Kurt Mühle

Zelenka - Trilogie Band 3


Скачать книгу

gesucht haben. Und da ich im Moment Probleme habe, mir vorzustellen, was ein Rollstuhlfahrer zu Hause mit einer alten Brechstange anfängt, liegt es nahe, dass der Täter das Teil als Waffe mitgebracht hat. Und wenn das so war, kam er auch in der Absicht zu töten. Weil es augenscheinlich keine Einbruchspuren gibt, hat das Opfer dem Täter eventuell freiwillig Einlass gewährt.“

      „Es sind keinerlei Kampfspuren zu entdecken“, ergänzte Petzold. „Der Mann wurde offenbar heimtückisch in seinem Rollstuhl von schräg hinten erschlagen.“ Er nahm vorsichtig die Brechstange auf und demonstrierte seiner Kollegin, wie der tödliche Schlag wahrscheinlich ausgeführt wurde.

      „Habt ihr eine Rundumverfilmung des Tatortes gemacht?“, wollte Marion wissen. Als sie hörte, die Spurensicherung habe die spezielle Filmkamera nicht dabei und deshalb nur Fotos vom Tatort und Detailaufnahmen der Spurennummern gemacht, riet sie ihm dringend, dies nachzuholen, - gerade so, als sei sie immer noch seine Chefin. „Was ist mit der Frau, die aus dem Haus flüchtete?“

      „Wahrscheinlich die Putzfrau oder so jemand. Laut Nachbarn kam regelmäßig eine Frau zu Herrn Rossili. Die muss vor Schreck den Staubsauger fallen gelassen haben und getürmt sein. Das Ding lief jedenfalls noch, als wir kamen.“

      „Okay, Gerd“, meinte Marion nach einer Weile. „Das ist euer Fall. Viel Glück, und halt mich bitte auf dem Laufenden. Ich fahr’ zurück ins Präsidium.“

      Beim Herausgehen fiel ihr Blick auf einen Drucker, über dem das Anschlusskabel baumelte. Sie wandte sich noch einmal um und fragte in die Runde: „Wo ist denn der zugehörige Computer?“

      „Einen Laptop oder einen PC haben wir noch nicht entdeckt“, erwiderte ein Beamter der Spurensicherung.

      „So. Ist ja interessant.“ -

      Auf der Rückfahrt ins Präsidium beschäftigte sie sich in Gedanken ganz und gar mit Dieters gewaltsamem Tod, für dessen Aufklärung allerdings das Kommissariat 20 unter Petzolds Führung zuständig sein würde. Sie hatte Dieter das letzte Mal gesehen auf dem Klassentreffen vor etwa fünf Jahren, das sie zwar nicht als ehemalige Mitschülerin sondern bereits als Hauptkommissarin Zelenka besuchte. Denn zuvor hatte man beim Abriss einer alten Eisengießerei dort im ehemaligen Altsandbunker ein männliches Skelett gefunden. Untersuchungen ergaben, dass es sich dabei um den seit neun Jahren vermissten Bruno handelte.

      Bruno war seinerzeit mit einigen Klassenkameraden nächtens in die stillgelegte Gießerei gegangen. Warum dieser dubiose Exkurs stattfand, blieb letztlich ungeklärt. Nur eine Tatsache blieb: von diesem Tage an war Bruno wie vom Erdboden verschwunden. Angeblich hatte er sich nach dem Besuch der Industriebrache nicht wohl gefühlt, war in einen Bus gestiegen und ward seitdem nicht mehr gesehen.

      Als die Gerichtsmediziner Jahre später das gefundene Skelett eindeutig Bruno zuordnen konnten, ging die Staatsanwaltschaft von einem Tötungsdelikt aus. Das K21 unter Marion Zelenka wurde eingeschaltet. Das wenig später stattfindende Klassentreffen nutzte sie, den betroffenen Ehemaligen unverblümt mit einer knallharten Untersuchung zu drohen.

      Aber damit hatte sie wohl irgendetwas Untergründiges ins Rollen gebracht. Rechtsanwälte schalteten sich ein, nicht etwa offen, sondern im Verborgenen über persönliche Kontakte zu dieser oder jener einflussreichen Stelle. Ihr Chef, Kriminalrat Dr. Sowetzko, riet zu behutsamer Behandlung dieser alten Sache. Da Marion jedoch auf diesem Ohr taub schien, entzog man ihr kurzerhand den Fall mit der Begründung, als ehemalige Mitschülerin des Opfers und auch der Tatverdächtigen sei sie möglicherweise voreingenommen gegen diesen oder jenen. Ihr unsensibel rabiates Vorgehen gegen ehrenwerte Mitbürger hätte ohnehin schon zu Protesten geführt. Der Fall sei daher in neutralen Händen besser aufgehoben.

      Kommissar Hasenbach, Marions erbitterter Widersacher und damals noch Leiter des K20, wurde mit der Aufklärung betraut. Hasenbachs Erfolgskurve verlief zu dieser Zeit schon äußerst flach. Irgendwelche Unterstützung durch Marion erhielt er nicht. Im Gegenteil, - sie war frustriert über die Maßnahmen der Obrigkeit, schaltete auf stur und wollte fortan von diesem Fall kein Wort mehr hören.

