Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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manchmal damit auf. Wenn die beiden auf ihren Entdeckungsreisen an einem Wegstein vorbeikamen, sagte Simon zum Beispiel: „Quentin, fass doch mal den Stein da an! Ich würd’ gern wissen, wann der Marketender mit den süßen Sachen wieder ins Dorf kommt!“

      Dann kam der schlimmste Tag in Quentins Leben. Sein Vater nahm ihn beiseite und sagte mit sorgenvollem Blick: „Mein Junge, Deine Geschichten machen uns das Leben immer schwerer. Wir haben bald keine Arbeit und auch kein Essen mehr, weil die Leute nicht mehr zu uns kommen. Wir müssen aber doch essen und trinken! Es ist einfach so: Du machst den Leuten Angst mit diesen Geschichten. Der Himmel allein weiß, wie Dir immer solche Sachen einfallen! Du kannst wohl nichts dafür, aber Du bist irgendwie anders als die anderen. Und die Leute mögen es nicht, wenn jemand anders ist. Quentin, Du bist jetzt alt genug, um bei einem Handwerksmeister in die Lehre zu gehen. Es zerreißt mir das Herz, Dich fortzuschicken, aber es ist für uns alle besser, wenn Du gehst und anderswo Dein Glück suchst!“

      Er gab ihm einen Rucksack voll mit nützlichen Sachen, seine Mutter packte ihm ein wenig zu essen ein. Jedes seiner sechs Geschwister gab ihm noch ein kleines Andenken mit.

      Dann kam die Stunde des Abschieds. Sie waren alle sehr traurig, aber sie schickten ihn von zuhause weg. Quentin verstand nicht, warum das so war. Aber er war dreizehn Jahre alt, und er war ein folgsames Kind. Und deshalb tat er, was seine Eltern von ihm verlangten, auch wenn es ihm noch so schwer fiel.

      Als er ging, verschwamm der Weg nach Norden in seinen Tränen. Er hatte noch nicht einmal Simon Lebewohl sagen können.

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      Quentin öffnete verschlafen die Augen und blinzelte in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Über seine Gedanken an zuhause musste er eingeschlafen sein. Es war kühl, aber die Nacht war trocken geblieben. Das Feuer war heruntergebrannt, aber als Quentin ein bisschen in der Asche stocherte, fand er noch ein wenig Glut. Er legte dünne Zweige an und blies ganz vorsichtig in die Asche, bis eine kleine Flamme aufflackerte. Schnell brannte ein Feuer, an dem Quentin sich wärmen konnte. Der Rest des leckeren Karpfens, den er am Vorabend nicht mehr geschafft hatte, vertrieb die letzten traurigen Gedanken.

      Nach einer Weile machte er sich auf den Weg. Wieder Richtung Norden, ohne ein echtes Ziel. Das würde sich schon von allein ergeben, da war Quentin sich sicher.

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      Korbinian begann seinen Tag mit einem frühen Spaziergang durch das um diese Zeit noch sehr ruhige Dorf Filitosa. Filitosa war eine weitläufige Anlage, die vor unzähligen Generationen mitten im Wald, weitab von der nächsten Ansiedlung, angelegt worden war. Es gab Bauernhöfe, ein Sägewerk, eine Tischlerei, eine Schmiede, eine Käserei, einen Metzger, einen Bäcker, eine Töpferei, eine Glasbläserei, eine Imkerei, eine Mühle, eine Weberei, ein kleines Weingut, eine Schneiderei, und all das umrahmte der dichte Wald in Form eines großen Pentagramms. Im Zentrum lag ein großes wehrhaftes Gebäude. Es bildete die Hauptunterkunft der Zauberer und Hexen.

      Das Dorf war unabhängig von jeglicher Versorgung, und zwar mit Absicht. Als die Menschen begannen, sich mehr und mehr von den Magiern abzuwenden, sie aus ihren Dörfern zu verjagen oder schließlich sogar zu verfolgen, beschloss die große Versammlung, einen sicheren Rückzugsort zu gründen. Und so schufen sie das Dorf Filitosa. Alle Wege dorthin waren mit mächtigen Zaubern geschützt, und niemand, der nicht über die Gabe verfügte, hätte das Dorf jemals gefunden.

      Die Betriebe in Filitosa wurden allesamt von fast ausgelernten Lehrlingen geführt, ältere Magier kümmerten sich als Lehrmeister nur um die handwerkliche Ausbildung. Alle Lehrlinge erlernten so neben der Magie auch einen richtigen Beruf, der ihnen das Leben in der Welt der Menschen erleichterte. Etliche Hexen und Zauberer lebten auf diese Weise in den Dörfern und Städten außerhalb von Filitosa, ohne jemals aufzufallen.

      Der Name Filitosa kam übrigens nicht von ungefähr: Viele Orte mit magischer Bedeutung auf der ganzen Welt trugen diesen Namen. Als die Zauberer und Hexen damals dem Dorf seinen Namen gaben, hofften sie, dass damit Magie in seine Mauern einziehen würde. Nun, ob es tatsächlich am Namen Filitosa lag, konnte nach der langen Zeit niemand mehr herausfinden. Tatsache blieb, dass aus Filitosa im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ein äußerst magischer Ort geworden war.

