Gerhard Seifried

NarrenSprung


Скачать книгу

in einen Luftschlitz am Holzstapel, jeder in der Höhe, die ihm behagte. Mit dem Rücken an den Stapel gelehnt und baumelnden Beinen ließ es sich gut ausruhen, und wie immer begannen alle fünf im Takt leicht zu schaukeln, vor und zurück, vor und zurück. Diesmal ging es zum ersten Mal gründlich schief. Vielleicht war der etwas mehr als 3 Meter hohe Stapel in sich instabil, vielleicht hatten wir auch das Schaukeln übertrieben: Der Stapel bekam Übergewicht, kippte nach vorn und — niemand hatte damit gerechnet, deshalb reagierten alle zu spät -begrub die komplette Flügelbande unter sich.

      „Wie schwer solche Bretter sind, weißt du erst, wenn du drunter liegst“, sagte später Alfons, der sich minutenlang nicht mehr rühren konnte und aus eigener Kraft nie mehr herausgekommen wäre.

      „Heilandsack!“ Es jammerte, schnaufte und fluchte unter dem umgestürzten Stapel. Als erster befreite sich Dieter, dem wohl noch der weiteste Sprung nach vorn gelungen war. Mit seiner Hilfe kam Bernhard frei, und jetzt ging es schnell, nacheinander wurden Gertrud und Walter, danach Alfons und ich von unserer harten Zudecke befreit. Alle massierten sich mit schmerzverzerrtem Gesicht irgendwelche hinteren Körperteile, an denen sich schnell Blutergüsse bildeten. Ich selbst hatte eine Viertelstunde lang große Schwierigkeiten mit dem Gehen, da war so ein taubes Gefühl im linken Bein. Das gab sich zwar wieder, aber dafür stellten sich Schmerzen am Rücken ein, die einfach nicht weggehen wollten und mich in den Folgetagen quälten.

      Alle schlichen bedrückt nach Hause. Wir bemühten uns, die blauen und roten Flecken daheim zu verbergen. Es war klar: Sollte sich unser Unfall erst einmal herumsprechen, wäre es das Ende des schönen Bunkerlebens auf der Sägerei. Dafür lohnte es sich schon einmal, die Zähne zusammenzubeißen.

      Inzwischen waren zehn Tage vergangen. Ich war jetzt der Meinung, die Zähne lange genug zusammengebissen zu haben. Die Rückenschmerzen wollten und wollten nicht weniger werden, im Gegenteil. Es wurde langsam Zeit, meiner Mutter davon zu erzählen. Aber halt! Auf jeden Fall musste ich noch dabei sein, wenn es die Flügelbande dem Hasen-Karle heimzahlte. Wenn das erledigt war, so dachte ich mir, wollte ich der Mutter zwar von den Rückenschmerzen, nicht jedoch von dem Unfall auf der Sägerei erzählen. Sollte sie mich dann ins Bett stecken, war das zu verschmerzen, denn die Osterferien gingen jetzt bald zu Ende.

      Der Plan, den die sechs von der Flügelbande ausgeheckt hatten, würde - natürlich immer vorausgesetzt, er funktionierte - das Ansehen und den Ruf des Hasen-Karle auf Jahre ruinieren und gleichzeitig seinen Anspruch zum Führen einer Straßenbande gewaltig in Frage stellen. Er sollte ganz einfach bis auf die Knochen blamiert werden.

      Für die Ausführung des Attentates auf unseren Erzfeind Hasen-Karle brauchte es eine neutrale dritte Person, der das Opfer vertraute. Die Wahl fiel auf seine Tante väterlicherseits, die in der Nähe des Bahnhofs gleich beim Gasthaus Plettenberg wohnte. Die Lina war knapp sechzig und ledig. Ihr Neffe Karl, der am anderen Ende des sogenannten Städtchens wohnte, besuchte seine Patentante Lina von Zeit zu Zeit, und es war allgemein bekannt, dass dabei für ihn immer etwas Brauchbares heraussprang. Auf diese gute Beziehung der beiden zueinander wollte die Flügelbande einen wesentlichen Punkt ihres Planes aufbauen.

      Schon Tage zuvor hatte Bernhard seiner älteren Schwester, die gegenüber dem Elternhaus des HasenKarle wohnte, einen rein verwandtschaftlichen Besuch abgestattet und dabei so ganz nebenbei einige wissenswerte Dinge in Erfahrung gebracht, so zum Beispiel dass der Karle zwar während der Wochentage, wie es sich gehörte, bei seinen Eltern wohnte. Am Wochenende jedoch übernachtete er fast immer in einer geräumigen Holzhütte, nur wenige Meter vom Elternhaus entfernt, in der auch ein Hasenstall untergebracht war. Der ganze Stolz des Hasen-Karle, daher auch sein Name, waren nämlich seine prächtigen, schneeweißen Angorahasen, deren Rammler weit über Schömberg hinaus bekannt und für Zuchtzwecke sehr begehrt war. Zwischen Karles Elternhaus und dem „Hasenstall“ erhob sich ein stattlicher, ständig frisch dampfender Misthaufen, dessen schiere Größe auf eine gewisse Wohlhabenheit von Karles Eltern schließen ließ.

