Raya Mann

Serenus I


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bestürzt von einem unermesslichen Leid. Er fühlte sogleich, dass ihr Leid nichts Anderes war, als ein schreckliches Mitleid, das sie für ihn, ihren Sohn, empfand. Es ging weder um den Vater noch um den Bruder. Wenn ihnen etwas zugestoßen wäre, hätten sie ein geteiltes Leid gehabt, dann hätte die Mutter seinen Trost ebenso gebraucht wie er den ihren. Als sie ihn ansah, wusste er, dass jemand verloren war, und dass dieser jemand er selber war. Sie begann lautlos zu weinen. Tränen quollen aus ihren Augen und liefen über ihr Gesicht. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber Serenus wich zurück. Er drehte sich um und ging zur Tür. Er wollte zurück zur Schule, um nochmals nach Hause zu kommen. Er wollte erneut heimkehren und seine Mutter lächeln sehen, so wie sie ihm gestern und vorgestern zugelächelt hatte. Stattdessen drückte er seine Stirn gegen die Tür und fragte mit einer ihm selber fremden Stimme: „Rosanna?“

      Die Mutter kam näher und blieb zwei Schritte hinter ihm stehen.

      „Rosanna ist fortgegangen. Sie hat alle persönlichen Dinge mitgenommen. Sie hat niemandem ein Wort gesagt. Die Polizei hat herausgefunden, dass sie einen Flug nach Rom gebucht hatte. Aber sie werden sie nicht suchen, denn sie hat ja nichts verbrochen. Sie ist achtzehn und darf gehen, wohin sie will. Ich weiß es von der alten Frau, die drüben wohnt, die Nachbarin von Rosanna und ihrer Familie, Frau Tagliaferri, die mit dem Pudel. Sie kam herüber, um es mir zu erzählen.“

      „Ich warte, bis sie zurückkommt“, sagte Serenus ruhig. Er ging an seiner Mutter vorbei hinauf in sein Zimmer, legte die Schultasche auf den Schreibtisch, warf sich auf sein Bett und schloss die Augen. Hier bleibe ich liegen, dachte er, bis ich Rosannas Stimme höre. Unten ging die Mutter leise in die Küche. Dann verstarb jedes Geräusch.

      Es gab keine Hoffnung mehr. Rosanna hatte die Flucht ergriffen. Allein die Tatsache, dass die alte Tagliaferri ein fremdes Haus betrat, um eine solche Nachricht zu überbringen, war Beweis genug. Sie wohnte im gleichen Mietshaus und Rosanna nannte sie Tante, obwohl sie nicht verwandt waren. Jetzt begriff er, warum sie sich ihrer Sache so sicher gewesen war. In den letzten Wochen hatte sie mehrmals gesagt, dass die schlimmste Zeit ihres Lebens bald zu Ende sei. Zu ihrem Geburtstag wollte Serenus für sie beide Freundschaftsringe kaufen. Aber sie sagte zu ihm, dass sei Kinderkram und passe nicht zu ihrem Erwachsenwerden. Sie wünsche sich etwas, was sie ihr ganzes Leben lang tragen könne. So suchte er ihr goldene Ohrstecker mit Steinen aus hellblauem Topas aus. Als er ihr das Geschenk überreichte, packte sie es aus und zog sich den Schmuck an.

      Sie sagte zu ihm: „Ich behalte sie an. Von heute an werde ich denen nichts mehr erklären. Du musst mir eines glauben, Serenus. Ich würde niemals etwas tun, um dich zu verletzen. Du darfst niemals denken, ich wäre böse mit dir oder ich würde dich nicht mehr lieben.“

      „Ich weiß, Rosanna. Du hast doch immer gesagt, du seist die Frau, die noch nach ihrem Tod weiterliebt.“

      Sie sah in ganz seltsam an und erwiderte. „Jetzt bin ich die Frau, die weiterliebt, solange sie lebt.“

      Während ihrer Prüfungen trafen sie sich einmal und danach noch einmal. Serenus hatte sich gefragt, wo sie auf einmal diese Ruhe hernahm. Es war jetzt eine Woche her, dass sie ihm ihren Gesellenbrief gezeigt hatte.

      „So“, sagte sie gleichgültig. „Das war es also. Ich hoffe, dass der Kampf irgendetwas Gutes hatte.“

      Das war das letzte Mal gewesen, dass er sie gesehen hatte. Er versuchte sich zu erinnern, welche Worte sie zum Abschied gewählt hatte. Es fiel ihm nicht mehr ein. Sie war schnell gegangen und hatte sich ganz flüchtig verabschiedet, so als ob sie gleich wiederkäme.

      Er lag den ganzen Nachmittag auf dem Bett. Immer wieder sah er das Bild vor sich. Wie sie im Flugzeug saß und die Stecker mit den blauen Steinen trug. Er kannte Rosanna so gut. Er wusste, dass sie während des ganzen Fluges geweint hatte. Dieses Bild von dem Mädchen mit dem glitzernden Topas im Ohr, das im Flugzeug sitzt und schluchzt, tauchte noch jahrelang in seiner Vorstellung auf.

