Gabriele Schillinger

Spuren im Nebel


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vorbei. Sie bot Sue an, ihr beim Autokauf behilflich zu sein. Ann brachte Sue in politischen und kulturellen Dingen am neuesten Stand. Sie lachten viel und es war schön, einmal über anderes als ihrer Vergangenheit zu reden. Es gab ihr das Gefühl, einfach nur ein Mensch zu sein, der sich unterhielt. Ann hatte auch keine Erwartung, dass sie sich Erinnerungen meldeten. Frank machte zwar den Eindruck, viele Erinnerungen verhindern zu wollen, aber wenn sie sich bei manchem ungeschickt anstellte, konnte er sehr unangenehm werden. Er meinte in solchen Momenten meist, dass sie sich zu wenig anstrengen würde, denn dies oder jenes konnte sie früher immer.

      Bei Ann konnte sie offen über ihren Heißhunger nach Fleisch reden, über die Lust nach einer Tasse Kaffee, oder die Neigung zu bequemer Kleidung. Ann hauchte mit ihrer humorvollen Art, dem kalten Wohnzimmer Leben ein. Zudem brachte sie Blumen von ihrem Garten mit, über diese sich Sue riesig freute. Die Vase stand mitten am Tisch, damit der Duft der Blüten überall zu riechen war.

      Nach der zweiten Flasche Wein ging Ann wieder nach Hause. Sue fühlte sich zum ersten Mal nach ihrem Unfall zufrieden. Mit ihrer neuen Freundin konnte sie Zeit und Kummer vergessen. Welch ein Glück, dass sie ihr begegnet war.

      Das Autohaus war voll mit neuen und gebrauchten Wägen. Die Auswahl fiel schwer. Sue wollte lieber ein gebrauchtes Auto kaufen. Sie meinte, bei einem Neuen wäre es schade, wenn sie ihn vielleicht wieder zusammenfuhr. Beide Frauen lachten, denn keine von ihnen hatte eine konkrete Erinnerung an den Unfall und so erlaubte es ihnen die Gefühlswelt, Späße darüber zu machen. Sue hielt nach einem optisch ansprechenden Auto ausschau. Ann erfragte dann die technischen Qualitäten und verhandelte den Preis. Sue bezahlte mit Franks Kreditkarte, die anscheinend kein Limit hatte. Anscheinend stimmte es, dass sie viel Geld hatten.

      Der Verkäufer übergab die Papiere und Nummerntafeln.

      Sue konnte den Wagen gleich mitnehmen und setzte sich schwungvoll hinter das Steuer. Die Frauen fuhren mit dem Bus in die Stadt, damit sie nicht mit zwei Autos heimfahren mussten. Ann saß am Nebensitz und beobachtete Sue, die auf einen Schlag ein wenig hilflos ausschaute. Sie konnte sich einfach nicht erinnern, wie ein Auto zum Laufen gebracht wird. Die Versuche, zu starten, scheiterten. Immer wieder soff der Wagen ab.

      Ihre Freundin bemerkte schnell, was gerade passierte und schlug vor, dass sie erst einmal das Auto nach Hause bringen würde. Sie tauschten die Plätze. Die Heimfahrt erfolgte stillschweigend. Sues Euphorie wurde gebremst und da ihr Gefühlszustand noch recht instabil war, sank die restliche Stimmung für diesen Tag schnell nach unten.

      Ann wusste, dass ihre Freundin jetzt Zeit für sich brauchte. Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten und verabschiedete sich, mit dem Vorwand Schreiben zu müssen, in ihr Haus. In diesem Fall konnte sie Sue nicht helfen, da musste sie vorerst einmal alleine daran arbeiten. Später waren Späße und Aufmunterungen gut, damit sie nicht in dieser Trauer hängen blieb.

      Sue legte sich gleich ins Bett, Tränen kullerten ihr über die Wangen. Ihre Gefühlswelt schwankte sehr zwischen Euphorie und Kraftlosigkeit. Doch so ist es halt im Leben. Von weit oben fällt man manchmal auch weit hinunter.

      Sie rollte sich zusammen, zog sich die Decke über den Kopf und schlief bald schluchzend ein.

      Am nächsten Tag fuhr Sue mit dem Bus zu ihrer Therapeutin.

      Frau Meksch meinte, es wäre recht ungewöhnlich, dass Sue nicht mehr Auto fahren konnte, aber möglicherweise vergaß sie mit dem Autounfall auch ihre Fahrkenntnisse. In den meisten Fällen würden vorwiegend Dinge und Personen vergessen werden, nicht aber Erlerntes, welches unbewusst ausgeführt wurde. Doch der Autounfall war ja mit starken Gefühlen verbunden, also könnten da ihre Fahrkünste mitgerutscht sein. Kann auch sein, dass sich das Unterbewusstsein entschloss, diese Kenntnisse vorerst einmal aus Schutz verschlossen zu halten. Auch die Zeit heilt manchmal Wunden. Wenn Sue also erst viel später wieder mit dem Autofahren konfrontiert würde, dann käme die Unsicherheit, die meist nach so einem Unfall auftritt, nicht mehr so stark hervor. Frau Meksch war tatsächlich eine Künstlerin, jede Situation auch von einer guten Seite zu beleuchten.

