Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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passenden Antworten oder nach der rettenden Idee ab. Sie alle hatten in ihren Häusern diese Landkarte, die erst vor wenigen Wochen so wie jeden dritten Vollmond durch einen Boten ergänzt worden war. Sie hatten alle befürchtet, dass es diesmal knapp werden würde. Aber dass es dann tatsächlich nicht klappen sollte, daran hatte keiner geglaubt.

      „Eine Katastrophe“, sagte Korbinian nach einer langen Stille. Seine Stimme war fast ein Flüstern. „Sechs sind zu wenig, dass ist euch allen klar. Wenn wir es nicht schaffen, bis zum übernächsten Vollmond den siebten Lehrling hier in Filitosa begrüßen zu dürfen, wird unser Zuhause ohne jeden magischen Schutz sein! Sieben mal sieben Lehrlinge geben einen Teil ihrer Kraft für die Zauber, die jeden Menschen ohne die Gabe an unserem Dorf vorbeiziehen lassen, als wenn es diesen Ort nicht geben würde. Sieben mal sieben, die all jene ihre Gedanken an uns vergessen lassen, mit denen wir Handel treiben. Wenn jetzt die Kette reißt, wird uns jeder finden, sich jeder an uns erinnern können. Und wie sollten wir uns sicher sein, dass die Menschen uns nicht wieder verfolgen, weil sie nicht begreifen, dass wir nur ein wenig anders sind? Die Situation ist ernst. Wirklich ernst!“

      Nach einer weiteren nachdenklichen Pause erhob er sich wieder und wandte sich der Tür zu. „Lasst uns morgen früh weiter beraten. Für heute Abend können wir noch einmal die trüben Gedanken ein wenig beiseite stellen. Wir sollten uns stärken und bei einem guten Glas Wein über Eure Erlebnisse sprechen. Wir haben uns alle lange nicht mehr gesehen, da gibt es sicher viel zu erzählen. Und hoffentlich bringt uns ein guter Schlaf auch eine gute Idee. Wir brauchen eine Lösung. Unbedingt!“

      Alle standen auf und warteten an ihren Plätzen, bis ihr Oberhaupt den Raum verlassen hatte. Danach löste sich die fast greifbare Spannung etwas, und die Teilnehmer verließen unter leisen, ernsten Gesprächen das Convenium. Das Licht der Kerzen verlosch wie von Geisterhand, als die schwere Tür ins Schloss fiel.

      Über dem flackernden Kamin schimmerten die sechs Kreise auf der Karte in der Dunkelheit.

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      Meara schritt zügig aus. Im Tal vor sich konnte sie schon das Dorf erkennen, in dem sie vor dem aufziehenden Unwetter um Schutz bitten wollte. Eine Scheune würde schon genügen; im Vergleich zu einer Nacht in freier Natur war ein Heuhaufen schon fast ein Himmelbett! Und wenn sie schon in einem Dorf war, wollte sie auch gleich nach einer Arbeit fragen. Ihr Geldbeutel litt seit einigen Tagen unter bedenklicher Magersucht – dagegen musste etwas unternommen werden! Sie verstand sich gut auf ihr erlerntes Handwerk, auch wenn man ihr die Zimmermannskunst nicht unbedingt an der Breite der Schultern ansehen konnte.

      Meara war im vorigen Sommer mit ihrer Lehre fertig geworden und befand sich nun schon seit einem Jahr auf Wanderschaft. Sie trug mit Stolz die Kleidung der wandernden Gesellen, das Hemd aus weißem Leinen sowie Hose, Weste und Jacke aus festem schwarzem Kordstoff. Ihre langen flachsblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der unter dem großen schwarzen Hut keck hervorschaute. In ihrem rechten Ohr blitzte ein schmaler goldener Ohrring. Den Knotenstock hatte sie über die Schulter gelegt, an seinem Ende war der Beutel mit ihrer Habe fest angebunden.

      Meara war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Die Burschen in den Dörfern und Städten hatten ihr schon oft hinterhergepfiffen, der eine oder andere hatte sie sogar auf einen Wein in die Schänke eingeladen. Aber Meara hatte immer dankend abgelehnt. Sie wusste, dass eine Freundschaft mit einem der Burschen nie von Dauer gewesen wäre, denn die Lehre als Zimmermann war nicht die Einzige, die sie im vergangenen Sommer erfolgreich beendet hatte – sie musste damals auch ihre Hexenprüfung ablegen und hatte diese mit Bravour bestanden!

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      Ein deutlicher Rülpser war zu vernehmen, als Quentin sich an den breiten Birkenstamm zurücklehnte. „Hups! Entschuldigung!“, sagte er, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Genau! Jetzt entschuldige ich mich schon bei den Bäumen für mein schlechtes Benehmen!“, prustete er, bevor ihn ein neuer Lachanfall durchschüttelte und er, sich den Bauch festhaltend, zur Seite sackte.

