Raya Mann

Serenus I


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Bruders neu einrichten. Wenn du einverstanden bist, richten wir in deinem alten Zimmer ein kleines Atelier für dich ein, mit Wasser und Licht und allem.“

      Serenus schämte sich, als er den Vorschlag vernahm. Offenbar machte sein Befinden gröbere Maßnahmen erforderlich. Es war tatsächlich soweit, dass er sein altes Zimmer nur noch mit Widerwillen betrat. Indessen gab es im Haus ausreichend Raum für alle drei. Die Mutter hatte ein Nähzimmer, der Vater ein Arbeitszimmer und beide jeweils ein eigenes Schlafzimmer. Er würde ein Malzimmer und ein Schlafzimmer bekommen. Wenn er jetzt auch zwei Räume zugeteilt bekam, dann hieß das, dass er nun zu den Erwachsenen gehörte. Zudem hatte er sein Liebstes und Wichtigstes verloren, nachdem er vier Jahre lang nur dafür gelebt hatte. Dafür bekam er nun die Anerkennung seiner Eltern. Er musste etwas sagen.

      „Ihr habt Euch das Allerbeste für mich ausgedacht.“

      Er stand auf und drückte dem Vater die Hand. Dann ging er zur Mutter und küsste sie auf beide Wangen. Als er sich wieder hinsetzte, sagte der Vater: „Wir haben zusammen geredet, die Mutter und ich. Dein Leid ist auch unser Leid. Wir haben dich zwar auf den Namen Serenus, der Heitere, getauft, aber das soll dich zu nichts verpflichten. Es ist nun einmal so, wie es ist.“

      Sein neues Reich wurde ein Knüller. Die Möbel des Bruders genügten seinen Ansprüchen vollkommen. Es musste lediglich eine neue Beleuchtung installiert werden. Zudem kauften die Eltern einen riesigen flauschigen Teppich, auf dem man stundenlang liegen und lesen konnte. Der Umbau des alten Schlafzimmers zu einem Atelier war aufwändiger. Der Vater ließ Handwerker kommen, die eine Wasserleitung legten und eine Spüle montierten. Serenus bekam einen großen Arbeitstisch und einen alten Planschrank mit Schubladen für Papiere und Bilder. Als alles fertig war, strahlte der Raum Zweckmäßigkeit aus und lud zum Arbeiten ein. Tatsächlich verging während der folgenden zwei Jahre kaum ein Tag, an dem Serenus nicht in seinem Atelier zugange war.

      Ebenso wichtig wie die Malerei wurde die Freundschaft mit Gisela. Er besuchte sie regelmäßig in ihrer Wohnung, durfte kommen, wann er wollte, und musste sich nicht vorher anmelden. Serenus brachte oft seine neuesten Arbeiten mit und ließ sich von Gisela beraten. Sie wies ihn auf die Textur des Papiers und des Pinsels hin und machte ihn auf die Wirkung der Farben und Kontraste aufmerksam. Manchmal betrachtete sie ein Blatt lange und dachte laut darüber nach.

      „Man muss nur genau hinschauen. Da ist etwas Vibrierendes, etwas wie eine unterdrückte Wut in diesen rötlichen Schatten und in den flüchtigen Pinselstrichen über dem dunklen Grund. Aber das Königsblau, das überall hindurchschimmert, gibt dem Ganzen etwas Versöhnliches.“

      Serenus prägte sich solche Worte genau ein, denn sie inspirierten ihn dazu, eine bestimmte Stimmung gezielt zu erzeugen. Er war ganz versessen darauf, an solchen Zweideutigkeiten und Widersprüchen zu arbeiten. Gab es denn eine Alternative? Harmonische Schönheit nach einem göttlichen Gesetz musste er in den Sedimenten seiner Seele jedenfalls nicht suchen.

      Eines Tages zogen die Mutter und die Brüder von Rosanna aus dem Mietshaus nebenan aus und verließen die Nachbarschaft für immer. Nur die alte Tagliaferri mit ihrem Pudel erinnerte ihn noch gelegentlich an jenen Tag des Entsetzens. Schlimmer als die Erinnerung und die Sehnsucht war ein vermeintliches Gefühl der Ruhe, wie an einer verlöschenden Feuerstelle, von der gerade noch ein Rauchfaden aus der weißen Asche aufsteigt. Es kam ihm vor, als könnte er die Flammen ganz einfach wieder entfachen, und alles wäre wie früher. Der Feuerplatz wäre sogar eine Idylle, wenn man nicht wüsste, was hier in Rauch aufgegangen war.

      Ein gesundes Selbstbewusstsein verbrennt langsam und unter der Asche hält sich die Glut lange. Serenus hatte einen schönen Vorrat an männlichem Stolz angelegt, den er sowohl Rosannas Liebe als auch seinem Ansehen bei den anderen Jugendlichen verdankte. Er war seit jeher der Junge gewesen, der immer schon sein Mädchen hatte. Im Umgang mit Gleichaltrigen hatte er sich stets locker und frei gefühlt. Es war ihm ein Rätsel gewesen, warum manche Menschen gehemmt waren und sogar soziale Ängste entwickelten.

