch wegzieht, so dass Samuel zur Seite herunter fällt. Aua, du Grobian, beschwert sich Samuel. Harald ist der Vater von Jakob, einem Mitschüler von Samuel. Was wollen die denn hier? fragt sich Samuel. „Was für eine Aufregung, he?“ Harald setzt sich auf den freien Stuhl und gibt Papa mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß. Auch Samuels Eltern haben inzwischen wieder Platz genommen und sich von dem kurzen Schrecken erholt. Mama sortiert ihre Tasche, da durch den Sturz des Diebes fast alles aus der Tasche herausgefallen ist. Jetzt kommt auch Jakobs Mutter, Rosi, an den Tisch. Papa steht auf und holt ihr vom Nachbartisch noch einen weiteren Stuhl. Samuel bleibt fürs Erste unter dem Tisch hocken. „Unglaublich“, sagt Mama. „Habt ihr das mitbekommen?“ Und ob sie haben. Jakobs Mutter ist aufgeregter als sie selbst. „Ja, das gibt es ja wohl gar nicht“, sagt sie, „dass hat es ja in all den Jahren hier noch nicht gegeben. Sowas von dreist.“ Dabei schüttelt sie so heftig ihren Kopf, dass Mama ihre schwarzen langen Haare ständig ins Gesicht bekommt.
Samuel kann Rosi noch weniger leiden, als ihren Sohn, Jakob. Jakob geht mit Samuel in eine Klasse und sitzt direkt hinter ihm. Ständig stört er, weil er nie etwas mitbekommt, weiß aber sonst immer alles besser und ganz genau. So wie sein Vater Harald jetzt, der gerade Samuels Mutter belehrt, wie sie denn die Tasche auch einfach am Stuhl hängen lassen konnte. „Ja, das war sicher dumm“, pflichtet Mama ihm bei und beendet damit ganz geschickt das Gespräch. Das meint Mama wohl immer, wenn sie sagt, „der Klügere gibt nach“. Samuel nimmt sich vor, das auch auszuprobieren, wenn er mal wieder mit Samantha in Streit gerät.
Harald und Papa unterhalten sich jetzt über Fußball, die beiden Frauen sitzen schweigend nebeneinander. „Na, so ein Zufall“, unterbricht Rosi die Stille. „Wir waren seit Jahren nicht hier. Ihr kommt öfter her?“ Mama umklammert noch immer ihre Tasche. „Nein, nein, wir waren eben im Kino. Samantha hatte uns ja zu Weihnachten Karten geschenkt und von dort ist es ja nicht weit.“ Samuel streckt den Kopf unter dem Tisch hervor, um die beiden Frauen etwas besser sehen zu können.
Mama scheint irgendetwas zu suchen. Sie blickt nach links über die Stuhllehne, dann nach rechts. Schließlich unter den Tisch. Samuel zuckt zusammen. Vor ihm liegt ein kleiner roter Lippenstift. Schnell stellt er seinen Fuß darauf, damit Mama ihn nicht entdecken kann. Womöglich greift sie unter den Tisch und kann doch irgendetwas von Samuel ertasten. Samuel nimmt den Lippenstift und legt ihn ganz dicht an Rosis Stuhlbein. Auch Rosi ist inzwischen aufgefallen, dass Mama ganz unruhig ist. „Suchst du etwas?“ fragt sie. „Ja, meinen Lippenstift, er muss mir aus der Tasche gefallen sein“, sagt Mama, ohne Rosi groß Beachtung zu schenken. Rosi rückt mit ihrem Stuhl etwas zurück und entdeckt dabei den Stift, der durch die Bewegung etwas nach vorn gerollt ist. Bravo Samuel, das hast du gut hinbekommen, freut sich Samuel und zieht sich wieder ein Stück unter den Tisch zurück. Im selben Moment beugt sich Rosi herunter. „Ist er das hier“, fragt sie Mama, als sie sich wieder aufgerichtet hat und hält ihr den Lippenstift hin. „Oh ja, danke. Zum Glück. Den hatte mir Samantha für den Abend geborgt“, sagt Mama erleichtert und steckt ihn ein.
Rosi versucht noch immer mit Samuels Mutter ins Gespräch zu kommen. „Du hast die Haare schön“, sagt sie. „Warst du frisch beim Friseur?“ Von wegen Friseur. Heute morgen hat Mama noch zu Papa gesagt, dass sie da dringend mal hin müsste. Sie war schon seit Wochen nicht beim Friseur. „Oh, danke. Aber nein, ich war nicht beim Friseur.“ Mama hat offenbar keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten. Samuel muss lachen. Da muss sich Rosi schon etwas anderes einfallen lassen, denkt er. Rosi versucht es noch einmal. „Jakob ist ja ganz begeistert von eurem Samuel“, sagt sie zu Mama. Na, jetzt wird es aber spannend, denkt Samuel, dem das Lachen schlagartig vergangen ist. Wie bitte? Jakob begeistert? Na davon hätte Samuel aber etwas bemerkt. „Ach, wirklich?“ entgegnet Mama ganz interessiert. „Ja, Jakob erzählt ganz oft von ihm. Ich würde Samuel gern einmal zu uns einladen.“ Oh nein, Mama, bitte nicht. Darauf hat Samuel absolut keine Lust. Am liebsten würde er ihr jetzt irgendein Zeichen geben. Aber zum Glück willigt Mama auch nicht sofort ein. „Gern. Ich werd' Samuel fragen.“ Dann entschuldigt sie sich, um auf Toilette zu gehen.
Während Mama auf Toilette ist, kommen zwei Polizisten zur Tür herein. Leo geht ihnen entgegen, wechselt ein paar Worte mit den beiden und zeigt auf den Tisch, unter dem Samuel sitzt. Samuel erschrickt. Sind die wegen mir hier? Für einen kurzen Moment hat er den Vorfall mit der Tasche total vergessen. Ihm stockt der Atem. Einer der Polizisten steht ganz eng am Tisch und wendet sich an Rosi. „Guten Abend. Ich würde Sie bitten, mir kurz einige Angaben zum Tathergang zu machen“, sagt er. Rosi fühlt sich geehrt. „Aber gern.“ Sie hat nicht mitbekommen, dass der Polizist glaubt, mit der Besitzerin der Tasche zu sprechen. Da kommt Mama und klärt den Fall auf. „Entschuldigung, Sie sind wegen des Vorfalls mit der Tasche hier?“ Der Polizist nickt und Mama stellt sich vor: „Mein Name ist Leonore Lennart, die Tasche, die der Mann stehlen wollte, gehört mir.“ „Verstehe“, sagt der Polizist. „Kommen Sie doch bitte nach draußen, dort können wir das in Ruhe klären.“ Samuel ist inzwischen aufgestanden. So nah ist man einem Polizisten ja auch nicht alle Tage. Mama wirft Papa einen fragenden Blick zu. Der nickt und verabschiedet sich von Harald. „Tja, das müssen wir dann das nächste Mal besprechen, ich denke, ich werde jetzt da draußen gebraucht“, sagt Papa und zeigt mit einer Kopfbewegung zur Tür. Dann holt er die Jacken vom Haken und läuft Mama hinterher, die dem Polizisten schon nach draußen gefolgt ist.
„Komisch, diese Leonore“, sagt Rosi, als Mama und Papa verschwunden sind, „naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich kann schon verstehen,