Raya Mann

Serenus I


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es folglich dabei bewenden, dass der kleine Serenus wie ein Betrunkener um sich glotzte, sich übergab und sich nicht fortzubewegen wusste. Serenus wiederum begeisterte sich für die Krawatten seines Papas, woraus dieser schloss, dass sein Zweitgeborener denselben erlesenen Geschmack hatte wie er selber. Kurzum, der Jüngere hatte es viel leichter als sein Bruder. Die Mutter liebte ihn so, wie er war, und der Vater reagierte dieses Mal mit Zutraulichkeit und Stolz.

      Der Bruder zeigte keinerlei Eifersucht. Seine Eigenheit war es eben, die Welt zu verstehen, indem er in die Haut der Mutter schlüpfte, indem er sie in Haltung und Handlung nachahmte. Also betätigte er sich mit Eifer in der Säuglingspflege. Dass sich selbst die Mutter mit größerem Vergnügen um Serenus kümmerte als zehn Jahre zuvor um den Bruder, war dem Fortschritt zu verdanken. Die Wegwerfwindel aus Zellulose hatte inzwischen den Markt erobert. Obendrein gab es nun auch diese feuchten Vliesstofftücher, mit denen der Babypopo in ein paar Sekunden gesäubert war. Die Mutter war genauso fasziniert davon wie der zehnjährige Bruder. Ebenso erregten Babyöl, Kinderpuder und Kamillensalbe sein Interesse. Nach wenigen Wochen konnte er alle Verrichtungen selbständig ausführen. Er zog Serenus aus, ohne sich durch dessen Geschrei aus der Ruhe bringen zu lassen, befreite ihn von den Ausscheidungen und verarztete die gereizten Hautzonen. Dann wickelte er ihn neu und kleidete ihn wieder an.

      Nach ein paar Monaten kam die Ernährung mit industrieller Babykost hinzu, mit Brei, der aus Pulver und Wasser angerührt wurde. Bald wusste er die Rezepturen auswendig und verstand es im Schlaf, Wasser abzumessen und Messlöffel abzuzählen. Richtig glücklich machte ihn schließlich der Stabmixer, ebenfalls eine Errungenschaft jener Epoche. Damit bereitete der große Bruder in wenigen Minuten aus Kartoffeln und Karotten, Bananen und Äpfeln den Pamps zu, den er dem Kleinen in den Mund löffelte.

      Serenus war von Geburt an eine Wasserratte. Er liebte ausgiebige Bäder und war untröstlich, wenn er aus der Wanne geholt wurde. Als er zwei Jahre alt war, überließ es die Mutter dem Bruder, ihn zu baden. Dieser schäumte ihn ein, vom Scheitel bis zur Sohle, spülte ihn ab, und rieb ihn trocken. Aus früheren Tagen besaß er eine ganze Sammlung von Entchen und Fischen, Schiffen und Unterseebooten sowie Männchen in Taucherausrüstung, mit denen sie gemeinsam herumplanschten. Denn der Bruder nahm sich Zeit und setzte sich zu Serenus in die Badewanne. Von diesem Vergnügen konnten beide nie genug bekommen.

      Es begann mit den Haien, den Tauchern und den U-Booten, die ihrer natürlichen Bestimmung folgend die Geheimnisse in den Tiefen des Meeres erforschten. Immer fanden sie, von des Bruders Hand gesteuert, den Weg zu den intimen Körperzonen. Serenus wurde beinahe hysterisch von den Reizungen, verlangte aber kreischend nach mehr. Anfänglich schritt die Mutter noch ein und beendete den Radau, aber allmählich wurden die Spiele leiser. Die sexuellen Tätlichkeiten blieben jedoch nicht auf das Baden und das Abtrocknen beschränkt. Mit der Zeit befingerte der Bruder Serenus auch, wenn er ihn zu Bett brachte, wenn er ihm morgens beim Ankleiden half, wenn er ihn auf den Topf setzte. Der kleine Sack mit den beiden Eierchen und der winzige Rüssel zogen ihn in seinen Bann. Jedes Mal, wenn er Hand anlegte, schaute Serenus ihn verwundert an und begann nach einer Weile zu kichern.

      Mit vier Jahren war Serenus ein richtiger Dreikäsehoch. Der Bruder war vierzehn und schoss in die Länge. Eines Tages betrachtete der Jüngere sein Geschlecht als Privatsache – „Das ist Meines!“ – und versagte dem Älteren nachdrücklich die gewohnten Vertraulichkeiten. Nach zwei oder drei weiteren Annäherungsversuchen, die Serenus jedes Mal entschieden zurückwies, gab der Bruder es auf. Daraufhin kühlte sich ihr Verhältnis ab. Es fiel jedoch nicht weiter auf, denn sie lagen altersmäßig ohnehin zu weit auseinander. Als Serenus in den Kindergarten kam, hatte der Bruder bereits seine Konfirmation hinter sich und besuchte, auf Geheiß der Mutter, die Tanzstunden. Für Serenus hatte jene genitale Phase keinen Erinnerungswert. Die Hand seines Bruders verschwand für immer aus seinem Gedächtnis.

