Gerhard Seifried

NarrenSprung


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auf dem Boden herum.

      Die Tür ließ sich ganz einfach öffnen, der Riegel innen war nicht vorgeschoben. Alle sechs huschten geräuschlos hinein und bauten sich vor dem Hasen-Kar-le auf. Testweise rüttelten sie an ihm, und für kurze Zeit riss er auch die Augen weit auf. Sie müssen ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt haben, die sechs Gestalten mit ihren angsteinflößenden Larven. Jedenfalls jammerte der Karle kurz, versuchte ansatzweise

      aufzustehen, was man natürlich zu verhindern wusste, und ergab sich dann in sein Schicksal. Seine Augenlider klapperten noch einige Male rauf und runter, dann schlief er wieder ein. In diesem Moment wusste die Flügelbande, dass sie gewonnen hatte. Buchstäblich durch die Larven hindurch konnte man erkennen, wie sich alle erleichtert angrinsten.

      „Ausgeschissen“, grunzte Bernhard, und er hob dazu den Mittelfinger seiner rechten Hand hoch.

      Jetzt kam Teil zwei des Planes. Eigentlich hatten wir vorgehabt, zuerst das Bett auf die höchste Stelle des riesigen Misthaufens zu stellen und danach mit vereinten Kräften den Karle dorthin zu schleppen. Weil es aber ein schmales leichtes Feldbett war aus dünnem Metallgestänge, ließ man den Karle gleich darauf liegen. Wir hoben das Bett samt unserem Erzfeind an den vier Ecken hoch, trugen es zur Tür hinaus, überquerten den kleinen Hof bis zum Misthaufen und setzten das Bett erst wieder ab, als die Mitte des immer noch dampfenden Misthaufens erreicht war. Am liebsten hätten wir in unseren Masken jetzt einen Freudentanz veranstaltet, zu schön war das Bild mit Bett und Karle hoch oben auf dem Misthaufen. Aber es gab noch eine letzte Kleinigkeit zu tun. Walter, der zu Hause selber Stallhasen hatte und deshalb wusste, wie man mit diesen Tieren, die ganz ordentlich zubeißen können, umzugehen hatte, schleppte nacheinander vier der schneeweißen, zappelnden Mümmelmänner mit den roten Augen am Genick herbei. Sie wurden mit einer 5 Meter langen Schnur am Bett festgebunden. Der Hasen-Karle sollte auch in dieser schwierigen Stunde mit seinen Lieblingen eng verbunden sein. Die possierlichen Tiere freuten sich offensichtlich über die neu gewonnene Freiheit und sprangen recht munter auf dem Misthaufen herum. Es war fast schon schade anzusehen, wie die Angorahasen in ganz kurzer Zeit ihre leuchtend weiße Farbe gegen das vulgär stinkende Braun des Misthaufens eintauschten.

      Wir sahen dem Treiben noch einige Minuten zu. Alles war unter Kontrolle, und Gertrud hob stolz ihren MIR hoch. Geschafft. Wir malten uns jetzt genussvoll aus, was wohl morgen früh alles hier los sein würde, wenn die Nachbarn sich zur Sonntagsmesse aufmachten und das einmalige Spektakel entdeckten. Karles Eltern hätten allen Grund, sich zu Tode zu schämen, und das mit dem Schlafen im Hasenstall wäre für Karle sicherlich zu Ende.

      Nach getaner Arbeit bewegten sich die sechs auf Schleichwegen Richtung Flügel, die Larven unter dem Hemd verstaut. Die Kirchturmuhr schlug jetzt viermal mit hellerem Ton für die ganze Stunde und danach einmal etwas stärker und dunkler. Es war 1 Uhr, auf den Straßen bewegte sich nichts mehr. Alle wuschen sich gründlich die Schuhe am Metallbrunnen vorm Café Baier, um die stinkenden, verräterischen Mistreste loszuwerden.

      Es kam so, wie ich es vorhergesehen und auch befürchtet hatte: Als ich am nächsten Morgen meiner Mutter so ganz nebenbei sagte, mein Rücken würde wehtun, ließ diese sich auf keine weiteren Diskussionen ein und bestand auf sofortiger Bettruhe. Zuvor hatte sie natürlich meine Kehrseite eingehend inspiziert und geriet angesichts der zahlreichen Blutergüsse, verursacht durch die kantigen, schweren Bretter auf der Sägerei, völlig außer Fassung.

      „Gerhard“, sagte sie streng, „das hast du doch nicht erst seit gestern. Was ist da passiert?“

      „Das war beim Spielen vor ein paar Tagen.“

      Meine Mutter würde Genaueres wissen wollen, so gut kannte ich sie. Ich musste mich jetzt entscheiden zwischen Lügen, Schwindeln oder die Wahrheit sagen. Lügen, das bedeutete die Hölle, Schwindeln war das Fegefeuer, und nur wer die Wahrheit sagt, kommt in den Himmel. So hatte es uns Dekan Lackner in der Schule erklärt.

      Ich entschied mich für Schwindeln.