      Bernhards Informationen waren enorm wichtig für das Gelingen des Planes, denn man konnte jetzt ins Kalkül einbeziehen, dass der Karle jede Samstagnacht in seinem Hasenstall verbrachte. Für ihn hatte das den riesigen Vorteil, dass er für seine Eltern fast unkontrollierbar war und am Wochenende problemlos nächtliche Streifzüge unternehmen konnte, ohne sich — wie die Mitglieder der Flügelbande — teilweise recht mühsam von zu Hause davonschleichen zu müssen.

      Am letzten Samstag in den Osterferien sollte das Unternehmen „Hasen-Karle“ steigen. Alle Sechs hatten sich schon Tage zuvor im Bunker einfache Masken aus Karton gebastelt, gespensterhaft schwarz-weiß bemalt, mit zwei Sehschlitzen und einem Gummizug. Die Masken — in Schömberg sagt man Larven dazu — waren meine Idee, denn „hinter so einer Larve bist du stärker, jeder respektiert dich“. Schließlich hatte ich schon

      Erfahrungen mit Larven gesammelt. Erst zwei Monate zuvor, an der Fastnacht, hatte ich als einer der wenigen Halbwüchsigen einen „Fuchswadel“ mit echter Lindenholz-Larve tragen dürfen. Der wichtigste Grund für die Maskierung war allerdings, dass wir auf jeden Fall vermeiden wollten, von irgendjemandem erkannt zu werden.

      Alle fanden sich am Samstag gegen 9 Uhr abends im Bunker ein. Walter brachte wie versprochen ein Fläschchen süßen, selbstangesetzten Holunderlikör mit. Dieter zog triumphierend ein Tütchen mit weißem Pulver aus seiner Hosentasche. Es war ein stark wirkendes Schlafpulver, etwas, was sein Vater als Inhaber der Konditorei Baier jeden Abend zum Einschlafen dringend benötigte, weil er schon in aller Frühe in der Backstube seine Geräte und Maschinen in Gang setzen musste und sich deshalb angewöhnt hatte, gegen 9 Uhr abends, wenn es überall noch lärmte, schlafen zu gehen.

      Das Schlafpulver wurde vorsichtig in die Flasche gefüllt und das Ganze gut geschüttelt.

      „Damit kannst du einen Wallach einen ganzen Tag lang ruhigstellen“, meinte Dieter sachverständig.

      Das Infamste kam aber jetzt erst. Es war ein Zettel, auf dem mit krakeliger Schrift stand: „Lieber Karle, es soll Dir schmecken. Deine Lina.“ Der Zettel wurde per Bindfaden an der Flasche befestigt und flatterte im bereits kühlen Abendwind wie eine Fahne.

      Die Flügelbande machte sich jetzt auf den Weg, wobei die Larven vorerst unter dem Hemd versteckt blieben. Es war davon auszugehen, dass Karle zu dieser Zeit noch unterwegs war, vermutlich in der Gegend des Marktplatzes, der sich bei jungen Männern großer Beliebtheit erfreute und den man in Schömberg den „Lalleplatz“ nannte. Kein Licht in der Hütte, überall äußerste Ruhe: Karle war noch nicht zu Hause, und so konnte das Fläschchen ohne Gefahr direkt vor die Tür von Karles Schlafgemach gestellt werden. Jetzt galt es nur noch zu warten. Alle sechs versteckten sich hinter einer nahen Mauer, den Hasenstall fest im Blick.

      Wir mussten lange warten. Kurz vor Mitternacht begann Bernhard, der geradezu versessen darauf war, dem Hasen-Karle eins auszuwischen, leise vor sich hin zu fluchen.

      „Ob der überhaupt noch kommt, vielleicht liegt er schon lange zu Hause im Bett, und wir sind die Deppen“, knurrte er, und alle wurden unruhig. Aber wir hatten Glück: Kurz nach Mitternacht kam der HasenKarle um die Ecke gestolpert, pinkelte noch einmal ergiebig an den Misthaufen und marschierte dann zur Tür. Die sechs hielten den Atem an und verfolgten gebannt jede Bewegung. Jawohl, er griff nach dem Fläschchen, drehte es herum, betrachtete es von allen Seiten und machte dann ein paar Schritte zurück in Richtung Straßenlaterne, um den Zettel besser lesen zu können. Heilige Mutter Gottes, war er etwa misstrauisch geworden? Nein, der Hasen-Karle schöpfte keinen Verdacht, warum sollte er auch — schließlich ließ ihm seine Tante Lina öfter mal was Gutes zukommen. Bedächtig entkorkte er das Fläschchen, roch daran, war’s wohl zufrieden und nahm zuerst einen kleinen und dann einen sehr kräftigen Schluck.

      „Das dürfte reichen“, murmelte Dieter triumphierend, ,Jetzt müssen wir nur noch zehn Minuten warten.“

      Der Hasen-Karle ging in sein „Wochenendhaus“, machte das Licht an und zog die Tür hinter sich zu. Es rumorte noch ein paar Minuten, dann tat sich absolut gar nichts mehr.

      Nach zehn Minuten setzten wir unsere Larven auf. Zuerst pirschte sich Bernhard vorsichtig an die Hütte heran. Er spähte hinein und gab den anderen das Zeichen zum Nachkommen. Durch das kleine, halbblinde Fenster bot