Gerhard Seifried

NarrenSprung


Скачать книгу

Das war alles andere als leicht. Emil Riedlinger musste dafür zur gefürchteten Sûreté, der französischen Sicherheitspolizei nach Balingen gehen und dort um Erlaubnis bitten. Vom zuständigen Kommandanten Coderc wurde ihm damals beschieden, er möge doch lieber Blumen auf die Gräber der nahegelegenen KZ-Friedhöfe legen statt Fastnacht zu feiern -eine Entscheidung, gegen die nur schwer anzukommen war. Die Schömberger riskierten damals trotzdem ihren Narrensprung, am Fastnachtsmontag zunächst noch ohne Larven, am Dienstag dann mutig, in voller Montur und immer in dem Bewusstsein, in den nächsten Minuten verhaftet werden zu können. Vielleicht haben die Franzosen das Narrentreiben damals einfach ignoriert, vielleicht war Kommandant Coderc aber auch von der Schömberger Polonaise, dem großen Tanz der Narren auf dem Marktplatz, so beeindruckt, dass er seine Leute zurückhielt.

      Obwohl das Versammlungsverbot auch 1947 noch Gültigkeit hatte, ließen sich die Schömberger jetzt nicht mehr bremsen und wurden in Sachen Fastnacht noch mutiger. Ganz Schömberg atmete auf, als 1948 die Fastnacht offiziell wieder nach altem Brauch und ohne alle Einschränkungen gefeiert werden durfte.

      In dem beschaulich-kleinen Städtchen Schömberg am Fuß des Plettenberges ist das ganze Jahr über wenig los. Die meisten Bewohner sind sogenannte Nebenerwerbslandwirte, also fleißige Leute, die gleich zwei Tätigkeiten ausüben. Zum einen sind sie Bauern mit wenigen, verstreut im Umfeld des Städtchens liegenden Feldern, einigen Kühen, ein paar Schweinen und Hühnern und ganz selten einem Pferd. Zum anderen verdienen sie ihr Geld entweder in einem der kleinen Gewerbebetriebe, von denen es in Schömberg und Umgebung einige gibt, zum Beispiel Sägereien, eine Fabrik für Lederbekleidung, drei Trikotagenfabriken, oder in dem nahegelegenen großen Zementwerk Dotternhausen. Manche arbeiten zusätzlich zu ihrem bäuerlichen Betrieb auch als Maurer, Malermeister, Schreiner oder Elektriker.

      Und noch eine weitere sympathische Eigenschaft zeichnet die Leute von Schömberg aus: Sie sind gesellig, schwätzen gern mit- und übereinander, und gute Nachbarn treffen sich abends oft „zu Licht“, wie sie es nennen, das heißt sie besuchen sich bei Einbruch der Dämmerung und setzen sich in der guten Stube gemütlich zusammen.

      „Josef, wo hast du deinen Selbstgebrannten versteckt?“, neckt dann irgendwann der Nachbar zu vorgerückter Stunde, und das ist das Signal, dass der Abend zunehmend lustiger wird und sich noch weit in den frühen Morgen hineinziehen kann.

      Ja, und dann gibt’s zur Abwechslung die Schömberger Fastnacht, die es jedes Jahr Ende Februar fertigbekommt, das betuliche Städtchen für einige wenige Tage radikal auf den Kopf zu stellen.

      Fastnachtsmontag und -dienstag sind die beiden Haupttage der Schömberger Fasnet. Es ist kaum vorstellbar, dass ein echter Schömberger an diesen Tagen arbeitet. Der erste Ton des Narrenmarsches wirkt wie der Kuss der Königstochter im Märchen vom Froschkönig - schlagartig findet eine wundersame Mutation statt, jeder Schömberger im Besitz eines Narrenkleides wird zu Prinz oder Prinzessin, und wenn sich dann an Fastnacht zum ersten Mal die Narren in ihrer überwältigend bunten Schar über den Marktplatz ergießen, ist das auch ein Zeichen dafür, dass wieder einmal die bunten, närrischen Lichtgestalten der schwäbisch-alemannischen Fasnet über winterliche Finsternis gesiegt haben.

      Schon Monate zuvor, eigentlich das ganze Jahr über, sehnen die Schömberger ihr irdisches Paradies herbei, das sie „Fasnet“ nennen. Auch ich fieberte 1948 dem Fastnachtsmontag entgegen, meinem großen Tag, an dem ich den Fuchswadel mit der glänzenden, kunstvoll geschnitzten Maske aus Lindenholz anlegen durfte, mit einem „Kleid“ aus weißem Leinen, kunstvoll bemalt mit Motiven aus einer anderen Welt, dazu vier Lederriemen mit runden, eisernen Glocken.

      Erst an Fastnachtssonntag gegen Abend war es mir erlaubt, den „Narren“ bei Familie Kiene abzuholen, einer der wenigen Familien, die in Schömberg im Besitz von gleich mehreren Narrenkleidern waren und diese gelegentlich an befreundete Personen ausliehen — selbstverständlich ohne Geld, das ist Ehrensache, aber mit dem heiligen Versprechen, das „Kleidle“ gut zu behandeln und zum festgelegten Termin wieder unbeschadet abzuliefern.