      „Weißt du“, erklärte ich ihr vorsichtig, „wir waren im alten Ölschieferwerk. Da liegen Bretterstapel rum, auf einen davon bin ich geklettert. Dabei ist der Stapel umgefallen — zack lag ich unten, und auf meinem Rücken die ganzen Bretter. das hat verdammt wehgetan.“

      Ich war jetzt erleichtert, schließlich hatte ich meiner Mutter in Sachen Bretterstapel die Wahrheit gesagt, ohne den Unfallort zu verraten. Ich handelte mit meiner Mutter noch aus, dass ich vorerst nicht ins Bett musste, sondern mein Krankenlager auf dem Sofa in der Wohnstube aufschlagen durfte - vom Sofa aus konnte man zwischendurch mal zum Fenster rausgucken und sehen, was draußen so alles los war. Der Dorfarzt Fri-cker würde erst morgen vorbeischauen, um mich zu untersuchen.

      Liegen auf dem Sofa ist verdammt langweilig, vor allem wenn man an seine Freunde denkt, die bei diesem Wetter wahrscheinlich die Gegend um den Stausee herum unsicher machen und den Sieg über Hasen-Karle auskosten. Das Mittagessen musste ich liegend zu mir nehmen. Lioba hatte darauf bestanden, „so lange, bis ich weiß, was mit dem Buben los ist“.

      Erst danach versammelte sich die ganze Familie in der guten Stube, in der nur zu ganz besonderen Gelegenheiten und vor allem bei Besuch gegessen wurde. Es gab heute nur EIN Gesprächsthema, das in ganz Schömberg rasend schnell die Runde gemacht hatte: die skurrile Geschichte vom Hasen-Karle, der - so erzählte es Rudi — stockbesoffen am frühen Morgen in seinem Bett liegend von Nachbarn auf dem elterlichen Misthaufen gefunden worden war, inmitten seiner mit Kuhscheiße zugeschmierten Angorahasen, für Schömberg ein ausgewachsener Skandal. Rudi klatschte sich immer wieder vor Vergnügen auf die Schenkel, es war hier schon vieles passiert, aber das war neu, und fast musste man den armen Karle bedauern, denn so ohne weiteres wür-de sich sein Vater diese Blamage nicht bieten lassen, insbesondere nachdem der Karle selbst bisher kaum zur Aufklärung beitragen konnte und wenig glaubwürdig von geheimnisvollen maskierten Männern sprach, die ihn überfallen hätten — wer sollte denn so was schon glauben.

      Später hörte man noch, Karles Eltern hätten nach eingehendem Gespräch mit ihrem Sohn Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Es sei bereits der Ortsgendarm mit dem Fall betraut worden, wobei — so der erfahrene Polizist — die Höhe des Schadens nur schwer zu ermitteln sei.

      4

      Keine Frage: Die abenteuerlichen Eskapaden des Hasen-Karle sorgten im Dorfleben für Abwechslung, es wurde in diesen Tagen viel gelacht, auch ich und meine Freunde lachten mit und passten ansonsten auf, uns nicht durch irgendwelche Bemerkungen zu verraten. Nach und nach würde Gras über die Sache wachsen, und auch der Dorfgendarm Resch hatte auf Dauer Wichtigeres zu tun, als hinter unbekannten „maskierten“ Tätern herzulaufen. Noch einmal aufblühen, das war so gut wie sicher, würde die Dorfposse mit dem Hasen-Karle in der Titelrolle bei der nächsten Fastnacht, an der die ganze Geschichte garantiert im Narrenblättle auf der ersten Seite erscheinen würde. Denn wer sich in Schömberg im Laufe des Jahres „zum Narren gemacht hat“, taucht mitsamt seiner Tat pünktlich an Fastnacht wieder in Form von Spottversen und Reimen im „Narrenblättle“ auf und erntet Gelächter und Schadenfreude.

      Rudi hatte bei der letzten Fastnacht mit seinen Beziehungen dafür gesorgt, dass ich eines der sehr seltenen und entsprechend begehrten Narrenkleider für Halbwüchsige, einen „Fuchswadel“, am Montag, einem der beiden Haupttage der Schömberger Fastnacht, tragen durfte.

      Für die Schömberger und ihre „Fasnet“ war 1948 ein ganz besonderes Jahr. Zum ersten Mal seit acht Jahren fand endlich wieder eine richtige Fastnacht statt. Während der Kriegsjahre war dies allein deshalb schon nicht möglich, weil die Mehrzahl der Männer, wie der Schömberger Zunftschreiber resigniert feststellte, „unter die Waffen gerufen wurde“, und nach dem Krieg hatte die französische Besatzungsmacht ein generelles Versammlungsverbot erlassen. Nicht mehr als drei Personen durften auf der Straße zusammenstehen, ab 22 Uhr herrschte dazu Ausgangsverbot und in den Gastwirtschaften durfte kein Alkohol ausgeschenkt werden - wie sollte man da Fastnacht feiern?

      Einem Schömberger Narren seine Fasnet zu verbieten, so hatte es der spätere langjährige Narrenvater Emil Riedlinger auf den Punkt gebracht, heißt, ihm einen Teil seiner Seele zu rauben. Riedlinger kam Anfang 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück in seine Heimat. Gemeinsam