Gerhard Seifried

NarrenSprung


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tief, meine Augen waren dann nicht mehr auf Höhe der Sehschlitze. Verdammt, damit kam ich auf Dauer nicht zurecht. Wahrscheinlich hatte der junge Kiene, obwohl ein Jahr jünger, einen dickeren Kopf. Für mich blieb Gott sei Dank immer noch genügend Zeit, das Problem zu lösen. Es war jetzt 7 Uhr 20. Leise schlich ich in dem Flur zur Garderobe, fand dort auf der Ablage meine Wollmütze und zog sie über den Kopf. Perfekt, die Larve saß genau richtig, und außerdem fühlte sich meine Kopfbedeckung jetzt viel weicher an.

      7 Uhr 40. Ich schaute immer noch aus dem Fenster. Auf der Flügelstraße, gerade vor dem Haus der Sei-frieds, ist am Fastnachtsmontag Treffpunkt der Narren. Es hatte angefangen zu schneien, und aus dem wie in Watte gepackten Licht, das die winterliche Dämmerung mit einer Mischung aus Schneetreiben, kalter Luft und feuchtem Nebel bildete, tauchten zunächst schemenhaft, dann mit festeren Konturen und gedämpften Farben die ersten Narren auf, begleitet vom Klingen ihrer eisernen Glocken — eine geheimnisvolle, verschworene Gemeinschaft.

      Jetzt war es Zeit, sich unter die Narren zu mischen. Ich gehörte dazu. In Schömberg kennt jeder jeden, es bilden sich überall kleine Grüppchen. Alle haben jetzt noch die Larven zurückgeklappt, beim Reden bilden sich weiße Wölkchen. Einige Narren sind noch verkatert von der vergangenen Nacht, aber jeder weiß auch, dass dieses Gefühl schnell verschwindet. Auch mein großer Bruder Rudi, der in unserem Haus ein separates Zimmer im Erdgeschoss bewohnt, ist mit seinem Narrenkleid inzwischen eingetroffen. Um 8 Uhr ist die Flügelstraße proppenvoll mit Narren. Niemand, der in Schömberg ein Narrenkleid besitzt, versäumt diese Minuten. 8 Uhr 10. Es schneit stärker, aber gleichzeitig wird es heller. Schnee gehört zur Fasnet wie der Plettenberg zu Schömberg. Die Narren lachen und scherzen und sind bestens gelaunt. Schlagartig werden jetzt die Larven über das Gesicht gezogen, und pünktlich um 8 Uhr 11 setzt sich der imposante Zug in Viererreihen in Bewegung. Ich habe einen Moment lang das Gefühl eines heillosen Durcheinanders, mit ihren Larven sehen alle plötzlich gleich aus, einige Sekunden lang weiß ich nicht, was ich machen soll, aber da greifen schon rechts und links zwei kräftige Hände zu, und ich bin mitten drin im Zug.

      „Beim Jucka immer auf den Vordermann schauen“, hatte mir noch mein Nachbar zugerufen. Das war ein guter Tipp, denn dieser erste Teil des Narrensprungs muss ganz ohne Musik auskommen, lediglich der Klang der Schellen gibt den Takt an. Es sind keine Zuschauer zu sehen, die Schömberger Narren zelebrieren am Montagmorgen den ersten Teil ihres Narrensprungs für sich allein. Ich reihe mich ganz selbstverständlich in das befreiende, schweißtreibende Springen der Narren ein und passe mich ihrem eigenartigen Rhythmus an.

      Auf dem Marktplatz werden die Narren schon von der Stadtkapelle erwartet. Sobald die ersten auf den Platz einbiegen, hebt der Kapellmeister den Taktstock und begrüßt die bunte tanzende Schar mit dem ersten Narrenmarsch des Tages.

      Mit Musikbegleitung geht jetzt der morgendliche Narrensprung auf Höhe des Rathauses zunächst einmal zu Ende. Die Narren verstreuen sich, haben viel Durst und füllen die Schömberger Gaststätten oder schauen bei alten Bekannten rein, die auf den närrischen Besuch bestens vorbereitet sind. Ich läute bei Pius und Mina Seifriz, guten Freunden unserer Familie, die im Schömberger Zentrum ein altes Bauernhaus bewohnen. Unser Zuhause, das große Bauernhaus „Auf dem Flügel“, gehört ihnen. Ein kräftiger Schluck Most schmeckt köstlich, dazu ein Stück Schwarzbrot, belegt mit schönem durchwachsenen Speck. Wie üblich bei solchen gastlichen Häusern, drängen sich nach und nach noch weitere Narren in die kleine Stube, und der bekannt gute Most von Pius wird stark dezimiert.

