Raya Mann

Serenus I


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er sie an ihrem schwarzen Lockenschopf und zwang sie zu Boden, bis sie vor ihm kniete und zu heulen anfing.

      Rosanna war der einzige Mensch, der mit größter Selbstverständlichkeit zu ihm nach Hause kam. Anfangs klingelte sie an der Tür, wenn sie ihn draußen nicht antraf. Aber bald nahm sie die Gewohnheit an, einfach da zu sein, so als ob sie zur Familie gehörte. Die Mutter hatte wieder zu arbeiten angefangen und Serenus war an den Nachmittagen alleine zu Hause. Von allen Gleichaltrigen mochte Serenus Rosanna am liebsten und allmählich rechnete er jeden Tag mit ihrem Erscheinen. Gerade weil sie ihm so vertraut war, fiel es ihm nicht ein, dass sie seine erste Frau werden könnte.

      Sie hatten wieder einmal miteinander gerauft, bis sie völlig außer Atem waren. Nachdem er ihren Widerstand gebrochen hatte, war er auf ihr liegen geblieben. Er fühlte sein Gewicht auf ihrem Körper und genoss es, ihr nahe zu sein. Dasselbe wiederholte sich beim nächsten und beim übernächsten Mal. Sie begannen ihren Ringkampf, aber bald ging es nur noch darum, die Waffen zu strecken und aufeinander liegen zu bleiben. Schließlich ließen sie die Balgerei ganz weg. Rosanna kam und legte sich hin, Serenus trat zu ihr hin und legte sich auf sie. Das Verlangen kam auf leisen Sohlen zu ihnen. Sie bemerkten kaum, wie sich die Veränderung einstellte. Vielleicht fiel ihnen das Atmen etwas schwerer, vielleicht wurde ihnen warm dabei, vielleicht sehnten sie sich ein wenig mehr nach einander. Sie wechselten ab. Manchmal lag er auf ihr, manchmal lag sie auf ihm. Natürlich fühlten sie, dass es jedes Mal inniger wurde und dass etwas geschehen würde.

      Zweifellos war es Rosanna, die schließlich die Initiative ergriff. Als sie wiederkam, wusste er sofort, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Sie erklärte ihm, dass sie sich ausziehen würde und dass er sich nackt auf sie legen solle. Er fand einleuchtend, was sie vorschlug. Noch während sie redete, schlüpfte sie aus dem Kleid und legte sich hin. Serenus beobachtete sie, während er sich etwas umständlich seiner Kleider entledigte. Als er auf ihr lag, vergingen zuerst ein paar Augenblicke, denn er war die fremde Haut an seiner eigenen noch nicht gewöhnt. Dann strömte ein großes Glück in seine Seele.

      Bei dieser und den folgenden Zusammenkünften waren sie schweigsam. Vorher und nachher unterhielten sie sich wie gewohnt. Aber wenn sie sich nahe waren, lauschten sie nur. Wenn Rosanna nackt war, hörte er, wie sie schluckte, wie sich ihre Därme bewegten, wie ihr Herz schlug und wie sie manchmal den Atem anhielt. Er fühlte, dass es an verschiedenen Zonen ihres Körpers unterschiedliche Temperaturen gab, und dass ihre Haut hier trocken und dort feucht war. Es vergingen mehrere Wochen, ohne dass sie sich dabei betrachteten oder mit den Händen anfassten. Umarmungen und Liebkosungen entdeckten sie erst später.

      Eines Tages jedoch öffneten sie die Augen und begannen sich zu betrachten. Es war etwas Anderes, wenn Rosanna wusste, dass sie gemustert wurde. Sie wollte gesehen werden und sie wollte, dass er ihre Blicke erwiderte. Er besah sie wie ein Geschenk, dessen Sinn er noch nicht verstand. Er wusste noch nicht, was er damit anfangen könnte. So studierte er ihre Brüste, zu deren Zartheit er an seinem eigenen Körper keine Entsprechung fand. Rosannas Haut nahm die Sonne an und schimmerte dunkel. Aber ihre Brüste waren heller und die Brustwarzen erschienen ganz durchsichtig und farblos, so dass die Venen durch die Haut schimmerten. Sie war genauso von seiner Haut bezaubert. Oft lagen sie so neben einander und ergründeten die Merkmale des anderen.

      Obwohl es immer dasselbe war, wurden sie dessen nicht überdrüssig. Sie zogen sich aus, legten sich aufs Bett, Rosanna unten, Serenus oben, oder umgekehrt. Sie belauschten das Geflüster ihrer Körper mit geschlossenen Augen. Sie lagen nebeneinander und bestaunten sich. Gerade wegen der exakten Wiederholung des Rituals bekam ihr Tun eine Bedeutung, die sie verwunderte und betroffen machte. Was bis jetzt geschehen war, konnten sie noch ungeschehen machen. Doch beide wollten, dass etwas über sie hereinbrach, das unwiderruflich war. Nur so ist zu verstehen, dass sich ihr Begehren mit dieser Gewalt auf sie stürzte... und so plötzlich.

