Raya Mann

Serenus I


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was sagen die Leute, ich meine, die Schüler und die Lehrer?“

      „Sie haben Spaß daran und finden es toll. Gisela hat übrigens daneben eine Tafel montiert. Darauf steht TAUSENDUNDEIN WICHTIGTUER.“

      „Warum hat Deine Lehrerin dem Dingsda einen Namen gegeben?“

      „Mir fiel nichts Gescheites ein. Ich hatte mir schon Titel überlegt. ‚Himmelwärts’, zum Beispiel, oder ‚Tausend Sünden’ oder ‚aufrechte Kerle’. Aber Gisela sagte, wir sollten es ins Absurde ziehen, damit niemand daran Anstoß nimmt.“

      Der Vater dachte nach.

      „Es gibt schon etwas Gemeinsames zwischen Deiner Arbeit und einem antiken Mosaik. Ich habe in Rom eines gesehen, das kreisrund war und aus verschlungenen Linien in zwei Farben bestand.“

      Sie schwiegen eine Weile und Serenus überlegte, was er dem Vater erwidern sollte.

      „Man kann immer etwas Neues auf etwas Altes beziehen. Man nimmt ein Bild von Dalí und hält eines von Hieronymus Bosch daneben. Aber Gisela sagt, dass nicht die Kontinuität das Interessante an der Kunst sei, sondern die Brüche.“

      Der Vater sah seinen Sohn fragend an und Serenus fuhr fort.

      „Die Welt war während hundert Jahren ein Versuchslabor, sagt Gisela. Zwischen 1850 und 1950 wurde nur experimentiert. Hundert Jahre Frankenstein, nennt sie es. Dazu gehören die Psychoanalyse und der Marxismus, die Zwölftonmusik und der Jazz, das Bauhaus und der Expressionismus, die Vollnarkose und das Penicillin, die Atomphysik und die Konzentrationslager.“

      Der Vater runzelte die Stirn.

      „Die ganze Moderne war nichts als ein blasphemisches Monstrum, das sich selbständig gemacht hat?“

      „Es musste einmal einen Bruch geben. Seit den Pharaonen war alles auf Herrscher, auf Götter und auf das Jenseits ausgerichtet. Man kann doch nicht dauernd alles einer Idee unterordnen.“

      „Was weißt du denn von dieser Gisela?“ wollte nun der Vater wissen.

      „Als Kind nahm sie Ballettstunden. Während dem Gymnasium trainierte sie wie eine Verrückte und ging nach dem Abi auch wirklich als Tänzerin zum Theater. Dann musste sie zwei Jahre lang wegen einer Verletzung aussetzen. Mehr aus Langeweile begann sie ein Studium in Kunstgeschichte. Sie ging nicht ans Theater zurück, sondern studierte weiter und lebte davon, dass sie Gymnastik- und Ballettunterricht für Kinder gab. Seit zwei Jahren arbeitet sie nun am Humboldt-Gymnasium. Wir waren ihre erste Klasse.“

      „Sie ist also noch jung?“

      „Um die Dreißig.“

      „Dann kam sie auf die Welt, als Frankenstein schon gestorben war“, schmunzelte der Vater. „Was war denn anders in der Kunst, nachdem der moderne Mensch mit Göttern und Geistern gebrochen hatte?“

      „Das Abstrakte und das Individuum.“

      „Das ist mir zu allgemein. Erkläre es mir.“

      „Es geht darum, dass der Künstler schon in der Antike einem Gesetz gehorcht. Er ist einer göttlichen Harmonie verpflichtet, deren Spuren er in der Natur suchen muss. Zur Harmonie hat der Mensch keinen Zugang, denn sie ist irgendwo im Kosmos verborgen. Gott schuf die Natur nach seinem Gesetz. Der Künstler muss diesem Gesetz folgen. Das ging während mehr als zwei Jahrtausenden so. Aber plötzlich lehnen sich die Menschen gegen diesen göttlichen Maßstab auf. Zuerst ist natürlich der Teufel los, als die Impressionisten und Expressionisten loslegten. Ich muss dir wohl nichts von entarteter Kunst erzählen. Das hast du ja selber miterlebt.“

      Der Vater überhörte den letzten Satz.

      „Aha. Mit Abstraktion meinst du also die Abwendung von der Natur. Und das Individuum?“, fragte er.

