Raya Mann

Serenus I


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      „Und wozu?“

      „Weil ich es auch ausprobieren möchte.“

      „Ich denke darüber nach. Ruf mich am Wochenende an. Und jetzt zieh’ Leine.“

      In der Nacht vor seiner Verabredung mit Gisela träumte er diesen unsinnigen Traum. Er rannte eine Treppe hinauf auf einen gläsernen Eingang zu. Als er die Türen erreichte, hielt ihn ein uniformierter Wächter auf. Serenus wollte ihm entwischen, aber der Mann packte ihn bei den Handgelenken. Über ihnen an der Wand hing eine große Uhr mit digitaler Anzeige. Sie zeigte 16.55. Der Türsteher sagte: „Es gibt keine Ausblicke. Der Papst war hier und hat alles konfisziert. Der Jugendschutz hat ausgedient.“

      Gisela saß schon im Museumscafé und erwartete ihn. Vor ihr auf dem Tisch lagen zwei Freikarten, die sie über die Schule organisiert hatte. Zum Ausgleich übernahm Serenus die Getränke. Als er sich hingesetzt hatte, erläuterte Gisela, was ihm bevorstand.

      „Wir beschränken uns auf den Schaffensprozess. Damit haben wir genug zu tun. Alles andere musst du vergessen, Stil, Bildinhalt, Persönlichkeit und Lebensgeschichte des Malers.“

      Serenus war einverstanden.

      „Ich habe keine Lust“, fuhr sie fort, „dir zu jedem Bild einen Vortrag zu halten. Wir drehen den Spieß ein wenig um.“

      Er sah sie fragend an.

      „Ich erkläre dir jetzt, wie du sehen musst. Wie ein Geologe. Du weißt wohl, was Sedimente sind?“

      Serenus nickte.

      „Bilder sind wie der Meeresgrund. Der Künstler trägt eine Schicht nach der andern auf. Zuunterst ist die Leinwand, die Pappe, das Holz oder sonst etwas. Darauf wird der Grund aufgetragen. Der Grund selber kann schon aus mehreren Schichten bestehen. Dann malt der Künstler das erste Sediment mit einer oder mehreren Farben. Vielleicht lässt er diese erste Schicht trocknen, aber vielleicht ist sie noch nass, das kann man sehen, wenn er die nächste Schicht aufträgt. Und so geht das weiter. Man kann fast bei jedem Bild herausfinden, welches Sediment schon fertig war und welches als nächstes dazukam. Besonders spannend ist das bei den Mischtechniken, wo Öl, Wasser und Stift in wechselnder Folge benutzt wurden. Aber auch beim Siebdruck sieht man gut, welche Farbe über der anderen liegt. Du wirst sehen, dass diese Sedimente das Wesen der modernen Kunst ausmachen.“

      Serenus war verblüfft. „Aber die Alten haben doch auch in solchen Schichten gemalt“, wandte er ein.

      „Nur, wenn es technisch nicht anders zu lösen war. Wenn sie konnten, malten sie nebeneinander, nicht übereinander. In der Moderne und in der Gegenwart wird mit dieser Überlagerung Tiefe und Dichte erzeugt. Im Mittelalter und in der Klassik war das anders. Aber das müsstest du eigentlich wissen.“

      Serenus wollte die Prüfung bestehen.

      „Logisch. Sie arbeiteten mit der Perspektive und ihren Ebenen, mit Vordergründen und Hintergründen. Willst du sagen, dass die Ebenen der Alten in der Moderne von den Schichten abgelöst wurden?“

      „Das ist genau der Punkt. Du darfst es nicht zu sehr vereinfachen. Aber jetzt gehen wir. Denk daran, dass ich schon zweimal hier war. Du musst mir schon etwas bieten, damit ich mich nicht langweile.“

      Es war tatsächlich genau so, wie Gisela es ihm erklärt hatte. Natürlich arbeiteten nicht alle Künstler gleich und manche Bilder waren vielschichtiger als andere. Das Spannende aber war, dass man nachvollziehen konnte, wie die Sedimente übereinandergelegt worden waren. Gisela sagte fast nichts. Serenus hingegen geriet in Fahrt und redete wie ein Wasserfall. Auf diese Weise beschrieb er etwa zwanzig Werke. Das letzte Bild, das sie zusammen untersuchten, war ein großes Querformat. Es war knapp einen Meter hoch und etwa fünf Meter breit. Es bestand aus rhythmischen Abfolgen von Linienmustern, die aus Klecksen und Farbtropfen zusammengesetzt waren. Der Maler hatte ein Dutzend Farben verwendet. Serenus erklärte Gisela, dass er mit Schwarz begonnen hatte, dann folgte Dunkelgrau. Die dritte Schicht musste das Türkis gewesen sein. Danach folgte nochmals ein Schwarz, welches aber einen Farbstich hatte. Dann kam Karmesinrot und darüber Gelb. Und so weiter.