      Schon in den ersten Sekunden ihres Liebesspiels steigerte der Schmerz ihre Lust. Wieder war es Rosanna, die die Richtung vorgab. Sie dachte sich nichts dabei und wusste nicht, was sie damit bezweckte. Sie hielt einfach dem Druck nicht mehr stand. Sie packte seine Hoden, als ließe sie ihn dafür büßen, dass sie so lange gewartet hatte und dass sie sich nicht länger gegen ihre Ungeduld wehren konnte. In seinem Innersten verstand Serenus ihre Geste und erwiderte sie mit der gleichen Vehemenz.

      Indem Rosanna seine Hoden in ihren Händen quetschte und Serenus ihre Brustwarzen zwischen seinen Fingern drückte, überflutete ihre Brunst die Dämme, bis sie barsten. Sie hätten auf der Stelle den Geschlechtsakt, ihren ersten, vollziehen können. Aber die Schmerzen waren so fremdartig und so erregend, dass sie sie auskosten wollten. Also zwangen sie sich, den Kampf auf die Spitze zu treiben. Ihre Krallen hinterließen Blutspuren auf der Haut und ihre Pranken blaue Flecken auf dem Fleisch des anderen.

      Serenus hatte von Bruno gelernt, dass die treibende Kraft der Sexualität und aller ihrer ungezählten Spielarten, beides sein konnte, das Gute wie das Böse. Er wusste indessen auch, dass es keine Gerichtsbarkeit gab, die ihr Tun verurteilen würde. Sie bewegten sich in einem gesetzlosen Raum und waren frei, ihre Gier zu befriedigen, wie immer sie wollten. Als er Rosanna fragte, ob sie richtig fände, was sie machten, war sie verwirrt und dachte, Serenus wünschte sich etwas Anderes von ihr. Als er die Frage präzisierte, antwortete sie, sie sei gewiss nicht zimperlich und sie habe gewusst, dass er ein Grobian sei, denn sie habe schon einiges von ihm eingesteckt. Jedenfalls sei nichts kaputtgegangen, fügte sie hinzu und betrachtete die Schrammen an ihren Körpern.

      Am nächsten Tag kam sie nochmals auf seine Frage zurück.

      „Ich finde es richtig, wie wir uns lieben. Aber dass ich zu dir komme, ist verboten. Ich bin katholisch und Italienerin. Ich darf nicht daran denken, was sie mir antun, wenn sie es herausfinden. Mein Vater trinkt und ist zu allem fähig. Auch meine Brüder sind Italiener und dürfen nichts davon erfahren.“

      Serenus hatte von seiner Familie nichts zu befürchten. Die Mutter würde es genauso hinnehmen, dass er Sex hatte, wie sie sich damit abgefunden hatte, dass der Bruder womöglich schwul war, und der Vater würde ihn zu seiner Eroberung beglückwünschen. Obwohl er selber völlig unbeschwert war, nahm er wahr, dass Rosanna von einer tiefen Angst zerrissen wurde, so dass er um sie fürchten musste. Gleichzeitig war diese Bedrohung wie ein Hochofen, in dem sie zusammengeschmolzen und in eine einzige Form gegossen wurden. Die Angst stiftete sie dazu an, aus ihrer glühenden Liebe einen Schutzschild zu schmieden.

      Nachdem sie zwei oder dreimal miteinander geschlafen hatten, fand Serenus ein Päckchen mit einer Notiz auf seinem Schreibtisch.

      Liebe Rosanna. Es sind drei Schachteln. Das reicht fürs Erste. Nimm jeden Tag eine. Immer zur gleichen Zeit. Ich wünsche Euch beiden Glück. Eure Mutter

      Rosanna war außer sich vor Freude.

      „Es ist echt gut, wie sie sich kümmert. Ich hätte nicht gewusst, wie ich an die Pille kommen sollte. Meine Mutter würde ein Jahr lang heulen und mein Vater würde mich totschlagen.“

      Sie organisierte ein sicheres Versteck, das nicht einmal Serenus kannte, und tatsächlich wurde es all die Jahre über nicht entdeckt. Die Mutter lieferte alle drei Monate Nachschub. Erwähnt wurde die Angelegenheit mit keinem Wort. Eine Nebenwirkung des Hormons bestand darin, dass sich die Gefäße in Rosannas Brüsten ausdehnten und das Geäder durch die Haut zu sehen war. Jetzt wirkten ihre Brüste noch durchsichtiger als vorher.

      Eines Tages wollte Serenus bloß den Fotoapparat zurücklegen, den sein Vater im ausgeliehen hatte. Zuunterst und zuhinterst in dem Aktenschrank des Vaters stieß er auf das Buch. Es sah wertvoll aus. Das Auffallende daran war, dass es außen nicht beschriftet war. Innen enthielt es vor allem Text, aber auch Illustrationen, die fast wie Fotografien aussahen. Ihm schwanden beinahe die Sinne, als sein Blick auf eine Szene fiel, in der ein Mädchen bedrängt wurde. Es wurde von fünf oder sechs Männern an den Gliedmaßen festgehalten, so dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Das Mädchen war blond und blasshäutig, die Männer dagegen schwarze Eingeborene. Serenus verstaute das Buch wieder dort, wo er es gefunden hatte. Aber als der Vater seine nächste Reise antrat, entwendete er es.

      Die Erzählung hieß ganz harmlos „The Leopard Girl“ und spielte in einer afrikanischen Kolonie des