      Wie immer, wenn er Kummer hatte, ließ ihn die Mutter in Ruhe. Erst als es Abend wurde, kam sie zu ihm ins Zimmer und setzte sich zu ihm aufs Bett. Sie hielt einen Schwenker mit Brandy in der Hand. Etwas schüchtern sagte sie: „Als ich jung war, habe ich Opas Cognac ausgetrunken, wenn ich traurig war. Es half.“

      Serenus setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Er nahm das Glas aus ihrer Hand und trank in winzigen Schlucken. Er fühlte, wie sich die Wärme des Alkohols in seinem Bauch ausbreitete und wie sich die Gedanken in seinem Kopf zur Seite legten.

      „Ich mochte euch als Paar.“ sagte die Mutter leise. „Wenn es auch nicht einfach war mit der ganzen Heimlichkeit. Am Anfang war ich besorgt. Ich dachte, du wärst zu jung für so etwas. Ihr habt euch abgesondert. Ihr lagt zusammen im Bett oder hattet Streit. Das passte nicht in dieses Haus. Aber gerade deswegen mochte ich sie mit der Zeit. Sie gab dir etwas, was du von uns nicht bekommen konntest. Dieses Lebendige, Feurige, Laute. In meinem Leben gab es das nie.“

      Darauf wusste Serenus nichts zu antworten. Was sie sagte, war richtig. Auch dass sie von Rosanna wie von einer Toten sprach, war angemessen. Wäre sie ums Leben gekommen, dann wäre er jetzt fast so etwas wie ein Witwer. Das wäre vielleicht einfacher. Dennoch wollte er Rosanna am Leben wissen. Eine Tote zu betrauern, das war nicht sein Ding. Er wollte unglücklich sein, weil das Unglück in dieser Lage der einzig mögliche Weg war.

      „Ich werde leiden, Mutter“, sagte er schließlich. „Das wird dauern. Vielleicht so lange, wie ich hier bei euch wohnen bleibe. Solange ich hier lebe, wird auch Rosanna immer anwesend sein. Niemand kann es mir ersparen. Ich kann es euch auch nicht ersparen. Aber in zwei Jahren mache ich mein Abi und danach gehe ich für ein Jahr nach Italien. Und jetzt möchte ich noch einen Schnaps.“

      In den Tagen vor den großen Ferien wurde im Klassenzimmer mehr getuschelt und gekichert als sonst. Die Zeugnisse waren schon verteilt worden und niemand nahm den Unterricht noch ernst. Die Lehrer gaben keine Hausaufgaben mehr auf und hielten keine Prüfungen mehr ab. Zeichnen war das das letzte Fach am Freitagnachmittag. Serenus trödelte mit seinen Sachen so lange herum, bis die anderen Schüler gegangen waren. Gisela bemerkte es und kam zu seinem Tisch.

      „Ich habe dir eine 1.5 gegeben, weil du mit den letzten zwei Arbeiten nicht fertig geworden bist. Für dein Können und deine Fortschritte hättest du schon eine Eins verdient“, sagte sie. Serenus schüttelte irritiert den Kopf.

      „Ich will keine halben Punkte geschenkt.“

      „Ganze Punkte kann ich dir nicht mehr geben.“

      Sie lachte. Serenus begriff sofort, dass dies seine Gelegenheit war.

      „Wie viele ganze Punkte habe ich denn bei dir?“, fragte er ohne zu zögern. Auch jetzt lachte sie.

      „Ich bin Deine Lehrerin...“

      Wieder fiel ihm die richtige Antwort ein.

      „Ich bin dein Schüler, aber nur noch heute. Morgen beginnen die Ferien.“

      „Na und?“

      „Kein Klassenzimmer mehr und auch kein Lehrerzimmer.“

      „Stimmt“, sagte Gisela etwas unsicher, „wir werden uns sieben Wochen lang nicht über den Weg laufen.“

      „Ich wollte dir auch nicht über den Weg laufen.“

      „Was möchtest du dann?“, fragte sie.

      „Ich möchte dich in eine Kunstausstellung mitnehmen, Gisela.“

      „Ach ja?“

      „In der Staatsgalerie ist dieses Riesending. Da möchte ich nicht alleine hin.“

      „Du meinst Ausblicke. Ich habe die Ausstellung schon zweimal besucht. Warum sollte ich sie mir ein drittes Mal ansehen?“

      „Damit ich dich Dinge fragen kann.“

      Gisela antwortete nicht, sondern wartete auf eine Erklärung.

      „Kannst du mir zeigen, wie sie es machen? Kannst du mir erklären, wie solche Bilder entstehen?“

      „Das ist alles? Du willst nur wissen, wie sie