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      Korbinian begrüßte auf seinem Weg durch Filitosa alle, die um diese frühe Zeit schon unterwegs waren. Er kannte hier jeden mit Namen, obwohl das Dorf insgesamt auf etwa einhundertundsechzig Hexen, Zauberer und Lehrlinge kam. Korbinian nahm sich für alle Zeit, die sich mit kleinen oder größeren Anliegen an ihn wandten. Das verstand er nicht nur als seine Pflicht, er tat es gern. Außerdem spielte Zeit in Filitosa keine wirklich große Rolle. Über die Hast der Menschen konnte Korbinian meist nur lächeln. Nur im Moment nicht. Das Problem mit der unbesetzten Lehrlingsstelle war tatsächlich sehr ernst. Er hatte noch keine Idee, wie sie es schaffen sollten, in der Zeit bis zum übernächsten Vollmond einen geeigneten Kandidaten zu entdecken. Hoffentlich würde die Versammlung eine Lösung finden. Korbinian war zum ersten Mal in seinem langen Leben wirklich ratlos.

      Als er an der Bäckerei vorbeikam, konnte er dem Duft nicht widerstehen, der aus der offenen Tür wehte, er zog ihn magisch an. Mit einem Lächeln darüber, dass er gerade in Gedanken auch Brot und Brötchen in die Familie der Magier aufgenommen hatte, betrat er die Bäckerei.

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      Adina, die die Bäckerei leitete, empfing ihn mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Ihre Zwillingsschwester Amina, die eigentlich die Metzgerei führte, war ebenfalls anwesend und stimmte fast gleichzeitig in den Morgengruß ein. Beide Schwestern waren in ihrem letzten Lehrjahr und sollten demnächst ihre Prüfungen ablegen.

      Nachdem Korbinian den beiden ebenfalls einen guten Morgen gewünscht hatte, schaute er sich in dem kleinen Laden um. Wie immer war alles blitzblank geputzt und aufgeräumt, die verschiedensten Gebäcke lagen in friedlicher Eintracht nebeneinander in den Regalen und warteten auf Kundschaft. Brot und Brötchen waren schon lange fertig, die Bäckerlehrlinge hatten bereits angefangen, süße Teilchen und Kuchen für den Nachmittag vorzubereiten.

      Korbinian malte sich schon in Gedanken aus, wie er in ein knuspriges Brötchen biss, da wurde er von Adina angesprochen. „Kann ich Dir etwas Bestimmtes geben, Korbinian? Alles ist ganz frisch! Hier, von den Maisbrötchen solltest Du unbedingt probieren, die backen wir erst seit einer Woche!“ Sie sah, dass Korbinian sich zwischen den vielen verschiedenen Sachen nicht entscheiden konnte und wartete ein wenig. Korbinian schüttelte langsam den Kopf und sah sie an. „Liebe Adina, das sieht alles so gut aus … ich weiß gar nicht, was ich zuerst probieren soll!“

      Amina hatte einen Einfall: „Wie wär’s, wenn ich schnell ein wenig Wurst aus der Metzgerei hole? Honig müsste ich auch noch da haben. Dann können wir zusammen frühstücken, und Du kannst in aller Ruhe von allen Brötchen probieren, bis Du weißt, welches am besten schmeckt!“

      Korbinian musste nicht lange überlegen. Bis zum Versammlungsbeginn waren es noch einige Stunden, und im großen Speisesaal würde sein Fehlen beim Frühstück niemanden stören. Also willigte er zur Freude der Zwillinge ein.

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      Quentin wanderte durch einen Wald. Die Vögel sangen ihre schönsten Lieder, als wenn sie ihn freudig in ihrem Zuhause begrüßen wollten. An einem Bach machte er die erste Pause an diesem Morgen und trank von dem klaren Wasser. Er hatte sich für seine Rast eine kleine Lichtung ausgesucht. Dickes Moos wuchs auf dem Boden und bildete einen weichen Teppich. Zum Bach hin wuchsen Wiesenschaumkraut und andere kleine Blumen, die Quentin aber nicht kannte. Schmetterlinge flatterten geschickt von einer Blüte zur anderen und sammelten Nektar. Quentin setzte sich auf das Moos und blickte in die Runde. Ein Stück weiter unterhalb sah er ein Reh, das ebenfalls seinen Durst am Bach löschte. Sie sahen sich beide an, und Quentin befürchtete schon, dass das Reh gleich fliehen würde. Aber das Tier schien zu spüren, dass von dem Jungen keine Gefahr ausging. Es trank ruhig weiter und ging dann zu einem Grasflecken in der Nähe, um zu äsen. Quentin sah dem Reh noch eine Weile zu, dann machte er sich wieder auf den Weg.

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      Als