Raya Mann

Serenus I


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sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen. Er sah Rosanna vor sich, wie sie im Flugzeug saß, den Kopf zum Fenster abgewandt, mit bebenden Schultern und tränennassen Wangen. Und wieder sah er ihr dabei zu, wie sie das Döschen aus dem Geschenkpapier schälte und die blauen Steine an ihren Ohren befestigte. Doch die Bilder verschwanden und er fühlte nur noch ihre Haut auf seiner Haut. Er roch die Schwärze ihrer Locken und schmeckte ihren Atem auf seiner Zunge. Dann fiel er rückwärts in die dunkle Tiefe.

      Er erwachte, als Gisela auftrug. Eine Schüssel mit Spaghetti, ein Pfännchen mit Tomatensauce und zwei Teller mit Blattsalat. Zum Schluss brachte sie eine Flasche Wein und zwei Gläser aus der Küche. Sie trat zu Serenus, nahm ihn an seinen beiden Händen und half ihm mit einem Ruck auf die Füße. Sie hatten beide Hunger und langten zu. Sie redeten kaum dabei. Als Serenus seinen Teller zurückschob, sagte Gisela zu ihm: „Es ist am einfachsten, wenn du von vorne beginnst. Wie hast du Rosanna kennengelernt? Was ist in den vier Jahren alles passiert? Schön der Reihe nach, bitte.“

      Er erklärte ihr, dass er Rosanna immer schon gekannt und gemocht hatte, dass sie Nachbarskinder waren und zusammen im Sandkasten gespielt hatten. Er beschrieb ihr italienisches Temperament und ihre Wildheit. Wie sie auf Bäume kletterte und mit Jungen kämpfte. Er erzählte, wie er aufs Gymnasium kam und für Mädchen zu schwärmen begann, die viel stiller und zurückhaltender waren, und dass er eigentlich gar nicht in Rosanna verliebt gewesen war. Er erinnerte sich, wie sie zu schmusen anfingen und wie daraus eine sexuelle Beziehung entstand. Er erwähnte die Sache mit der Pille, die die Mutter alle drei Monate besorgt hatte. Dann sprach er davon, dass Rosanna von ihrer Familie kontrolliert worden war, dass sie nicht mit Jungen ausgehen durfte, dass sie sich immer heimlich treffen mussten. Er schilderte, welche Ängste Rosanna deswegen ausstand, wie wenig Zeit sie für einander hatten, wie sie sie im Schlafzimmer und im Bett verbrachten.

      Er kam auf ihre Veränderung zu sprechen, dass sie immer launischer und verschlossener wurde, bis er nicht mehr wusste, was sie dachte und was sie vorhatte. Er berichtete, wie sie ihre Ausbildung begonnen hatte, dass sie ihren ganzen Ehrgeiz mobilisierte und dass sich schließlich alles auf ihren Abschluss und auf ihren achtzehnten Geburtstag hin zuspitzte, bis zu dem Tag, wo er von seiner Mutter erfuhr, dass sie nach Rom geflogen war und nur das Wichtigste mitgenommen hatte. Zum Schluss führte er aus, wie er die letzten Wochen verbracht hatte, dass er kaum noch etwas fühlte, weil er den Schmerz in seinem Inneren gar nicht aushalten könnte.

      „Rosanna liebt dich mit Haut und Haar, mit ihrem ganzen Wesen. Sie hat nur dich. Du bist der einzige Mensch in ihrem Leben. Sie gehört dir ganz allein. Du bist ihr Mann.“

      Serenus sah seine Lehrerin an und schwieg. Genau so war es. Nein, er zweifelte nicht an Rosannas Liebe. Ihr Verschwinden hatte damit nichts zu tun. Wenn sie aufgehört hätte, ihn zu lieben, wäre sie nicht auf diese Weise weggegangen. Es gab keinen anderen Mann. Niemand hatte sie in Rom erwartet. Sie war mit nichts außer ihrer Liebe geflohen. Ihm war die ganzen Tage hindurch immer klarer geworden, dass es etwas Drittes gab, etwas Unaussprechliches, etwas, das mit Hass und Ekel zu tun hatte. Aber es betraf nicht ihn. Auch er gehörte ihr allein. Er hatte nie daran gedacht, sich ein anderes Mädchen zu nehmen.

      „Rosanna war weiter als ich, entwicklungsmäßig, meine ich. Das habe ich erst in letzter Zeit begriffen. Ich bin nur ein Gymnasiast. Ich lebe von Schulstunde zu Schulstunde und von Ferien zu Ferien. Ich habe keinen Ärger und muss keine Probleme lösen. Bei Rosanna war das anders. Sie musste sich überlegen, was für ein Leben sie leben wollte. Das wusste ich nicht. Oder doch? Vielleicht ahnte ich es, aber ich kümmerte mich nicht darum. Woher sollte ich denn wissen, dass sie um ihr Leben kämpfte? Weiß ich überhaupt, was es heißt, zu kämpfen? Rosanna hatte verstanden, dass sie eine einsame Entscheidung treffen musste, weil sie nicht mit mir rechnen konnte. Ich habe sie verraten, indem ich einfach kindisch und gedankenlos war.“

      „Ihr seid ein erstaunliches Paar“, fasste Gisela zusammen. „So etwas gibt es nur selten. Es macht mich glücklich, dass es überhaupt möglich ist. Es gibt wenig Jungs zwischen dreizehn und siebzehn, die sich so auf ein Mädchen einlassen und eine solch tiefe Bindung eingehen. Ich kenne auch keine Mädchen zwischen vierzehn und achtzehn, die sich so vorbehaltlos für einen Mann entscheiden. Du hast etwas Einzigartiges erlebt mit Rosanna und für sie gab es nichts Besseres als dich.“

      „Das mag schon sein“, erwiderte Serenus, „aber es ist ein Problem. Jetzt ist es ein Problem, fürchte ich.“

      Gisela sah ihn neugierig an.

