Gerhard Seifried

NarrenSprung


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dazu Dieter und Alfons und die blonde Gertrud, das Flüchtlingsmädchen, das seit letztem Sommer dazugehörte.

      Gertrud war hübsch, mit gelbblonden Haaren, die schon von weitem leuchteten wie ein Weizenfeld im Sommer. Ich war insgeheim ein bisschen verliebt in sie. Selbst ihre Bewegungen waren irgendwie anders als bei den beileibe nicht hässlichen Schömberger Mädchen. Wenn man Gertrud anblickte, dann sah man zuallererst ihre großen blauen Augen. Sie zählte mit ihrer Mutter zu den sogenannten Einquartierungen, die 1945 und vor allem 1946, gleich nach dem Krieg, über Monate hinweg die Schömberger ganz schön auf Trab hielten. Einquartiert wurden ganze Familien, aber auch Einzelpersonen, die der Vormarsch der Roten Armee aus den deutschen Ostgebieten, vor allem aus Ostpreußen, vertrieben hatte. Für die Schömberger waren es eben „Flüchtlinge“, und dieses Wort hatte damals keinen guten Klang und bedeutete so etwas wie ein notwendiges Übel. Hinter vorgehaltener Hand sprachen die Leute schon auch mal von „Polacken“, die einem der verlorene Krieg beschert hatte, und das war natürlich gar nicht nett, denn diese Menschen — man sah es ihnen an -hatten eine schlimme Zeit hinter sich, und selbst die Kinder der Flüchtlinge hatten in den wenigen Monaten ihrer Vertreibung und Flucht zweifellos mehr mit ansehen und durchmachen müssen, als dies normalerweise einem Bewohner von Schömberg in seinem ganzen Leben passieren konnte.

      Der Unmut in Schömberg rührte auch daher, dass bei Einquartierungen keinesfalls darauf gewartet wurde, ob sich etwa Besitzer von Häusern freiwillig meldeten, um Platz zur Verfügung zu stellen, nein, die Flüchtlinge wurden mir nichts dir nichts zwangseinquartiert, das heißt, das Gemeindeamt legte nach kaum nachvollziehbaren Regeln fest, wer in seinem Haus enger zusammenzurücken hatte für einen oder mehrere „Ostpreußen“. Es war eine vorübergehende Notmaßnahme, wie es hieß, ein sogenanntes Provisorium, und manche Schömberger mussten erfahren, wie lange so ein Provisorium tatsächlich dauern kann.

      Gertrud gehörte zu den Flüchtlingen, denen es besonders schwerfiel, sich in Schömberg zurechtzufinden. Sie redete anfangs kaum und bewegte sich auch in der Schule so unauffällig, dass man sie fast gar nicht wahrnahm. „Ach ja, dat Kind hat ne janze Menge mitje-macht“, pflegte Gertruds Mutter zu sagen und zog ihr Töchterchen an sich.

      Einige der Flüchtlinge verschwanden schon bald wieder, andere blieben länger, und ganz wenige wurden in Schömberg sesshaft und erlangten mit der Zeit Anerkennung. Es wurde ihnen dafür mehr Fleiß, Leistung und Standvermögen abverlangt, als dies bei den Einheimischen üblich war. Die fremde Sprache verlor sich allerdings nie ganz, und genau genommen blieb ein Flüchtling in Schömberg immer ein Flüchtling.

      Gertrud und ihre Mutter blieben da. Die Mutter war fleißig, sie konnte gut nähen und fand eine Dauerbeschäftigung beim „Rager“, in der Trikotagenfabrik. Gertrud taute so nach und nach etwas auf, insbesondere nachdem sie mit ihrer Mutter Anfang 1948 eine eigene kleine Etagenwohnung auf dem Flügel bezogen hatte. Ein typisches Schömberger Mädchen wollte sie aber offensichtlich nicht sein, vielleicht fand sie auch nur nicht die passenden Freundinnen. Irgendwann im Sommer 1947 jedenfalls begann sie, ihr Interesse für die in etwa gleichaltrigen Jungen von der Flügelbande zu zeigen, vielleicht deshalb, weil sie deren raue Spiele und Drang nach Abenteuern mehr schätzte als Puppenspielen und Häkeln.

      Zunächst wurde Gertrud ganz einfach ignoriert, wenn sie anscheinend gelangweilt und immer etwas unbeteiligt da auftauchte, wo sich auch die Flügelbande gerade aufhielt. Irgendwann hatten es die Jungen aber satt. Sie fürchteten, Gertrud könnte zum Beispiel herausfinden, dass sie sich sehr häufig in ihrem Bunker auf der Sägerei aufhielten - was verboten war -, dass sie sich sogar manchmal nachts trafen und heimlich rauchten und einiges mehr unternahmen, was nur sie etwas anging. „Man könnte sie einfangen und im Bunker martern,“ regte Walter an. Obwohl das natürlich eine verlockende Aussicht war, trauten sich die Jungen das ganz einfach nicht, weil Gertruds flotte Mutter inzwischen mit dem Xaver Faulhaber liiert war, der als recht jähzornig galt, und man schließlich nicht wissen konnte, wie er darauf reagierte, wenn das Töchterchen seiner Freundin zerzaust und heulend daheim auftauchen und Schauergeschichten erzählen würde.

