Gerhard Seifried

NarrenSprung


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      Zu fortgeschrittener Stunde hieß es dann wie immer: „Gerhard, spiel uns was“, und ich zog meine Hohner-Mundharmonika Marke „Unsere Lieblinge“ heraus und spielte mit viel Tremolo das Lied von Lili Marleen, so wie es Lale Andersen mit ihrer einmaligen, tiefen Stimme für Landser aller Nationalitäten gesungen hatte. Eigentlich ein sehr melancholisches Stück, aber schließlich war der Krieg noch nicht lange vorbei, und lustige Lieder hatte man in den zurückliegenden Jahren in Schömberg mit seinen vielen Gefallenen und Vermissten recht wenige gehört. Melancholisch oder nicht, alle summten mit, und dazu gab es an diesem Tag noch ein wichtiges Thema: Die Rathausbande. Es hatte mal wieder massiv Ärger mit diesen schlimmen Kerlen gegeben. Sie waren alle ein bis zwei Jahre älter als meine Freunde und ich. Ihr grobschlächtiger Anführer, der Hasen-Karle, hatte den Ruf, dass er seinen Mut am liebsten bei deutlich Schwächeren unter Beweis stellte. Und seit Wochen -dafür gab es klare Anzeichen und Beweise - ging die Stoßrichtung dieser hinterhältigen Burschen in Richtung Flügelbande. Es war klar: Auf Dauer konnte man sich in dem kleinen Städtchen, in dem sich vieles auf den Straßen beziehungsweise im Freien abspielte, nicht aus dem Weg gehen. Es würde also irgendwann kra-

      chen, und darauf musste man vorbereitet sein.

      „Ganz klar“, sagte Bernhard, dessen Worten bei so wichtigen Dingen große Bedeutung beigemessen wurde „die müssen was aufs Dach kriegen, damit ihnen die Lust an so was gründlich vergeht.“

      „So was“, das bezog sich auf den Nachmittag vor zwei Tagen. Die sechs von der Flügelbande waren im Fuchstälchen, einer bewaldeten tiefen Kerbe etwas außerhalb von Schömberg Richtung Dautmagen, „auf die Pirsch“ gegangen. In dem gar nicht so kleinen Tälchen mit seinen steil abfallenden Hängen an beiden Seiten gab es massenhaft Füchse, die sich während des Krieges, in dem sie über Jahre hinweg kaum bejagt wurden, ungestört hatten vermehren können. „Die Pirsch“ bestand darin, Fuchsbauten aufzuspüren, dann mit gewaltigem Getöse und Klappern die Füchse aus ihrem Bau herauszutreiben und zu versuchen, sie mit Lassos einzufangen

      - was natürlich nie gelang, weil sich die mächtig flinken Füchse jedes Mal blitzschnell aus dem Staub machten. Dass es nie klappte war egal, Hauptsache, man hatte wenigstens einen Fuchs gescheucht und seinen Spaß gehabt. Natürlich war es verboten, auf diese Weise „auf Fuchsjagd“ zu gehen. Genaugenommen war es wohl das, was am meisten daran reizte.

      An jenem Nachmittag im Fuchstälchen zischten plötzlich kleine Steine wie Geschosse durch die Luft. Das Geräusch war allen nur zu gut bekannt, das waren Steinschleudern. Alle stoben auseinander. Die kleinen, enorm schnellen Kiesel waren verdammt gefährlich. Ein hämisches Lachen, am Steilhang im Gebüsch knackten Äste, und man konnte noch einige Gestalten verschwinden sehen. Keine Frage, die Rathausbande hatte feige aus sicherem Hinterhalt zugeschlagen, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Bernhard hatte es erwischt. Er saß benommen auf dem Boden, die Hand seitlich am Kopf, und zwischen den Fingern rieselte Blut herunter. Die Platzwunde seitlich an der Schläfe war nicht zu übersehen.

      Alle stimmten Bernhard zu, dass etwas geschehen müsse.

      „Auf eine Prügelei können wir es nicht ankommen lassen“, meinte Walter. „Die sind in der Überzahl, und Schwächlinge sind das auch nicht.“

      „Man könnte versuchen, sie einzeln zu erwischen, einen nach dem anderen, dann haben die erst mal genug.“ Bernhard hatte einen Sinn für praktische Lösungen.

      „Das schaffen wir bei einem oder, wenn’s gut geht, auch bei zwei. Von da an sind sie gewarnt und lassen sich nur noch zusammen blicken.“ Alle gaben Dieter recht, schließlich hatte er auch Geburtstag.

      Bei dem Gedanken, dass die komplette Rathausbande plötzlich vor ihrem Bunker auftauchen könnte, war es allen doch mulmig geworden. Unwillkürlich schaute jeder durch die schmalen Sehschlitze zwischen den einzelnen Holzdielen des Bunkers. Gott sei Dank, nichts zu bemerken. Trotzdem, ab sofort würde man leiser

      sein, man konnte ja nie wissen.

      „Gertrud, was meinst du, wie hätten deine Freunde in Ostpreußen das gemacht?“, wollte ich jetzt wissen.

      Gertrud hatte die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn dagesessen. Sie bewegte unaufhörlich ihren MIR in der linken Hand und blickte voll konzentriert.