      „Für mich gibt es kein anderes Mädchen. Ich hänge an ihr. Ich werfe ihr nicht vor, dass sie abgehauen ist. Ich weiß, dass sie nicht zu mir zurückkehrt. Ich gehe weiterhin zur Schule und erledige meine Dinge. Aber ich weiß nicht mehr, was aus mir werden soll. Rosanna zu lieben, ist mir noch wichtiger geworden, jetzt, wo es sie nicht mehr gibt.“

      „Ich weiß auch nicht, was aus dir werden soll“, erwiderte Gisela. Ihre Ratlosigkeit war augenscheinlich.

      „Was du mir heute von den Sedimenten erklärt hast, wird mir vielleicht weiterhelfen. Ich denke, dass die Seele auch wie ein Meer ist, das Stoffe ausscheidet, die sich in Schichten ablagern: Zuneigung, Enttäuschung, Leidenschaft, Entsetzen, Freude, Trauer. Und so weiter. Ich möchte so malen, dass die Farbschichten den Seelenschichten entsprechen.“

      „Du hast also nicht vor, Landschaften, Stillleben und Portraits zu malen.“

      „Nicht unbedingt. Oder vielleicht doch. Auch Figürliches kann vielschichtig sein. Ich weiß es nicht. Ich werde mit meinen Eltern vier Wochen auf Rhodos verbringen. Ich brauche Farben, Pinsel und Papier, sonst sterbe ich sicher vor Langeweile... und vor Sehnsucht nach Rosanna.“

      „Ich weiß, was du brauchst. Im Supermarkt gibt es diese kleinen Farbkästen mit zwölf Tuben Gouache, Made in China. Die Qualität ist erstaunlich. Am besten kaufst du dir gleich ein paar Schachteln und ein Kilo weiße Dispersion vom Baumarkt. Weiß braucht man am meisten. Ich besorge dir richtige Pinsel und einen Packen holzfreies Büttenpapier. Gouache auf Ingres ist das Beste für den Urlaub. Die Farbe trocknet so schnell, dass du sie im Nu übermalen kannst.“

      „Danke. Das sind tolle Tipps. Ich werde alles genau so machen.“

      „Morgen wollte ich sowieso in der Schule noch ein paar Dinge erledigen. Komm doch einfach am Nachmittag vorbei.“

      „Dann mache ich mich jetzt mal auf den Heimweg. Wir sehen uns morgen. Ich weiß nicht, wie ich dir für alles danken soll.“

      „Denk nicht darüber nach. Dafür hast du mir deine Geschichte mit Rosanna anvertraut. Wetten, dass du sie noch nie jemandem erzählt hast?“

      Die vier Ferienwochen auf Rhodos wären tatsächlich um ein Haar todlangweilig geworden. Der Vater las den ganzen Tag Bücher über Zauberei in Lateinamerika und die Mutter putzte das Häuschen, das sie gemietet hatten, ging zum Markt einkaufen und widmete sich der griechischen Küche. Serenus schleppte den verwitterten Holztisch, der unten auf der verdorrten Wiese stand, auf die schattige Terrasse und überklebte ihn mit einer dicken Schicht aus alten Zeitungen. Der Tisch war groß genug, um darauf zehn Blätter und ein paar Pappteller auszulegen. So malte er Serien von zehn Bildern in der jeweils gleichen Farbkombination. Da er mit den Farbtuben geizte und mit der weißen Dispersion großzügig war, entstanden zarte pastellfarbene Blätter.

      Er sehnte sich nach Rosanna und fühlte nichts außer diesem tiefen Riss in seiner Seele. Diese Empfindung wollte er darstellen: leere Öffnungen, blinde Fenster, leblose Flächen, erloschene Schatten. Die Mutter stellte einen Schaukelstuhl aus dem Wohnzimmer neben den Maltisch und setzte sich immer wieder dorthin, um ihm beim Malen zuzuschauen. Einmal, als er eine Folge in Grau und Schwefelgelb malte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Hoffentlich geht es dem Mädchen gut“, stammelte sie, stand auf und ging wieder ins Haus zurück. Da wurde Serenus bewusst, dass auch die Mutter Rosanna vermisste. Er ging ihr nach und fand sie in der Küche an die Wand gelehnt. Er trat ganz nahe an sie heran und ließ sich von ihr in die Arme nehmen. „Sie hatte dich immer lieb“, flüsterte er der Mutter ins Ohr und biss die Zähne zusammen, damit er nicht laut zu schreien anfing.

      „Dein Geburtstagsgeschenk wartet zu Hause und muss noch