      Gertrud war zäh, und deshalb erreichte sie irgendwann, was sie wollte. Vielleicht hing es ja auch mit ihrem MIR zusammen. So nannte Gertrud den sehr schönen, etwa 4 Zentimeter breiten, flach geformten Rosenquarz-Halbedelstein, den sie immer, nahezu unsichtbar in die linke Hand geschmiegt, bei sich trug.

      Wenn man sie nach dem MIR fragte, antwortete sie etwas einsilbig, dies sei ein ganz besonderer, schon viele Millionen Jahre alter Stein, den sie von ihrem im Russlandfeldzug vermissten Vater erhalten habe. Er würde ihr bei allem helfen, was auch immer passiere, und außerdem besitze ihr Vater den gleichen Stein, so dass sie auf diese Weise immer mit ihm verbunden sei. Wahrscheinlich hatte der MIR auch dafür gesorgt, dass Bernhard ihr an einem Nachmittag so ganz nebenbei erzählte, dass Mitglied der Flügelbande nur werden könne, wer in aufrechter Position in der Lage sei, mindestens zwei Meter weit zu pinkeln. Jedes andere Schömberger Mädchen hätte sich in dieser Situation kichernd aus dem Staub gemacht, nicht Gertrud.

      „Mal sehen“, sagte sie kurz und trottete Bernhard hinterher.

      Wir anderen hatten gegen diese Aufnahmeprüfung nichts einzuwenden, es wurde sofort ein geeigneter Platz auf der Sägerei ausgesucht. Gertrud pinkelte. Sie stellte sich dabei auf einen Bretterstapel, schob das Becken vor, drückte dann mit dem linken Zeigefinger (Gertrud war Linkshänderin) auf einen bestimmten Punkt zwischen den Beinen und - ssst - ein dünner Strahl schoss durch die Luft. Walter maß sofort nach - heilige Mutter Gottes, sie hatte trotz anatomischer Benachteiligung die zwei Meter geschafft. Na gut, das mit dem Bretterstapel war etwas geschummelt, aber alle waren sehr beeindruckt von der Vorstellung. Gertrud gehörte ab sofort dazu. Schließlich hatte eine weibliche Spielgefährtin im bigotten Schömberg auch Vorteile, man konnte sich mit einem gelegentlichen Blick unter Gertruds großen geblümten Rock von der weiblichen Anatomie einen Eindruck verschaffen, und in dieser Hinsicht zeigte sich das neue Bandenmitglied auch durchaus großzügig.

      Der Bunker auf der alten Sägerei war der Ort, an dem sich die Flügelbande fast jeden Tag einmal traf. Man fühlte sich dort unbeobachtet und sicher und einfach gut. Mehr durch Zufall, bei einem unserer Streifzüge über das ausgedehnte Gelände der Sägerei, hatten wir den Bunker entdeckt. Natürlich war es kein echter Bunker aus Beton, denn auf der Sägerei - wie hätte das auch anders sein können - gab es nur Holz, dies aber in riesigen Mengen, das meiste davon als breite, 5 bis 10 Zentimeter dicke Holzscheiben, bis zu 3 Meter hoch gestapelt. Am äußersten Ende des Sägereigeländes, da, wo es sehr eng zuging und Holzstapel neben Holzstapel zum Austrocknen gelagert waren, hatten die Arbeiter wahrscheinlich aus Versehen vier der Stapel jeweils so im rechten Winkel zueinander gestellt, dass sich ein viereckiger Turm ergab mit fast 3 Meter hohen und etwa 70 Zentimeter dicken Holzmauern und einem recht geräumigen Innenraum von etwa 4 mal 4 Metern. Für uns war es „der Bunker“. Wir hatten sofort erkannt, was man alles damit anfangen konnte, und machten den Bunker „bewohnbar“, mit einem Ausguck ganz oben und versteckt angebrachten Bretterstufen, die bei Gefahr von innen eingezogen werden konnten. Der Innenraum ließ sich sogar mit einer alten Wagenplane, die Alfons bei seinem Vater „ausgeliehen“ hatte, wetterfest machen, kurzum, der Bunker war ein fantastischer Unterschlupf, nahezu unangreifbar, und - das Allerwichtigste - außer der Flügelbande wusste niemand von seiner Existenz.

      Es war fast schon ein Ritual: Irgendwann begann Alfons die Literflasche mit sechsprozentigem Most kreisen zu lassen, einem Teufelszeug, das auch manch trinkfestem Erwachsenen schon mächtig zugesetzt hatte. Bernhard nahm einen kräftigen Schluck, dazu rülpste er betont männlich. Seine Erfahrungen mit einem ausgewachsenen Rausch und den Folgen waren noch frisch: Erst wenige Tage zuvor hatte die Bande im Bunker Dieters Geburtstag gefeiert, mit zwei statt wie üblich einer Flasche Most und dazu einigen Apfelsinen, für damalige Zeiten eine wahre Rarität, die man dem großem Bruder von Alfons zu verdanken hatte, der als Techniker in Nordafrika arbeitete. Außerdem gab es noch ein solides Stück Speck, das Walter seiner Mutter abgeluchst hatte. Mein Mitbringsel war ein Stück von einem Weichgummischlauch, etwas, was für die Flügelbande einen enormen Wert besaß, weil sich damit hervorragende Steinschleudern herstellen ließen. Von Gertrud kam eine Flagge aus Stoff, tiefblau, mit einem roten Pfeil diagonal nach oben gerichtet, dazu das Wort „Flügel“ und die sechs Initialen A, B, D, G, G, W in goldgelb. Die