Raya Mann

Serenus I


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ihrer Liebe war, dass ihnen außer ihrer Hingabe keine Ausdrucksform zur Verfügung stand. Sie trafen sich eigentlich nur im Bett und unbekleidet.

      Rosanna wurde von ihrem Vater und ihren Brüdern so sehr kontrolliert, dass sie gar keinen Freund hätte haben können. Da er aufs Gymnasium ging, schien es für sie naheliegend, dass sich die Kleine von Serenus bei den Hausaufgaben helfen ließ. Da Rosanna nicht mit Jungen ausgehen durfte, überlegte das heimliche Paar gar nicht erst, was sie gerne gemeinsam unternommen hätten. Es erschien gottgewollt, dass sie einfach zu ihm kam, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Ihre Sehnsucht war stärker als die Angst vor den Männern ihrer italienischen Familie.

      Während der ersten zwei bis drei Jahre kamen sie ungefähr einmal pro Woche zusammen, dann verringerte sich die Häufigkeit ihrer Treffen auf ein bis zwei Mal pro Monat. Aber zu jener Zeit veränderte sich vieles. Einschneidend war vor allem, dass sein Vater in Rente ging und von einem Tag auf den anderen zu Hause blieb. Er saß in seinem Arbeitszimmer und beschäftigte sich mit seinen Studien. Viele seiner Reisen hatten ihn in Entwicklungsländer geführt und er hatte dort Zeugnisse von Magie und Aberglaube gesammelt. Die primitiven Mythen und Weltanschauungen waren nun sein neuer Zeitvertreib. Der Vater begegnete zwar Rosanna mit Wohlwollen, aber es war doch anders als vorher, als sie sich in ihrer nahezu sturmfreien Bude austoben konnten.

      Serenus wiederum ging neuen Verpflichtungen nach. Er besuchte die Tanzstunde und am Wochenende die Partys seiner Schulfreunde. Oft konnte er gar nicht anders, als ein Mädchen auszuführen, wenn er mit seiner Clique in die Disco oder zu einem Popkonzert ging. Serenus verehrte das andere Geschlecht und es gab immer ein weibliches Wesen, das ihn zeitweilig entzückte. Er ließ sich gelegentlich zu Knutschereien hinreißen, aber sobald es ernster wurde, nahm er Abstand.

      Auch Rosanna veränderte sich. Sie besuchte die Berufsschule und machte gleichzeitig ein Praktikum als Bankkauffrau. Sie musste alles geben, um den Anforderungen zu genügen. Zudem war sie oft in sich gekehrt oder launisch. Manchmal brütete sie vor sich hin oder sie sagte verletzende Dinge, über die sie selber erschrak. Es kam immer öfter vor, dass sie seine Nähe nicht ertrug und sich hundert Mal dafür entschuldigte, dass sie so abgespannt sei. Sie stritten sich oft, aber jede Auseinandersetzung gipfelte darin, dass sie sich die Kleider vom Leibe rissen und über einander herfielen. In dieser Zeit verfestigten sich ihre Rollen. Rosanna unterwarf sich ganz seiner sexuellen Dominanz, während er sich von ihr nichts mehr gefallen ließ.

      Einmal, als er Analverkehr mit ihr hatte, sagte er: „Ich könnte dich auch noch ins Gesicht schlagen und du würdest mich dafür anbeten.“

      Es war nur dirty talking, wie sie es nannten, ihr Spiel, mit dem sie sich gegenseitig aufheizten. Aber als sie sich nach dem Orgasmus küssten, sagte sie: „Ich möchte wirklich wissen, wie es ist, wenn du mich dabei schlägst.“

      Rosannas Anspannung wurde auch nicht besser, als sich ihre Eltern trennten. Es kam zu Alkoholexzessen und Gewalttätigkeiten ihres Vaters, die schon bald jedes Maß überschritten. Immer öfter musste die Polizei einschreiten und schließlich verfügte die Staatsanwaltschaft ein Hausverbot. Rosannas Vater zog vorübergehend in ein Männerwohnheim und kreuzte nur noch gelegentlich auf, um vor dem Mietshaus Radau zu machen.

      Als ihr Vater endlich fort war, übernahmen die beiden Brüder vollends das Zepter und wurden dabei von ihrer Mutter auch noch unterstützt. Rosanna erklärte Serenus, dass es ihr zu anstrengend sei, ihnen Widerstand zu leisten. In ein paar Monaten habe sie die Abschlussprüfungen hinter sich und dann sei sie volljährig und könne tun und lassen, was sie wolle. Er sagte nichts zu solchen Äußerungen, denn er hatte noch keine Vorstellung von der Zukunft. Ihm war wohl zu Hause bei den Eltern. Das Gymnasium würde noch zweieinhalb Jahre dauern und eine unabhängige Rosanna, die genug Geld verdiente, um sich eine eigene Wohnung zu mieten, konnte er sich gar nicht vorstellen. Aber er wusste, dass es ihr bitterer Ernst war. Sie hatte nur noch ihr Diplom und ihren achtzehnten Geburtstag im Kopf.