      Als sie nach zwei Stunden die Ausstellung verließen, sagte Gisela: „Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Das Weitere ist deine Sache.“

      Sie spazierten zusammen bis zu den Kneipen am Fluss, wo man draußen sitzen und den Menschen beim Flanieren zuschauen konnte. Sie bestellten Radler und als die Getränke auf dem Tisch standen, schaute Gisela auf die Uhr.

      „Es ist bald fünf.“

      Serenus betrachtete seine Digitalanzeige und antwortete:

      „16.55. Na so was. Davon habe ich letzte Nacht geträumt.“

      „Wie? Du hast von dieser Uhrzeit geträumt?“ Es klang ungläubig.

      „Tatsache! Aber es war völlig wirr.“

      Er schilderte, wie der Sicherheitsmann ihn am Besuch der Ausstellung hinderte und welche hohle Erklärung er ihm dafür gab. „Es gibt keine Ausblicke. Der Papst war hier und hat alles konfisziert. Der Jugendschutz hat ausgedient.“

      „Du magst Deinen Traum nicht“, stellte Gisela fest.

      „Wieso soll ich nicht in diese Ausstellung dürfen? Weil der Papst sie verbietet? Das ist doch meschugge.“

      „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie und setzte sich kerzengerade auf.

      „In einem Monat werde ich siebzehn, auf den Tag genau. Warum?“

      „Du bist eigentlich erst sechzehn, aber nicht mehr lange.“

      Serenus runzelte die Stirn. Plötzlich spitzte er die Lippen und stieß einen Pfiff aus.

      „Gütiger Gott! Darauf wäre ich nie gekommen! Die Uhr ist ein Kalender. Es sind gar nicht Stunden, sondern Jahre. In meinem Leben ist es fünf vor siebzehn Uhr.“

      Nach einer Weile sagte er trotzig: „Na wenn schon. Tatsache ist, dass ich soeben in der Ausstellung war und alle Bilder noch dort hingen.“

      Gisela machte Anstalten, den Rest ihres Radlers auszutrinken. Serenus gab einen tiefen Seufzer von sich.

      „Das wird der traurigste Geburtstag meines Lebens. Rosanna sitzt irgendwo in Rom oder weiß Gott wo und wird nie mehr zu mir zurückkehren.“ Beinahe hätte Serenus zu weinen begonnen.

      „Habe ich richtig gehört? In Rom oder weiß Gott wo? Dann hätte sie es zum Papst wirklich nicht mehr weit. Der Heilige Vater hat also deine große Liebe zu sich geholt.“

      Serenus sah Gisela gebannt an.

      „Ja. Sie flog nach Rom. In die Heilige Stadt. Es ist wirklich wahr. Einen Monat bevor ich siebzehn werde. Und die Aussichten sind schlecht“, sagte er langsam.

      „Es gibt keine Ausblicke, jedenfalls nicht für dich und deine Rosanna. Es geht gar nicht um die Ausstellung. Jetzt fehlt noch das Rätsel mit dem Jugendschutz. Ist sie so viel älter als du?“

      „Nur ein Jahr. Sie wurde vor einem Monat volljährig. Das ist alles.“

      „Du bist vielleicht ein schräger Vogel“, sagte sie schließlich. „Warst du lange mit dem Mädchen zusammen?“

      „Vier Jahre“, flüsterte Serenus.

      „Du kommst jetzt gleich mit zu mir und dann erklärst du mir genauer, was los ist.“

      Sie winkte der Bedienung und bezahlte. Serenus folgte ihr zum Standplatz, wo ein Taxi wartete.

      Als sie in ihrem Wohnzimmer standen, sagte Gisela: „Für die nächste halbe Stunde verschwinde ich in der Küche. Du hast bestimmt auch Hunger. Möchtest du solange etwas lesen oder Musik hören? Fernsehen kann ich dir nicht anbieten.“

      Serenus warf einen Blick auf das große Sofa, das mit dunkelrotem Leder bezogen war.

      „Am liebsten würde ich mich einfach nur hinlegen.“

      „Gut.