      Hasenbach konnte auch diesmal keinen Erfolg vermelden. Andere Spuren als die Vernehmungen von Zeugen blieben nach so langer Zeit nicht verfolgbar. Und diese Zeugen gaben sich entweder gegenseitig Alibis oder konnten sich an entscheidende Einzelheiten nicht mehr erinnern. Brunos Fall landete nach und nach bei den ungeklärten Fällen, und kein Hahn krähte mehr danach.

      Als Dr. Sowetzko ihr gegenüber diesen Misserfolg einmal wie nebenbei kurz erwähnte, erhielt er von Marion statt eines Kommentars nur ein spöttisches Lächeln. Doch diese Reaktion versetzte ihm einen tieferen Stich als es Worte hätten tun können. Schließlich war es nicht seine Idee gewesen, Marion den Fall zu entziehen. Es war vielmehr die Bitte seines Freundes, des Oberstaatsanwaltes Dr. Kämmereit, gewesen, gefolgt von dem betont unverbindlich geäußerten wohlgemeinten Ratschlag des Polizeipräsidenten, - irgendwann am Buffet anlässlich irgendeines Jubiläums.

      Solche Randbemerkungen wusste der Kriminalrat durchaus richtig einzuschätzen, und nicht selten verursachten sie ihm Magenschmerzen. Doch je näher der Zeitpunkt seiner Pensionierung rückte, desto weniger war er bereit, sich auf diese Weise manipulieren zu lassen. Vielleicht war dies ein Grund dafür, dass seine Freundschaft zu Dr. Kämmereit in letzter Zeit merklich abgekühlt war. Der Oberstaatsanwalt seinerzeit unterstellte in einem vertraulichen Gespräch mit dem Polizeipräsidenten seinem Freund schlichtweg Alterstarrsinn. -

      Ein Anruf lenkte Marion von ihren Gedankengängen an Vergangenes ab. Mit Sven, ihrem Lebenspartner, diskutierte sie über die Freisprechanlage, ob er Karten für das Bundesligaspiel MSV Duisburg gegen Schalke 04 oder für eine Open-Air-Veranstaltung in Krefeld besorgen solle. Nachdem der Fußball das Rededuell gewonnen hatte, erwähnte Sven noch, dass er in seiner Firma seinen Urlaub beantragen müsse. „Bleibt es definitiv bei Ende Mai, Rio?“ fragte er im Hinblick auf den durch Marions Schussverletzung zwangsläufig verschobenen Heiratstermin.

      „Klar, falls du dir das immer noch antun willst“, antwortete sie lachend. „Du hast es vor kurzem selbst erlebt: Mit mir bist du einem Begräbnis näher als einer Hochzeit. Denk nächste Woche in Ruhe drüber nach, wenn ich mit Luise auf La Palma weile.“

      „Sinnlos, Rio. Ebenso sinnlos wie darüber nachzudenken, ob eins und eins wirklich zwei ergeben.“

      „Männerlogik“, erwiderte sie amüsiert. „Aus meiner Abi-Klasse ist übrigens gerade wieder jemand sehr unsanft in Manitus ewige Jagdgründe befördert worden. Hoffentlich bin ich nicht die nächste.“

      Er schwieg, und sie biss sich auf die Lippen. Das hätte sie nicht sagen sollen; denn es würde in Sven die Erinnerung wecken an seine Frau und an seine Tochter, die er beide bei einem Flugzeugabsturz in Portugal verloren hatte.

      „Tut mir Leid“, fügte sie rasch hinzu. „Ich werde also Ehefrau aus mathematisch-logischen Gründen. Oder gibt’s etwa noch ’nen anderen Anlass?

      „Klar doch. Weil ich dich absolut überhaupt nicht leiden kann.“

      „Na, das ist immerhin ’n Grund. Geht mir genau so.“

      „Zicke!“

      „Hackklotz!“ Das selige Lächeln verschwand urplötzlich aus ihrem Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie um Haaresbreite auf den Wagen vor ihr aufgefahren wäre. -

      Ein paar Tage später bestellte Dr. Sowetzko Marion zu sich. Für sie standen bereits Kaffee und Gebäck bereit, - eine höchst ungewöhnliche Situation im Büro des Kriminalrates. Hui, der will was von mir, dachte sie misstrauisch, nahm betont langsam Platz und sah den Chef aus ihren leuchtend blauen Augen lauernd an.

      „Mein Ruhestand rückt näher, Frau Zelenka“, sagte er mit geradezu feierlicher Stimme. „Und ich habe das Befürchtung, dass man dort“ - er deutete mit dem Zeigefinder nach oben - „schon an einem vorgezogenen Termin bastelt. Egal, mich ficht das nicht an. Denn es gibt im Leben wahrlich Angenehmeres als den Polizeialltag.“

      Marion nickte bedächtig und dachte: Letzteres