Gerhard Seifried

NarrenSprung


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der Wohnküche der Seifrieds saßen schon Rudi, mein 10 Jahre älterer Bruder, und Elfriede, die jüngere meiner beiden Schwestern. Es fehlte wie üblich Gisela, die ohne zwingenden Grund nie vor 10 Uhr aus dem Bett kroch.

      „Einen recht schönen guten Morgen, die Herrschaften.“ Diese für Schömberger Ohren ziemlich albern klingende Begrüßungsformel von Onkel Christof, dem aus Wuppertal stammenden, etwas spinnerten Mann meiner geliebten Patentante Luise, war an diesen Tagen unter den Geschwistern gerade in Mode. Denn obwohl die beiden ihr Domizil seit vielen Jahren im schönen Uberlingen am Bodensee hatten, fanden sie sich zwei-bis dreimal im Jahr für ein paar Tage oder gar Wochen in Schömberg ein, was dann jedes Mal zur Folge hatte, dass es am Frühstückstisch und auch sonst wo im Haus der Familie Seifried mit ihren immerhin sechs Personen nicht nur etwas enger, sondern auch etwas vornehmer zuging.

      „Morgen, alter Stromer“, sagte Rudi im gönnerhaften Ton des großen Bruders. Während er dabei von seinem „Schwarzwälder Bote“ erst gar nicht hochblickte, strahlte Elfriede mich an und zwinkerte zur Begrüßung kumpelhaft. Sie war seit Tagen gut drauf, weil sie sich mit ihren dreizehn Jahren mal wieder unsterblich verliebt hatte, diesmal in Willi Wuhrer, den Jüngsten aus der Sippe des Rössle-Wirtes.

      „Willi“, so hatte Elfriede unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihren wenig vertrauenswürdigen Freundinnen zugeflüstert, „Willi und ich werden heimlich in Frankreich heiraten, weil es den Franzosen nämlich egal ist, wie alt man ist, Hauptsache, du zahlst hundert Franken Traugeld.“

      Ich wusste bestens Bescheid. Erst vorgestern hatte mir Wiltrud, die Tochter des Sägereibesitzers und Elfriedes beste Freundin, scheinheilig besorgt und bestimmt auch etwas neidisch alles brühwarm erzählt, wohl auch in der Hoffnung, ich würde es bei der erstbesten Gelegenheit meinen Eltern verraten und damit weitere Alleingänge von Elfriede stoppen.

      Von wegen! Ich teilte mit Elfriede ein geräumiges Zimmer. Wir kamen bestens miteinander klar, und das sollte aus gutem Grund auch so bleiben, denn gelegentliche nächtliche Ausflüge, die über das kleine schräge Dach und die anschließende Hühnerleiter hinter dem Schlafzimmer ihren Anfang nahmen, fielen im gegenseitigen Interesse unter das gemeinsame Geheimhaltungsabkommen.

      2

      Für die Familie Seifried hatten sich die ersten Monate des laufenden Jahres 1948 gut angelassen. Von der Schömberger Sparkasse war die lang ersehnte Nachricht gekommen, dass Josef Seifrieds Beamtengehalt schon bald wieder überwiesen werde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte keiner gewusst, wovon man in der nächsten Zeit leben sollte und ob Josef Seifried überhaupt noch als Zollbeamter im Dienst war. Die Zeiten waren zwar immer noch recht lausig, es gab fast nichts zu kaufen, aber so schrecklich wie unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges, insbesondere im trostlosen Hungerjahr 1946, ging es nicht mehr zu. Als Nichtbauern hatten die Seifrieds in den zwei Jahren nach dem Krieg, in denen es ums pure Überleben ging, recht wenig zu lachen und noch weniger zu essen. Auch sie mussten sich mit Hamsterfahrten in die benachbarten Dörfer durchschlagen, und diverser Hausrat, aber auch einige der wenigen Schmuckstücke im Familienbesitz wechselten im Tausch gegen einen Sack Kartoffeln, einige Kilo Mehl oder ein paar Eier den Besitzer. Die Tauschbedingungen waren nicht immer fair, sie wurden diktiert von denen, die über das knappe Gut Lebensmittel verfügten. Am wenigsten kam meine Mutter mit dem Geschäftsgebaren einiger Bauern klar.

      „Ich weiß ja“, sagte sie, „Geschäft ist Geschäft, aber Mensch ist Mensch“, und schüttelte dazu den Kopf.

      Dass Josef Seifried ein geschickter Hufschmied war, wusste in Schömberg praktisch jeder. Als Vollwaise aufgewachsen, steckte ihn sein damaliger Vormund nach der Volksschule ohne viel Aufhebens zu einem Schmied in der Nähe von Karlsruhe in die Lehre. In jungen Jahren hatte Josef diesen Beruf so lange ausgeübt, bis der Erste Weltkrieg begann und er sich als Freiwilliger zum Kriegsdienst meldete.

      Leider gab es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Schömberg nur noch drei Pferde, alle anderen hatte die Deutsche Wehrmacht zwischen 1939 und 1943 als kriegswichtig eingezogen. Das war natürlich Pech für meinen Vater, der mit seinem erlernten Handwerksberuf in dieser schwierigen Zeit bei den Bauern kaum etwas dazuverdienen konnte.