      „Nach dem zweiten Weltkrieg lag nicht nur die Welt in Trümmern, sondern auch die Gesellschaft und die Kultur. Niemand, der darüber nachdachte, glaubte noch an ein göttliches Gesetz. Heute macht der Künstler, was er will, und das Publikum akzeptiert das inzwischen auch. Er kann wild drauf los schmieren oder eine pedantische Geometrie zeichnen oder ein gefundenes Stück Abfall auf einem Sockel ausstellen.“

      „Und was ist damit gewonnen, wenn die Kunst nicht mehr nach harmonischer Schönheit strebt?“

      „Letztlich nicht viel. Kunst ist heute leider genauso elitär wie im Mittelalter. Es wird wohl nie so sein, dass alle Menschen Künstler sind. Aber mich interessiert, wie Menschen sich ausdrücken und wie unterschiedlich.“

      „Klar. Es ist offensichtlich, dass es dich interessiert. Hast du Pläne in dieser Richtung?“

      „Vielleicht studiere ich nach dem Abi Kunsterziehung.“

      „Du wirst es durchziehen. Du hast einen langen Atem und einen starken Willen. Mit Rosanna bist du auch schon drei Jahre zusammen.“

      „Bald vier Jahre!“, korrigierte Serenus den Vater.

      „Du hast dir da etwas Schwieriges ausgesucht.“

      „Pass auf, was du sagst.“

      „Ich rede nicht von ihr als Mensch. Wir, die Mutter und ich, haben immer respektiert, dass du mit Rosanna zusammen bist. Aber jeder kann sehen, dass sie kein glückliches Mädchen ist.“

      „Ich bin froh, dass ihr nie etwas gesagt habt. Ich meine, ihr habt nie etwas gesagt wegen ihrer Familie.“

      „Weil sie Italiener sind?“

      „Das vielleicht auch. Weil sie eine Plage sind, ganz im Ernst. Giuseppe und Paolo sind Halbstarke oder Kriminelle und der Vater ist ein Psychopath. Rosanna verliert nie ein Wort darüber. Trotzdem spürt man, dass sie zu Hause terrorisiert wird.“

      „Und wie wird sie damit fertig?“ fragte der Vater.

      „Schlecht. Aber sie hat einen Plan. Sie glaubt, sie kommt heil davon, wenn sie ihr Ziel erreicht. Sie wartet nur darauf, dass sie die Flatter machen kann.“

      „Und wie kommst du klar? Ich finde, dass sie seit einiger Zeit ziemlich mürrisch und unzugänglich ist, wenn du mir erlaubst, es so zu nennen.“

      „Wir sehen uns ja nicht so oft. Aber wenn sie kommt, taut sie fast immer auf. Sie geht auch nie im Streit weg. Wir haben eigentlich nie lange Knatsch zusammen.“

      „Du bist ja offenbar auch ziemlich verrückt nach ihr.“

      „Sex ist wichtig. In meiner Klasse gibt es viele Jungs, die Frust schieben. Ich glaube, ich bin der einzige in meinem Jahrgang, der sich austobt.“

      Der Vater schmunzelte.

      „Ich war früher auch verrückt nach Sex.“

      „Früher ist gut“, entfuhr es Serenus.

      „Wieso sagst du das?“, fragte der Vater. „Du kannst offen mit mir reden.“

      „Vor etwa drei Jahren machte mir dein Leopardenmädchen zu schaffen. Ich nahm dir diese Sache ziemlich übel.“

      Der Vater kramte in seinem Gedächtnis und murmelte: „Leopardenmädchen? Kannte ich ein Leopardenmädchen?“

      „Erinnerst du dich etwa nicht an das Buch? The Leopard Girl?“, fragte Serenus. Doch der Vater sah ihn ratlos an.

      „Willst du mir nicht auf die Sprünge helfen?“

      Serenus erklärte dem Vater, wie er das Buch gefunden und gelesen und was es bei ihm ausgelöst hatte. Dann umriss er mit ein paar Sätzen das traurige Schicksal der Missionarstochter. Der Vater pfiff durch die Zähne.

      „Mensch, Serenus, das tut mir leid. Wahrscheinlich liegt das Buch immer noch dort. Ich habe es nie gelesen. Ich kann mich vage an die Bilder erinnern. Das ist ja ein Ding! Dein Onkel hat es mir mal geschenkt oder ausgeliehen. Du weißt schon, Onkel Goldfinger mit dem Aston Martin.“

      Serenus sah keinen Grund, an der Aufrichtigkeit seines Vaters zu zweifeln.

      Die