      An einem Abend im Mai wollte der Vater, dass er ihn zum Biergarten am Fluss begleite. Serenus stand der Sinn überhaupt nicht danach. Er hatte Rosanna seit über zwei Wochen nicht gesehen und wollte sie nicht verpassen, falls sie in den nächsten Stunden auftauchen sollte. Als der Vater sein Zögern bemerkte, sagte er: „Ich habe dich nicht um deine Zustimmung gebeten. Ich habe beschlossen, dass heute der Tag ist, an dem der Filius seinem fünfzig Jahre älteren Vater Gesellschaft leistet. Geh und hol dir eine Jacke, falls es nachher kühl wird.“

      Es war nicht Gehorsam oder Gefälligkeit, dass Serenus sogleich folgte. Er war neugierig und fühlte sich sogar ein wenig geschmeichelt. Serenus war etwa vierzehn gewesen, als er The Leopard Girl entdeckt hatte, und ging nun auf die siebzehn zu. In diesem ganzen Zeitraum hatte er mit dem Vater kein bedeutsames Gespräch geführt.

      Der Biergarten war nur halb besetzt und so fanden sie eine ruhige Ecke, wo sie ungestört plaudern konnten. Sie tauschten die üblichen Belanglosigkeiten aus. Der Vater erzählte, womit er sich zurzeit beschäftigte, und wechselte dann das Thema.

      „Woher kommt eigentlich neuerdings dein Interesse für die bildende Kunst?“

      „Ach, das weißt du?“

      „Die Mutter erzählt mir hin und wieder etwas.“

      „Und mir sagte sie, dass du dich zu ihrem Leidwesen nie für moderne Malerei interessiert hast.“

      „Es ist ja schon ein Wunder, dass ich mich auf meine alten Tage mit exotischer Folklore befasse. Aber früher interessierte ich mich ausschließlich für Technik.“

      „Welche wiederum für mich kein Thema ist.“

      „Weißt du, Serenus, ich musste mich fünfzig Jahre lang mit dem technischen Fortschritt befassen, von Berufes wegen. Aber meine übrige Lebenszeit möchte ich anderen Dingen widmen.“

      „Es ist wegen der Lehrerin für Kunsterziehung. Sie ist gigantisch. Sie hat einfach begriffen, was abgeht.“

      „Vielleicht drückst du dich so aus, dass auch ein alter Mann dir folgen kann“, sagte der Vater und lachte.

      „Vor Ostern ging Gisela, so heißt die Lehrerin, mit uns in eine Fabrik, wo gebrauchtes Styropor wiederverwertet wird. So etwas Alltägliches und Unwichtiges wie Styropor! Ich hatte keine Ahnung. Das gibt es in allen Farben und Formen. In dieser Fabrik stellen sie aus den Abfällen nur Füllmaterial her. Sie machen Chips, Bohnen, Würfel, Kugeln und anderes. Das Zeug wird leicht eingefärbt und ist pastellfarben: zartrosa, schwefelgelb, mintgrün, fliederfarben. Und es gibt Tonnen davon. Eine ganze synthetische Galaxis!“

      „Und was hat das mit Kunst zu tun?“

      „Klar, dass du das fragst. Zuerst einmal gar nichts. Aber Gisela sagt, wenn die Griechen und die Römer mit simplen Steinen Kunst machten, Statuen und Mosaike zum Beispiel, dann sollten die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Vorstellungen mit Styropor ausdrücken.“

      „Also habt ihr im Zeichenunterricht Bilder aus Styropor gemacht...“

      „Gisela hatte die Erlaubnis vom Schuldirektor. In der Kunsterziehung gibt es ein Budget für Farben, Material, Museumsbesuche und so weiter. Jeder Schüler durfte zehn Kilo Styropor mitnehmen. Ich habe zwei riesige Mülltüten mit Löffelbiskuits abgeschleppt.“

      „Löffelbiskuits?“

      „Ich nenne sie so. Abgerundete Stangen, etwa fünfzehn Zentimeter lang, von beiger Farbe. Sie sind ein wenig unregelmäßig und sehen aus wie Körperteile. Wie Unterarme von Spielzeugpuppen, ohne Hände.“

      „Und wie soll ich mir jetzt ein Kunstwerk aus Löffelbiskuits vorstellen?“

      „Ich habe in der Eingangshalle der Schule auf dem grauen Kunststoffboden einen Kreis von zweieinhalb Meter abgemessen. Und dann habe ich mit Heißkleber die Teile senkrecht fixiert. Jedes Organ... ich meine, jedes Löffelbiskuit hat acht Zentimeter Abstand zum nächsten.“

      „Ich kann es mir nicht vorstellen.“

      „Du kannst es Dir gern anschauen. Ich darf es bis zu den Pfingstferien stehen lassen.“

      „Hat es