      Eine Chance, an Lebensmittel zu kommen, bot sich unserer Familie durch Tagelöhnerarbeit bei einzelnen Bauern. Vor allem in der Erntezeit waren Arbeitskräfte knapp, und als kräftiger junger Mann Jahrgang 1929 musste mein älterer Bruder Rudi nicht lange fragen — er war in Schömberg durchweg beliebt, und jeder wusste, dass er zulangen konnte. Was er heimbrachte, konnte sich denn auch in aller Regel sehen lassen, da ließen sich die Schömberger nicht lumpen.

      Bei allem Organisationstalent, das die Beamtenfamilie Seifried in dieser Krisenzeit an den Tag legte, wäre sie trotzdem kaum über die Runden gekommen, wenn ihr nicht zuweilen nette Nachbarn ein paar Eier, einen Liter frische Kuh- oder Geißenmilch oder gar ein Stück geräucherten Speck zugesteckt hätten. Das alte Bauernhaus an der B 27, das sie in Miete bewohnten, war zwar riesig, außer einem winzigen Kräutergärtchen an der Stirnseite des Hauses bot es jedoch keine weiteren Möglichkeiten, irgendetwas Essbares anzubauen.

      Geld befand sich in der Nachkriegszeit ausreichend unter den Leuten — Hitler hatte schließlich eine Menge davon drucken lassen - leider war die alte Reichsmark aber nichts wert. Kein Bauer ließ sich dazu überreden, dafür auch nur ein paar Kartoffeln rauszurücken - es sei denn, diese waren genauso wenig wert, weil sie getrieben oder infolge der Kälte eine blaugrüne Farbe angenommen hatten und somit kaum genießbar waren. Dass man mit der alten Reichsmark so wenig anfangen konnte, empfand man in meiner Familie als doppelt schade, denn davon gab es im Haus überreichlich. Das hatte nichts mit dem Salär des Josef Seifried zu tun, das für einen Beamten im Rang eines Zollsekretärs recht bescheiden war. Nein, den Reichsmark-Segen im Hause hatten wir Onkel Christof zu verdanken. Er sammelte die gute alte Reichsmark, nicht nur die kleinen Scheine, nein, er berauschte sich auch an den großen Banknoten, die schon gegen Kriegsende und natürlich noch mehr danach günstig zu haben waren. Eine Million, zwei Millionen? Die Geldsumme, die er gegen Wertgegenstände eintauschte, konnte sich sehen lassen, und garantiert war er auf dem Papier längst ein stinkreicher Mann. Er versteckte das Geld überall, auch bei uns auf dem weitläufigen Speicher unseres Bauernhauses, und wenn man ihn fragte, was er denn damit vorhabe, dann schmunzelte er geheimnisvoll und sagte, er habe so seine Pläne. Der kleine Mann mit Nickelbrille und blauem Siegelring am rechten Mittelfinger galt als intelligent, allerdings mit kauzigem Einschlag. Man ließ ihn gewähren.

      Nicht nur als Sammler von Reichsmarknoten, auch als Tüftler und Erfinder wurde Onkel Christof auffällig. Diverse seiner Erfindungen waren sicherlich ihrer Zeit voraus oder erfuhren einfach nicht die ihnen gebührende Wertschätzung. Volle Anerkennung zollte mein Vater, ein starker Pfeifenraucher, seinerzeit allerdings der technisch perfekten, halbautomatischen Tabakblätterschneidemaschine, die Onkel Christof anlässlich eines Besuches im Sommer 1947 als fix und fertigen Prototyp mitbrachte. Nicht nur die Technik der Maschine, auch die kaufmännische Idee, die dahintersteckte, war überzeugend: Mangels anderer Beschaffungsmöglichkeiten hatten sich in der Nachkriegszeit Millionen deutscher Pfeifenraucher in ihrem Schrebergarten oder notfalls auf dem Balkon eine Mini-Tabakplantage eingerichtet. Jeder davon — allein in Schömberg waren es mehrere hundert — kam deshalb als Käufer für die Christof’sche Wundermaschine in Frage. Leider erwiesen sich derlei Spekulationen wieder einmal als blanke Theorie.

      Eine Umfrage im Testmarkt Schömberg brachte es denn auch zweifelsfrei an den Tag: Die Tabakblätterschneidemaschine von Onkel Christof war viel zu teuer. Pfeifenraucher in Schömberg schärften lieber das große Küchenmesser und schnippelten sich ihre Mixtur von Hand zurecht — „alles Banausen“, wie Onkel Christof knurrte. So ging der Prototyp dieser Monsterschneidemaschine mangels zahlungskräftiger Nachfrage zwar nie in Serie, kam aber immerhin im Hause Seifried zu Ehren und erfreute sich dort bei meinem Vater großer Beliebtheit.

      Es gäbe noch viel zu erzählen über Onkel Christofs Emsigkeit im Austüfteln bahnbrechender Erfindungen, unter anderem seine im Anschluss an einen stürmischen Wirtshausabend gemachte Erfindung einer seitenwindunempfindlichen Kopfbedeckung. Besondere Erwähnung verdient aber auf jeden Fall seine genial einfache, überaus menschenfreundliche Erfindung eines sogenannten Blähungsverhinderers.