      „Ja Gerhard, kannst du denn schon jucka?“ fragte mich Mutter Kiene. Sie blickte mich dabei halb streng, halb schelmisch-lächelnd an und streichelte mit einer zärtlichen Bewegung über das auf dem Tisch ausgebreitete Narrengewand. „Jucka“ ist das schwäbische Wort für „springen“, denn beim Schömberger Narrentanz wird gesprungen. Große Trommel — linker Fuß, so lautet die Regel, und dabei wird jeder zweite Sprung verzögert ausgeführt. Gar keine so einfache Sache, weil Schöm-berger Narren immer in Dreier- oder Viererreihen zum Narrensprung antreten, und wenn einer aus der Reihe tanzt, also das „Jucka“ nicht beherrscht, sieht das wenig schön aus und ist ärgerlich für alle. Zwar gibt es eine „Beschreibung“, wie sich Teilnehmer des Narrensprungs zu bewegen haben, wer sich aber als Neuling danach richtet, ist arm dran und bringt, wenn es so weit ist, garantiert überhaupt nichts zustande: „Aufjede erste und dritte Zählzeit des Taktes springt man zuerst auf den linken und dann auf den rechten Fuß. In der jeweils zweiten und vierten Zählzeit des Viervierteltaktes wird der jeweils andere Fuß nach vorne gebracht, um dann wieder auf die erste beziehungsweise dritte Zählzeit aufgesetzt werden zu können. Jeweils die zweite und vierte Zählzeit wird auf dem Standbein nachgefedert.“

      „Der Rudi hat es mir gezeigt, der ist Zwanziger und muss das ja wissen“, antwortete ich mit fester Stimme. Jetzt nur nichts Falsches sagen.

      Lisa Kiene wusste natürlich um die Vereinbarung, die ihr Mann im Gasthaus Traube schon vor einiger Zeit mit Rudi getroffen hatte, und schließlich hatte sich mein großer Bruder diese Zusage auch mit zwei Krügen Bier erkaufen müssen. Und trotzdem: Sie machte vorerst keine Anstalten, den Fuchswadel an mich rauszurücken, und streichelte weiterhin sachte über die glänzende Larve, die metallisch-grauen Glocken und das weiße Leinen.

      „Dass der Rudi jucka kann, will ich schon glauben, schließlich springt er als Zwanziger in der ersten Reihe. Es ist mir aber wichtig, dass du das auch kannst, denn dieser Fuchswadel wird normalerweise von unserem Dieter getragen, jeder im Städtchen weiß das, und wenn du falsch juckst, denken alle, es wär der Dieter.“

      Aha, dachte ich, das ist es also. Sie hat Angst, sie könnte sich blamieren.

      „Der Rudi hat gesagt, der Karl und der Otto werden mich in die Mitte nehmen und aufpassen, dass ich im richtigen Takt juck.“

      Mutter Kiene war es jetzt zufrieden. Sie legte den Narren sorgfältig zusammen, so dass er in einen stabilen Karton passte.

      „Morgen Abend um 8 Uhr brauche ich den Fuchs-wadel wieder, das weißt du“, sagte sie noch streng und schickte mich mit den besten Grüßen an Lioba und Josef nach Hause.

      In dieser Nacht konnte ich vor lauter Angst, den ersten Narrensprung in meinem Leben zu verpassen, fast nicht schlafen. Es war 6 Uhr 30, als ich es im Bett nicht mehr aushielt und mich leise ins Wohnzimmer zu dem Fuchswadel schlich. Er lag ausgepackt auf dem Tisch, und ich startete langsam die Prozedur des Ankleidens.

      Ich hatte dafür alle Zeit dieser Welt. Zuerst das ungewohnte weiße Hemd, das mir Lioba sorgfältig gebügelt hingelegt hatte. Danach die weite weiße Leinenhose mit aufgemalten bunten Figuren und breiten Hosenträgern. Ich war größer als Dieter, der Jüngste aus der KieneFamilie und entschloss mich deshalb, die Hosenträger um ein paar Zentimeter länger zu machen. Jetzt passte die Pluderhose besser. Als nächstes die Leinenjacke, bemalt mit seltsamen Tieren, zum Beispiel einem Pferd mit riesigem, gedrehten Horn.

      Die Larve des Fuchswadel war glatt poliert. Sie lächelte mich freundlich an. Ich überlegte, ob das Gesicht zu einem Jungen oder Mädchen gehörte. Ich hätte es nicht sagen können. Als Kopfschmuck und zugleich Abschluss der hölzernen Larve wurde das geschlechtslose Gesicht von einem Haarkranz aus Hanf umrahmt, verziert mit bunten Perlen, Stoffröschen und kleinen, rautenförmig zugeschnittenen Spiegelstückchen auf beiden Seiten.

      Bevor ich die Lindenholz-Larve aufsetzte, legte ich mir noch die vier Lederriemen mit jeweils drei eisernen Schellen um die Schultern — zwei links, zwei rechts. Jetzt nur noch die weißen Handschuhe. Fertig.

      Die Larve mit den engen Sehschlitzen war gewöhnungsbedürftig.

      Ich fasste die Holzmaske am Kinn und klappte sie nach hinten — so wie es