      Nach und nach kam Quentin wieder zu Atem. Ein letztes Kichern entwich ihm, dann konnte er sich wieder aufsetzen. Er machte es sich erneut am Stamm gemütlich und schaute auf den weiten See hinaus. Der See war so groß, dass er das gegenüberliegende Ufer ahnen, aber nicht wirklich sehen konnte. Vor ihm entstand in diesem Moment ein überwältigender Anblick. Die Sonne ging unter. Sie verwandelte den Himmel mit seinen Wolkentürmen in eine schaurig-schöne Märchenlandschaft aus tausend verschiedenen Abstufungen von Rot, die sich auf der Oberfläche des Sees spiegelte. Quentin saß still und staunend am Ufer, bis die Sonne hinter dem Horizont versunken war.

      Dann war es dunkel. Die Flammen umspielten das Feuerholz und warfen tanzende Schatten in den Wald hinter ihm.

      Angst hatte Quentin nicht. Er war in einem kleinen Dorf an einem Waldrand aufgewachsen und oft im Dunkeln durch den Wald gelaufen. Aber das alles lag jetzt viele Tagesmärsche im Süden ... Seine Gedanken flogen zurück zu seinem Elternhaus.

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      Quentin war ein Junge mit ständig zerrissenen Hosen, aufgescheuerten Knien, dreckigen Fingernägeln, und das Ganze natürlich nicht unbedingt zur Freude seiner Mutter. Aber es gab ja auch so viel zu entdecken! Überall konnten Schätze versteckt sein, einmal hatten sie sogar eine alte Münze gefunden! Quentin zog ständig mit Simon, seinem bestem Freund, durch das Dorf und den angrenzenden Wald. Wenn sie nicht gerade auf Schatzsuche waren, angelten sie am Bach, schwammen im See und taten auch sonst alles, was Jungs Spaß macht.

      Mit den anderen Kindern im Dorf hatten Quentin und Simon nicht viel Kontakt. Die fanden ihn „komisch“, nannten ihn „Spinner“. Dabei fand er sich eigentlich ganz normal. Bis auf die Sache mit den Geschichten. Das konnten die anderen irgendwie nicht. Nicht Geschichten erzählen, sondern das, was passierte, wenn Quentin Dinge berührte. Dann erzählten ihm die Dinge ihre eigene Geschichte.

      Wenn er einen Stein auf dem Weg berührte, wusste Quentin plötzlich, aus welchem Steinbruch er kam. Wie er aus dem Felsen gehauen wurde und wie er dann auf dem Weg gelandet war.

      Wenn er einen Nagel berührte, erzählte ihm dieser seine Geschichte. Wie er geschmiedet worden war. Dass er vielleicht einmal ein Hufeisen an einem Reitpferd festgehalten hatte.

      Zuerst hatte Quentin gedacht, ihm würde das alles einfach nur einfallen. Zuerst hatten die anderen Kinder auch immer gelacht. Die Erwachsenen hatten gesagt, er habe „eine blühende Fantasie“. Aber Quentin merkte immer deutlicher, dass er nicht fantasierte, sondern tatsächlich etwas besaß, was die anderen nicht hatten.

      Und als er immer wieder Dinge erzählte, die tatsächlich wahr waren, die er aber nie und nimmer wissen konnte, zogen sich die Kinder – meist auf Geheiß ihrer Eltern – mehr und mehr von ihm zurück.

      Da war zum Beispiel die Sache mit dem Bilderrahmen im Haus des Schusters. Der umrahmte ein Bild von einem bunten Blumenstrauß. Als Quentin ihn berührte, wusste er sofort, dass früher einmal das Bild von der Mutter des Schusters darin gehangen hatte. Der Schuster staunte nicht schlecht, als Quentin ihn neugierig fragte, was er denn mit dem Bild seiner Mutter gemacht habe.

      Es dauerte nicht sehr lange, da wurden seine Eltern von den Nachbarn gemieden. Das war besonders deshalb schlecht, weil sein Vater eine Mühle hatte und für die Bauern das Korn mahlte. Das Geschäft ging immer schlechter. Im Dorf wurden schon Worte wie „die Hexenmühle“ hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Schon zweimal hatte irgendjemand versucht, die Mühle anzustecken. Zum Glück hatte die Familie das Feuer jedes Mal rechtzeitig bemerkt, sonst wäre alles niedergebrannt.

      Simon war das mit den Geschichten egal. Er hatte viel Spaß mit Quentin. Vielleicht hätten die anderen Kinder das ja auch gern gehabt, aber sie hatten nun mal Eltern, die sagten: „Spiel nicht mit Quentin, der ist komisch, der passt nicht hierher!“

      Bei Simon war das anders. Er wohnte beim Gastwirt in der Dorfschänke. An seine Eltern konnte er sich kaum noch erinnern. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater war eines Tages vom Bäumefällen im Wald nicht mehr zurückgekommen. Da hatten ihn die Wirtsleute bei sich aufgenommen. Er musste natürlich in der Wirtschaft helfen, aber das war für ihn eher ein Spaß als eine