      Er verbrachte die folgenden sieben Kindheitsjahre in tiefster Unschuld. Sein Bruder durchlief die Pubertät, die man kaum bemerkte, und der Vater hatte auf seinen Geschäftsreisen eine Liebschaft nach der anderen, machte aber kein Aufhebens davon. Serenus verbrachte seine Zeit mit den Nachbarskindern, ohne zwischen Jungen und Mädchen zu unterscheiden. Mit jenen spielte er Fußball und mit diesen Gummi-Twist. Mit dem Vater zusammen betrieb er die elektrische Autorennbahn und der Mutter half er im Haushalt. Mit derselben Unschuld verliebte er sich ein bisschen, und zwar in beide Richtungen. Er bewunderte seine Lehrerin, die jung und hübsch war, und er schwärmte für seinen Taufpaten, den Bruder der Mutter, der als schwarzes Schaf der Familie galt. Seit er einen britischen Sportwagen fuhr, wurde er von allen nur noch Onkel Goldfinger genannt.

      Als Serenus noch nicht ganz elf Jahre alt war, überkamen ihn erstmals rätselhafte Empfindungen, die sich mit unfassbaren Wünschen nach etwas Namenlosem verbanden. Nach und nach erfüllte Erregung seinen ganzen Körper. Doch je mehr sich dieses Verlangen in der Leibesmitte verdichtete, umso heftiger wurde es auch.

      An einem Sonntag im Mai fand ein Familienpicknick statt. Außer dem Vater und der Mutter nahmen verschiedene Onkel und Tanten daran teil. Sie brachten ihre Kinder mit, die Kusinen und Cousins der beiden Brüder. Onkel Goldfinger wurde von seiner neuen Gefährtin begleitet, einem Hippie-Mädchen, das sich nicht davon abhalten ließ, ihren Gönner unaufhörlich abzuknutschen. Sie trug den kürzesten Minirock aller Zeiten und dazu ein transparentes Hemdchen aus Indien. Ihr erdrückender Duft nach Patschuli weckte bei Serenus wieder einmal jene seltsamen neuen Gefühle. Man richtete sich am Waldrand ein und verköstigte sich mit Grilladen und Salaten. Serenus trank zwei Gläser von der Waldmeister-Bowle, die ihm die Mutter zur Hälfte mit Sprudel verdünnte.

      Auf einmal schmerzten Serenus die Ohren vom Gelächter und Geschrei der Gäste. Still und leise schlich er sich davon und drang tief in den Wald ein, dessen dunkler Boden mit Maiglöckchen und Schlüsselblumen übersät war. Als er keine Stimmen mehr hörte, zog er sich zitternd vor Erregung aus und legte seine Kleider über den Stamm eines Baumes, der von den Herbststürmen gefällt worden war. Er fühlte die Luft auf seiner Haut. Sein Pimmel wurde sofort groß und hart. Er bekam kaum Luft zum Atmen.

      Er merkte sich die Stelle, wo seine Kleider lagen und bewegte sich behutsam durch das Holz. Außer ihm gab es keine Menschenseele. Niemand war Zeuge seines Treibens. Dennoch musste er unentwegt daran denken, dass er nackt zu sehen war. Er hatte keine bestimmte Vorstellung von möglichen Zuschauern, aber trotzdem ahnte er, dass er sich den Blicken eines weiblichen Publikums darbot. Er wünschte sich, ein Mädchen - oder mehrere – würden die Augen auf seinen Körper richten. Da ihm einfach keine wirkliche Person dazu einfiel, phantasierte er, dass diese junge Frau, die dauernd an Onkel Goldfinger herumknabberte, irgendwo im Unterholz auf der Lauer lag. Bestimmt hatte auch sie ihren kurzen Rock und die durchscheinende Bluse abgelegt. Auf der Suche nach ihr huschte er leise durch den Wald.

      So verrann die Zeit. Serenus wurde allmählich müde davon, dass sein Verlangen keine Erfüllung fand. Unzufrieden zog er sich wieder an. Da man ihn vielleicht auf sein Verschwinden ansprechen würde, pflückte er einen dicken Strauß von Maiglöckchen. Er hätte ihn am liebsten Onkel Goldfingers neuer Freundin geschenkt, aber er wusste, dass er sich das nicht trauen würde.

      Solange dieser Sommer dauerte, ging er in den Wald, um sich auszuziehen. Er begann Blumen zu pressen, damit er ein Alibi hatte. Der Vater schenkte ihm ein Buch über seltene und geschützte Pflanzen. Aber Serenus stellte schnell fest, dass diese Pflanzen so selten gar nicht waren, wenn man nur die Augen offenhielt. Einmal pro Woche, an einem freien Nachmittag, bestieg er sein Rad und fuhr zur Stadt hinaus. Werktags begegnete man keinem Menschen. Bald kannte er die stillen Plätze, wo er ungestört seine Leidenschaft ausleben konnte. Im Juli setzte eine längere Regenperiode ein. Aber Serenus war so aufgereizt, dass er sich durch die Nässe nicht abhalten ließ. Er wollte alleine sein und sich den nervösen Schauern seines Körpers hingeben. Die dicken Tropfen, die von den Bäumen auf seine Haut fielen, verstärkten sogar seine Empfindungen.

      Serenus lebte inzwischen alleine mit seinen Eltern. Der Bruder hatte die Universität gewechselt und war in eine stockkatholische Stadt gezogen, um Theologie und Pädagogik zu studieren. Als die Ferien anfingen, verreiste der Vater und ließ die Mutter mit Serenus zurück. Es war Beerenzeit und die Mutter kochte jeden Tag Marmelade, Gelee, Sirup und Kompott. Wenn Serenus nicht bei ihr in der Küche saß, beschäftigte er sich mit seinen