      Aber mit der Zeit verunsicherte es ihn mehr und mehr, dass Rosanna ihn hatte sitzen lassen, und er begann sich Fragen zu stellen, die seine Selbstsicherheit untergruben. Wäre Rosanna bei ihm geblieben, wenn er bestimmte Eigenschaften gehabt hätte, die ihm offenbar abgingen? Fehlte ihm vielleicht die Fähigkeit, Mädchen glücklich zu machen? Würde er in Zukunft aufpassen müssen, dass sie ihm nicht eine um die andere davonliefen? Seine Kumpel hatten inzwischen alle eine Freundin und nun blieb er der Einzige, der allein war. Alle schienen mehr Glück und mehr Verstand zu haben als er. Dabei mochte er das andere Geschlecht genauso gerne wie eh und je. Seine Klassenkameradinnen schäkerten ziemlich unverfroren mit ihm und sie ließen sich gerne von ihm necken. Wenn ihm ein Mädchen wirklich gefiel, dann überlegte er sich neuerdings als Erstes, ob er ihm überhaupt genügen konnte und ob es nicht etwas Besseres verdient hatte als ihn. Er stand also kurz davor, sich Komplexe zuzulegen. Was ihn davor rettete, war eine Begebenheit mit den Mädchen aus seiner Klasse, denen die Tragweite ihres Tuns freilich keineswegs bewusst war.

      Der Sportunterricht am Dienstagnachmittag wurde bei schönem Wetter ins Schwimmbad verlegt. Anschließend versammelte sich die ganze Klasse bei den alten Ahornbäumen im hinteren Teil der Anlage, wo sie den Rest des Nachmittags verbrachte. Die Mädchen scharten sich in der Sonne zusammen und die Jungen legten sich in den Schatten. Der Abstand zwischen den beiden Gruppen betrug wohl gut zwanzig Schritte.

      Die Wortführerin der Mädchen war Doris. Eines Tages rief sie zu den Jungen hinüber, dass Serenus doch bitte kurz herüberkommen wolle. Gelächter erklang und Serenus wusste nicht, wie er reagieren sollte. Konnte er in aller Öffentlichkeit den Launen einer Doris nachgeben? Oder war es schlimmer, als Feigling dazustehen, wenn er nicht zu den Weibern hinüberging? Seine Kameraden spornten ihn an und schubsten ihn solange, bis es schließlich aussah, als täte er es nur ihnen zuliebe. Er schlenderte hinüber und Doris forderte ihn auf, sich einen Moment hinzusetzen.

      „Hör zu, Serenus“, hob sie an. „Wir Mädchen haben darüber geredet, welchen von unseren Jungs wir zum Mister Classroom wählen würden. Wir vergaben vier Noten: Gesicht, Körperbau, Ausstrahlung und Anstand. Unsere Wahl endete einstimmig. Wir halten dich für den Attraktivsten von allen, und zwar mit Abstand.“

      Serenus saß auf dem Rasen und sah die zwölf Mädchen an, die in ihren Bikinis auf den Badetüchern lagen. Ihre Augen waren auf ihn geheftet. Er versuchte die Größe dieses Augenblicks einzuschätzen. Würde er jemals wieder ein solch geballtes Kompliment bekommen?

      „Es gibt noch ein paar andere in der Klasse, die etwas hermachen, wenn nicht mehr. Aber eines ist sicher: Ich könnte mich nicht entscheiden, wenn ich die Interessanteste und Hübscheste von Euch bestimmen müsste“, erklärte er schließlich und schenkte seinen zwölf Jurorinnen ein breites Lächeln.

      Als er zu seinen Kameraden zurückkehrte, verlangten diese zu erfahren, was vorgefallen war.

      „Sie wollten wissen, welche von ihnen uns am besten gefällt“, schwindelte er.

      „Und weshalb haben sie gerade dich gefragt?“

      Serenus holte tief Luft.

      „Sie sagten, ich könnte so gut zeichnen und müsste von der Miss Classroom ein Pin-up anfertigen.“

      „Und was hast du geantwortet?“

      „Nur die ganze Gruppe. Und nur oben ohne.“

      Die Jungs grölten.

      „Stellt euch das vor. Die dicke Lili mit ihren Möpsen.“

      „Und erst Mary mit ihrem Flachbrett.“

      Serenus überhörte die Witze der jungen Männer und schwieg. Das Urteil erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit. Es half ihm, seine Unsicherheit abzulegen und nicht mehr über seine Fehler nachzugrübeln. Ein paar Tage später erzählte er Gisela von dem Vorfall. Sie schmunzelte und sagte: „Das konntest du natürlich nicht wissen. Von der ganzen Klasse bist du der Hübscheste und Interessanteste. Das steht außer Frage.“

      Trotz dieser positiven Erfahrung erlebte Serenus von dem Tag, an dem er von Rosannas Flucht erfuhr, bis zu seinem Schulabschluss keine einzige Sekunde, in der