Gabriele Schillinger

Spuren im Nebel


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kurz groß an. Sie zählte sich nicht zu den Männern, hatte aber auch ein sexuelles Verlangen. Bei Sue klang dies recht veraltet, so als wäre es nur für Männer ein Bedürfnis und für Frauen eine Pflicht. Klang also eindeutig so, dass Frank in diesem Bereich nicht der Richtige für sie war.

      Ann mochte Frank nicht sonderlich. Er grüßte weder seine Nachbarn, noch machte er den Eindruck nett zu sein. Der Übergriff an ihrer Freundin festigte lediglich die schlechte Meinung über ihn.

      Was könnte blos so Schreckliches in Sues Leben passiert sein, dass ihr Ehemann sie davon abhalten wollte, dieses zu erfahren? Frank wusste mehr, als er preisgab. Zumindest hörte es sich so an. Sue machte nicht den Eindruck einer Verbrecherin. Vielleicht ein Opfer? Das würde schon ein wenig besser passen. Eigentlich war sie ja auch jetzt eines und nicht nur, weil ihr Ehemann eines aus ihr machte.

      Sue hatte das Recht zu erfahren, was passiert war. Ann wollte ihrer Freundin weiterhin helfen, es musste doch möglich sein, auch ohne Franks Hilfe etwas herauszufinden.

      Nachdem Sue sich beruhigte, schickte sie ihre Freundin ins Bad, damit sie sich das Gesicht wusch. Das kühle Wasser sollte die Schwellung der Augen lindern. Nun wurde überlegt, wie es weitergehen sollte.

      Die Frauen fuhren die Unfallstraße ab, in der Hoffnung, es kämen irgendwelche Erinnerungen zurück. Sue strengte sich an, aber es funktionierte nicht. Ann meinte, es läge vielleicht daran, dass sie nicht hinter dem Lenkrad saß und beschloss, Sue das Autofahren erneut zu lernen. Wenn sie schon einmal fahren konnte, sollte es nicht so schwierig sein. Ann irrte sich. Es war nicht so einfach wie gehofft. Gut, dass Sue sich kein neues Auto gekauft hatte, denn dieses wies jetzt einige Dellen auf. Ann war ein wenig mulmig zumute, denn gerade Linien waren nicht unbedingt Sues Stärken. Kein Wunder, dass sie einen Unfall hatte.

      Mit einen Tag war es also nicht getan, deswegen beschlossen sie die Fahrt am nächsten Morgen fortzusetzten.

      Sue dachte abends wieder über Frank nach. Er fühlte sich fremder als Ann an, welche sie vorher jedoch nicht gekannt hatte. Die Eheleute schienen in einer total unterschiedlichen Welt zu leben. Vom jetzigen Standpunkt aus konnte sich Sue keinen Partner vorstellen, mit dem sie keinerlei gemeinsame Interessen hatte. Warum er derart ausgerastet war, weil sie keinen Sex mit ihm wollte, wusste sie nicht. Hätte er es vielleicht öfter mit sanften Annäherungen versucht, oder sie geküsst, wäre es vielleicht anders gelaufen. Andererseits lief ihr bei dem Gedanken, ihn zu küssen, die Gänsehaut über den Rücken. Aber wer weiß, möglicherweise hätte sie während des Kusses ihre Meinung geändert. Mit seinem Verhalten jedoch waren sie von sexuellen Aktivitäten weiter entfernt, als er zum ersten Mal in der Türe zum Krankenzimmer stand.

      Frank blieb die ganze Nacht weg. Irgendwie war Sue erleichtert, denn die Wut im Bauch war noch groß und für eine Diskussion noch lange nicht der geeignete Zeitpunkt.

      Ann kam wie versprochen schon am Morgen zu ihrer Freundin.

      Langsam fuhren sie die Straße entlang. Ein langer Graben befand sich neben der Fahrbahn, Bäume standen in großen Abständen zwischen Graben und Felder. Die Hauptstraße erstreckte sich über 10 km. Sie durchkreuzte das nächste Dorf und ging dann noch weiter bis zur Stadt. Beim Zurückfahren stiegen die zwei Frauen immer wieder aus, um zu schauen, ob sie eine gefährliche Stelle finden konnten. Ann rauchte sich eine Zigarette an und hielt Sue das Päckchen hin. Ganz selbstverständlich nahm sie eine der Zigaretten und zündete sie an. Plötzlich schauten beide verdutzt. Keinerlei Hustenanfall kam auf und mit welcher Selbstverständlichkeit sie die Zigarette annahm, konnte nur bedeuten, dass sie kurz vor dem Unfall geraucht hatte. Rauchen passte zwar nicht gerade in ihren derzeitigen gesunden Lebenswandel, aber das Unterbewusstsein schien sich trotzdem zu erinnern. Lediglich der Kreislauf meldete sich und es drehte sich ein bisschen im Kopf. Vielleicht störte es sie deswegen nicht, wenn ihre Freundin in ihrem Haus rauchte. Normalerweise mochten dies Nichtraucher weniger, weil sie den Geruch nur schwer wieder aus der Wohnung bekamen.