      Am Ende des Gespräches wies sie darauf hin, wie wichtig es war, mit Frank über ihre Gefühle und Wünsche zu sprechen. Vielleicht würde er dann im Zuge dessen auch offener zu ihr sein. Zudem meinte sie, dass Sue zuerst einmal ihren Gedächtnisverlust akzeptieren müsse, damit überhaupt die Möglichkeit einer Erinnerung gegeben sei. Sie sagte, dass sich Sue zu viel Druck machen würde und genau das verhindere die Offenheit für die Anreize zum Erinnern.

      Sue grübelte, so hatte sie das Ganze noch überhaupt nicht gesehen. Vielleicht hatte Frau Meksch ja recht und Sue sollte lernen, gelassener mit ihrer Situation umzugehen. Vielleicht wollte sie es am nächsten Tag versuchen, denn heute hatte sie sich noch eine Recherche vorgenommen.

      Nach der Therapiestunde ging sie auf die nächstgelegene Polizeiwache. Sue fragte nach, ob in den letzten Monaten ein schwerer Unfall auf der Hauptstraße passiert war. Zuerst wollte ihr niemand Auskunft geben, doch nachdem Sue ihre Lage erklärte, schaute ein Beamter im Computer nach. Er hatte keinen Eintrag über einen Autounfall, weder vor ein paar Monaten noch vor einem Jahr. Sue war erstaunt und bat den Polizisten, noch einmal nachzusehen, der aber meinte nur, dass sich auch dann nichts finden lassen würde. Er schlug Sue vor, noch einmal ihren Ehemann zu fragen, vielleicht hatte er sich beim Straßennamen geirrt. Ja, mit Frank hatte sie sowieso einiges zu besprechen. Sie bedankte sich bei dem Beamten und verabschiedete sich.

      Die Therapiestunde wirkte noch nach. Ann meinte, dies wäre ein gutes Zeichen, denn dann bewege sich etwas in ihr. Vielleicht sollte sie wirklich ihren jetzigen Zustand akzeptieren und mehr nach vorne schauen, anstelle zurück. Sie musste ja deswegen nicht aufhören nach Hinweisen zu suchen.

      Analyse

      Als Frank wieder zu Hause war, bat Sue gleich um eine Aussprache. Er dachte, sie wäre eifersüchtig, weil er ihre Anrufe nie entgegennahm. Irgendwie freute es ihn sogar, denn wenn sie eifersüchtig wäre, dann gäbe es noch einen Funken Hoffnung für ihre Liebe. Er merkte jedoch schnell, dass es nicht um Eifersucht ging. Sue wollte ihren Mädchennamen erfahren, wissen wo ihre Dokumente waren und weshalb es keinerlei Hinweise über einen Autounfall gab. Frank sah den Laptop auf dem Wohnzimmertisch, also hatte seine Frau nach Spuren der Vergangenheit gesucht. Er wusste zwar, dass sie da nicht viel finden konnte, aber ihre Ausdauer gefiel ihm nicht besonders. Es zeigte ihr Misstrauen.

      Er stand von seinem Stuhl auf und setzte sich neben Sue. Vorsichtig legte er seinen Arm um ihre Taille und sagte: „Bitte vertrau mir Schatz, es ist besser, wenn du die Vergangenheit, Vergangenheit bleiben lässt. Glaube mir, du willst das alles nicht wissen.“ Doch war Frank ein Mann, dem man vertrauen sollte?

      Sue riss sich aus Franks Armen, stand auf und schrie ihn an. Er wollte sie beruhigen, aber irgendwie erreichte er nur das Gegenteil davon. Seine Frau schrie so laut, dass ihr teilweise die Stimme wegblieb. Dann lief sie hoch in ihr Zimmer, warf am Weg dorthin eine Zierschüssel zu Boden, ließ sich aufs Bett fallen und weinte. Frank wollte ihr nichts über die Vergangenheit sagen, er hielt alle Informationen absichtlich zurück. Es war unglaublich, dass er einfach diese Entscheidung alleine traf und damit seiner Ehefrau den Boden unter den Füßen nahm.

      Es dauerte nicht lange, da hörte Sue die Haustüre zuknallen. Frank war gegangen. So wie meist, wenn es um Aussprachen ging.

      Ann hörte den Lärm im gegenüber liegenden Haus und machte sich Sorgen. Sie ging hinüber, um nach dem Rechten zu sehen. Es dauerte eine Weile, bis Sue mit verweinten Augen die Türe öffnete. Ann fragte sofort, ob Frank sie geschlagen hatte. Sue brachte keinen Ton heraus und fiel ihrer Freundin gleich in die Arme. Sie begann erneut zu weinen. Ann ging in die Wohnung, schloss die Türe zu und nahm Sue wieder in die Arme.

      Es dauerte eine Weile, bis Sue ihre Stimme wiederfand, um von dem Vorfall zu erzählen. Frank verheimlichte also etwas, doch was genau war es? Weshalb wollte er nicht, dass sich Sue an die Vergangenheit erinnerte?

      Stotternd berichtete sie auch von den sexuellen Annäherungen, welche nahezu zum Übergriff wurden. Es wäre zwar normal, dass ein Mann auch seine Bedürfnisse hatte, doch