      „Die Leute bei uns sagen: ,Einer Schlange muss man den Kopf abschlagen.‘ Der Kopf, das ist der Hasen-Kar-le. Den müssen wir schaffen, dann haben wir gewonnen. Die anderen allein machen gar nichts mehr.“

      Alle dachten ein Weilchen nach. Was von Gertrud kam, hatte Hand und Fuß. Jetzt musste man sich nur noch die Einzelheiten ausdenken, dann war der Krieg oder zumindest die Schlacht gewonnen. Es kam wieder, Gertrud sei‘s gedankt, Stimmung im Bunker auf. Über die Einzelheiten, wie man diesen Hasenmelker ausschalten könnte, wurde man sich noch am gleichen Abend einig. Das war genau zu dem Zeitpunkt, als Bernhard, immer noch mit Pflaster am Kopf, die zweite Flasche Most an den Mund setzte und den Rest mit einem mächtigen Zug leerte. Danach hatten wir allerdings recht viel Mühe, ihn aus dem Bunker herauszuhieven, und auch auf dem kurzen Weg zu seinem Elternhaus mussten Walter und Dieter den stark Schwankenden links und rechts stützen. Die beiden hörten noch, wie Bernhard von seiner Mutter mit lautem Gezeter in Empfang genommen wurde. Danach galt er zwei Tage als verschollen.

      Die Schmerzen am Rücken waren immer noch da, die meiste Zeit gleichmäßig ziehend, manchmal auch penetrant bohrend. Es war jetzt genau eine Woche her, seit ich das Kruzifix am Himmel erblickt hatte, ich schaute immer mal wieder nach oben, so als könne es sich noch einmal zeigen. Aber offensichtlich hatte der Himmel das Kruzifix für immer verschluckt, und das war ja auch nur logisch, denn - so sagte ich mir - irgendwie gehörte es ja auch dorthin. Wer weiß, wie ich auf den Gedanken gekommen war, aber seit einiger Zeit hatte ich die fixe Idee, das Kreuz am Himmel sei für meine Schmerzen am Rücken irgendwie verantwortlich. Ein Kruzifix, das wusste ich natürlich aus dem Pfarrunter-richt des Dekan Lackner, hatte mit den Schmerzen Jesu zu tun, und weil ich offensichtlich der einzige war, der das Kruzifix gesehen hatte, war womöglich ein Teil der Schmerzen in dem Moment auf mich heruntergefallen, als das Kreuz wieder vom Himmel aufgesogen wurde. Jesus, Maria und Josef, das wäre immerhin eine Erklärung für meine Rückenschmerzen, und ich hatte sogleich fromme Märtyrer wie zum Beispiel den Heiligen Sebastian vor Augen, der als eine vielfach von Pfeilen durchbohrte Figur in der Schömberger Kirche rechts vorn am Altar stand und mild auf die Schömberger Sünder herabblickte. So ein bisschen fühlte ich mich in der Rolle eines Heiligen und Märtyrers schon geschmeichelt, meine Mutter Lioba hätte nicht schlecht gestaunt, und vielleicht wäre sie sogar stolz auf mich gewesen. In derlei tiefgründige Gedanken versunken, saß ich auf der niederen steinernen Gartenmauer an der Stirnseite des elterlichen Hauses in der Rottweiler Straße, der Nachbar Lander marschierte gerade mit seinem Fuhrwerk vorbei, seitlich hinter seiner als Zugpferd dienenden Kuh, gut gelaunt mit der Peitsche fuchtelnd. Auf dem vierrädrigen Leiterwagen saß mit baumelnden Beinen sein Weib neben einem riesigen Krug Most und dem Korb mit sicher ebenso üppigem Vesper und lachte breit und zufrieden. Schließlich war Frühling und herrliches Wetter dazu. Die Feldarbeit war nach dem langen harten Winter endlich wieder in die Gänge gekommen, und eigentlich - dachte ich mir - war dies so überhaupt nicht die Zeit für Märtyrer. Ich hatte ein paar herrliche Ferientage hinter mir. Für Jungen und Mädchen in meinem Alter, die man in Schömberg noch nicht für richtige Arbeiten heranholte, war das Leben hier fast wie im Paradies. Was konnte es Schöneres geben, als mit Freunden im Städtchen herumzustreifen, vom Viadukt aus in den Stausee zu pinkeln und sich verbotenerweise auf der Sägerei herumzutreiben.

      Dass es dort nicht ungefährlich zuging, hatte ich allerdings erst wenige Tage zuvor am eigenen Leib erfahren. Zwei Tage bevor ich das Kruzifix erblickt hatte, stromerte die ganze Flügelbande wieder einmal auf der Sägerei herum. Es war Sonntag, man musste also nicht befürchten, von Arbeitern entdeckt zu werden. Wir hatten eine der alten schweren Eisenloren flottge-macht und aufs Gleis gesetzt, das als Transportlinie zum Ausgang hin diente. Damit rollten wir stundenlang die 50 Meter bis zur ersten Stellweiche, immer wieder hin und zurück, mit wechselnder Besatzung und teilweise in strammem Tempo. Schön war’s, allerdings musste man höllisch aufpassen, nicht einen Fuß unter die frei laufenden Räder aus massivem Eisen zu bekommen.

      Gegen