      Ann schlug vor, dass sie alles, was sie an alten Gewohnheiten bemerkten, aufschrieben, dann würde sich ja vielleicht ein Bild von Sues früheren Leben zusammenfügen. Die Fahrt auf der Hauptstraße schien sowieso erfolglos zu sein. Es war nur ein Strohhalm, an dem sie sich geklammert hatten. Wenn sie nicht auf einfachem Weg zu Sues Erinnerungen kamen, dann blieb nichts anderes über, als dem Unwahrscheinlicheren zu folgen und auf Glück zu hoffen.

      Bei Ann notierten sie bei einer Tasse Kaffee was ihnen bislang so auffiel.

      Ann versuchte geschickt Sues Unterbewusstsein herauszulocken. Sie stellte unbemerkt Naschereien und unterschiedliche Kekse auf den Tisch. Dann beobachtete sie, welche sich Sue nahm. Mit Nüsse, Schokolade, oder die Pralinen mit Marzipan. Dann stellte sie Orangensaft, Soda, Apfelsaft und Bier auf den Tisch. Irgendwann bemerkte ihre Freundin die gut gemeinten Versuche. Sue nahm sich von überall ein Stück, mischte Orangen- und Apfelsaft zusammen, was sie dann noch mit Soda aufspritzte. Ann war irritiert und Sue lachte.

      Also sie war keine Vegetarierin, vielleicht einmal Raucherin, keine gute Autofahrerin, mochte keine Kleider, liebt zeitlose Kleidung, hat Angst vor Spinnen, mag Kaffee, liebt die Natur, Humorvoll, …

      Sue sah sich in dieser Beschreibung wesentlich deutlicher, als in jener von Frank. Natürlich konnte es sein, dass irgendetwas in ihrem Leben eine Entwicklung zur Vegetarierin auslöste, aber an diese Phase konnte sie sich so gar nicht erinnern.

      Beide waren sich einig, dass Frank nichts von dieser Liste wissen musste. Zudem wollte Sue beim nächsten Arzttermin genaueres über ihren Unfall wissen. Warum sie nicht schon längst auf diese Idee kam, einmal beim Arzt nachzufragen, war ihr unerklärlich.

      Frank blieb eine weitere Nacht fern. Sue hätte nicht einmal gewusst, wo sie nach ihm suchen hätte können. Er sagte ihr weder wo, noch was er arbeitete und auch nicht, ob er einen Freund hatte, bei dem er übernachten konnte. Eigentlich wusste sie fast nichts von ihm, was doch recht komisch war. Frank schien die Neugier seiner Ehefrau zu unterschätzen. Es kam ihr manchmal sogar vor, als würde er genauso wenig über Sue wissen wie sie selbst.

      Nachdem sie die Nachrichten im Internet las, schaute sie sich noch einen Film an, bei dem sie wieder einschlief. Um Mitternacht wandelte sie halb schlafend ins Bett.

      Sue rief gleich am Morgen beim Arzt an, ob sie vorbei kommen könnte. Am Nachmittag machte sie sich wieder mit dem Bus auf den Weg. Als sie dem Doktor gegenüber saß und den genauen Unfallhergang erfahren wollte, winkte dieser nur ab. Er wusste nichts von einem Unfall, ihr Ehemann hatte sie vor 2 Monaten zu ihm gebracht. Frank sagte nur, es ginge ihr seelisch nicht gut, weil sie ihre ganze Familie verlor. Im Gegenteil, er war überrascht, dass sie aufgrund eines Autounfalles ihre Erinnerung vergessen hatte. Nun war ihm klar, weshalb er die Erzählungen seiner Patientin recht verwirrt empfunden hatte.

      Die ganze Zeit glaubte Sue, der Arzt wusste Bescheid. Sie brachte ihn auf ihren Wissensstand. Der schaute Sue prüfend in die Augen, welche ihn schließlich überzeugten. Dann meinte er, dass die Medikamente neu eingestellt und getauscht werden mussten. Wenn die Lage so wäre, dann wunderte ihn nicht, dass sie nicht den gewünschten Erfolg brachten.

      Er fand es aber gut, wenn sie mit Frau Meksch ausführlich darüber sprach. Sie könnte ihr ein paar Übungen zeigen, die für die Entspannung gut waren und den Kopf einmal ausschalteten. Auf diesen Weg hätte dann das Unterbewusstsein mehr Platz. Vielleicht käme dann das eine oder andere wieder zum Vorschein.

      Noch verwirrter als zuvor fuhr sie wieder nach Hause. Bei was hatte Frank sie noch angelogen? Er wollte nicht, dass sie im Krankenhaus die Nachbehandlung durchführen ließ. Er meinte, dieser Arzt wäre besser und dann erzählte er nicht von dem wahren Grund ihres Kommens?

      Sue wollte es gleich Ann erzählen, aber obwohl Licht brannte, öffnete sie nicht die Türe. Wahrscheinlich hatte sie schon genug von Sues Problemen, zudem musste sie ihr Buch fertig schreiben.

      Frank war noch immer nicht zurück. Erneut kam ihr das Haus furchtbar leer vor. Sie legte sich auf die Couch, vergrub ihr Gesicht in einem Polster und weinte. Weshalb war es so schwierig sich wieder zu erinnern, oder einfach ohne Erinnerung zu leben? Es gibt Menschen, die ihre Vergangenheit nie mehr zurückbekommen. Auch die schafften es trotzdem ihr Leben zu meistern.

      Es