      Für Schömberger Narren bleibt nicht viel Zeit zum Ausruhen. Nach dem Narrensprung vom Morgen heißt es jetzt Aufstellen für das Narrenlied, mit dem der sogenannte Reigen begleitet wird. Das Narrenlied wird an der ganzen Fastnacht nur einmal gespielt. Keiner weiß, wer es getextet oder komponiert hat, aber jedem geht es ganz tief unter die Haut. Wer zu dem Schöm-berger Narrenlied den Reigen getanzt und unter der Larve mitgesungen hat, kann die Melodie niemals wieder vergessen. „Hätten wir dieses Lied nicht“, sagen die Schömberger, „wäre die Fasnet um vieles ärmer.“ Und mitten im Jahr, wenn die nächste Fastnacht schon wieder etwas näher kommt, denken viele Schömberger bereits wieder an ihr Narrenlied, das nur ihnen gehört, und dessen feierlich getragene, von der Stadtkapelle intonierte Melodie ihnen Glücksgefühle beschert:

       Jetzt kommt die längst gewünschte Stunde,

       sie kommt und kehret bei uns ein.

       Die Narren all, vom ganzen Städtchen,

       die stellen sich zum Feste ein.

       Ja, heut beginnt das Narrenleben,

       das allen Bürgern wohl gefällt.

       Es kann fürwahr nichts Schön’res geben,

       wohl auf der ganzen weiten Welt.

       Die Narren wollen heut nur pflegen

       den echten närrischen Humor.

       Drum wer an so was Freude findet,

       der leiht der Narretei sein Ohr.

       Die zwei Husaren halten Ordnung,

       und das ist ihre strenge Pflicht;

       springen umher mit den Gewehren,

       jedoch die Mädchen fürchten’s nicht.

       Der alte Harzer mit der Glocke

       macht so ein pfiffiges Gesicht.

       Erfreut sich wie ein junger Knabe

       und schämt sich seines Alters nicht.

       Ihr Narren all vom ganzen Städtchen,

       zum Feste Ihr erschienen seid!

       Drum rufet laut aus frohem Herzen

       ein „Hoch" auf Schömbergs Narrenzeit.

      Wenn ein Schömberger in sein Narrenkleid schlüpft, ist das weit mehr als nur eine Kostümierung. Unter der Larve passiert etwas Geheimnisvolles, eine neue Identität wird angenommen, eine, mit der man sich freier und besser fühlt. Ob dieser Brauch auf uralte heidnische Rituale zurückgeht oder ob einfach nur ein früheres Privileg des Adels übernommen wurde, ist von Historikern nicht eindeutig geklärt. Jedenfalls wurden schon an mittelalterlichen Höfen ausgelassene Narrenfeste gefeiert. Später haben die Bürger diesen Brauch übernommen mit der Absicht, sich vor der strengen Fastenzeit noch einmal kräftig auszuleben. Es ist auch kein Zufall, dass fast alle Larven ein Doppelkinn haben: Man wollte so wohlgenährt aussehen wie der Fürst. Und ganz nebenbei hatte man früher an der Fasnet die einmalige Gelegenheit, einem beliebigen Oberen gehörig die Meinung zu sagen, ohne gleich Kopf und Kragen zu riskieren.

      An derartigen geschichtlichen Betrachtungen war ich an diesem Fastnachtsmontag wenig interessiert. Ich fühlte mich grenzenlos glücklich, war Teil einer großen, übermütigen Gruppe und spürte die bewundernden Blicke meiner Alterskameraden, die nach und nach auch in den Gaststätten auftauchten und meine Nähe suchten. Jetzt, am späten Vormittag, leerten sich innerhalb weniger Minuten die Gaststätten und alles strebte dem Marktplatz zu, um einen weiteren Höhepunkt der Schömberger Fasnet mitzufeiern: die Polonaise.

      Dreimal während der närrischen Tage, immer wenn die Polonaise getanzt wird, verwandelt sich der Marktplatz zum Epizentrum der Schömberger Fasnet. In strenger Formation trifft die bunte Schar der Fuchs-wadel und der majestätischen Fransenkleidle auf dem Marktplatz ein und tanzt eine echte Polonaise, so wie sie früher an französischen Höfen üblich war. Kein Larventräger versäumt den großen Narrentanz, zu den Klängen des Narrenmarsches jucken alle in ihrem eigenartigen Schrittrhythmus mehr als eine Stunde lang, unter der Larve rinnt der Schweiß in Strömen, es ist stickig, die Außenwelt, reduziert auf zwei Sehschlitze, verliert an Realität. Für Zuschauer ist es ein überwältigendes,