Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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getaucht, in dem der Magier kaum noch zu sehen war.

      Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Das Nebelrad breitete sich als großer Ring mit rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Drang durch Regale, Türen, Fenster, Mauern. Setzte sich außerhalb des Haupthauses als immer größer werdender Kreis fort. Raste durch Wälder, über Felder und war nach weniger als einem Augenblick in der Ferne verschwunden.

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      Meara blieb stehen. Ein Kribbeln fuhr ihr über die Haut, und an ihren Armen standen alle Härchen hoch. Ihr Blick schweifte suchend umher. Kein Laut war zu hören, die Luft war aufgeladen wie vor einem Sommergewitter.

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      Quentin wachte auf. Ein seltsames Gefühl hatte ihn aus seinen Träumen gerissen. Er lauschte in die Nacht, aber er konnte nichts hören. Er trat aus dem Schutz der Trauerweide und sah sich um.

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      Dann war es da!

      Es fegte mit einem lauten Knall dicht über Meara und Quentin hinweg und warf sie beide zu Boden.

      Bevor einer der beiden wusste, was geschehen war, war es schon wieder am Horizont verschwunden. Elektrische Entladungen zuckten als Blitze durch die Luft und zwischen den Ästen, dann war es wieder völlig still.

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      Im Speisesaal waren alle verstummt. Einige Gläser waren umgefallen, der Rotwein lief in kleinen Rinnsalen unbeachtet über die Tische. Eigentlich wussten alle, was geschehen war, aber der Zauber, den man am ehesten mit „Eilt herbei!“ übersetzen konnte, hatte einen Effekt, dem sich kein Magier entziehen konnte. Und da Korbinian mit einem Schlag alle Magier und wandernden Gesellen im Land erreichen musste, war die Stärke des Zaubers von immenser Kraft.

      Langsam setzten die Gespräche wieder ein. Da die Wirkung des Zaubers nachließ, sobald man das Dorf betreten hatte, war die magnetische Wirkung auf die anwesenden Magier schnell wieder verflogen.

      Draußen waren alle Lehrlinge, die sich bereits auf dem Weg zum Convenium befanden, instinktiv in Deckung gegangen. Amina und Adina rappelten sich wieder auf. Der Knall war so laut gewesen, dass sie gedacht hatten, das Haupthaus würde in Schutt und Asche liegen. Eine solche Erscheinung hatten sie noch nie gesehen. Merkwürdig war nur, dass alle Gebäude völlig unbeschadet dastanden. So, als wäre nichts passiert. Da alles in Ordnung zu sein schien, machten sie sich mit befremdeten Gesichtern wieder auf den Weg.

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      Meara wusste sofort, dass sie gerufen worden war. Es zerrte sie förmlich in die Richtung, in der Filitosa lag. Und sie wusste auch, dass sie spätestens in einer Woche da sein musste. Im Moment war sie mindestens drei bis vier Tagesmärsche vom Dorf entfernt – in gerader Linie. Jetzt wünschte sie sich, dass diejenigen Geschichten der Menschen wahr waren, die erzählten, dass Hexen und Zauberer auf Besen durch die Gegend fliegen konnten. Aber leider mussten sich Magier wie alle anderen fortbewegen. Und ein Pferd besaß Meara nicht. Blieben also nur ihre eigenen Füße übrig.

      Naja, wenigstens musste sie sich nicht an die Wege der Menschen halten. Mit einem Zauber konnte sie ein Feld um sich herum erschaffen, mit dessen Hilfe man durch jedes Hindernis hindurchgehen konnte, ohne es dabei zu zerstören. So hätte sie auch durch Häuser glatt hindurchgehen können, aber Regel Nummer eins – zaubere niemals in Anwesenheit erwachsener Menschen – sprach natürlich aus gutem Grund dagegen.

      Der Zauber kostete Kraft. Aber wenn sich in Filitosa etwas so Dringendes zutrug, dass der „Eilt herbei!“-Zauber ausgerufen wurde, dann durfte es auf das bisschen Anstrengung nicht ankommen!

      Meara konzentrierte sich und bewegte die Finger. Um sie herum entstand eine kugelförmige Blase, durch die man hindurchsah, als wenn Wasser an einer Scheibe herunterläuft.

      Als sich das Feld stabilisiert hatte, lief Meara schnurstracks auf den Wald zu. Ein dicker Baumstamm stand direkt in ihrem Weg, aber Meara änderte ihre Richtung nicht. Der Stamm teilte sich und floss förmlich um die Blase herum, bevor er sich ohne einen Kratzer hinter Meara wieder zusammenfügte und es so schien, als wäre niemals etwas geschehen.

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      Eine eigenartige Unruhe hatte von Quentin Besitz ergriffen. Ihm war, als würde er gerufen. Als müsse er irgendwo hingehen. Aber wohin? Und wer hatte ihn gerufen?

      Und was war das gewesen, was mit einem lauten Knall über ihn hinweggerast war und dafür gesorgt hatte, dass er vor Schreck auf seinem Allerwertesten gelandet war?

      Fragen über Fragen, aber keine dazu passende Antwort. Eins war jedenfalls klar: An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Quentin ging in sein Trauerweiden-Versteck zurück und entfachte das kleine Feuer zu neuem Leben. Er aß nachdenklich seine letzten Pflaumen.

      Dann brach er auf. Nach Balsberg würde er es heute in jedem Fall schaffen.

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      Korbinian ordnete seine Kleidung. Er schwitzte immer noch und war sehr erschöpft. Einen solch starken Zauber hatte er schon lange nicht mehr heraufbeschworen. Nun, ein gutes Nachtmahl im Speisesaal würde ihm schon wieder auf die Beine helfen. Aber seine Pflichten waren noch nicht erledigt. Er musste zuerst noch ins Convenium zu den Lehrlingen.

      Nachdem er die Stühle, die überall im Raum herumlagen, wieder ordentlich an die Tische gestellt hatte, verließ er eilig die Bibliothek. Hinter ihm gingen langsam die Kerzen und Fackeln aus.

      Im Convenium waren schon einige Lehrlinge angekommen, aber als Korbinian durchzählte, stellte er fest, dass noch ein gutes Dutzend fehlte. Das gab ihm Gelegenheit, ein großes Glas Wasser zu trinken und die Zwillinge Amina und Adina zu sich zu winken.

      „Was ist passiert?“, wollte Amina wissen. Sie betrachtete den sichtbar erschöpften Zauberer voller Sorge.

      Korbinian beruhigte sie. „Nichts, meine Liebe. Ich habe, wie Du sicher gespürt hast, die anderen Magier und Gesellen gerufen. Das war zwar ein wenig anstrengend, aber mir geht es gut. Adina“, wandte er sich an die andere Schwester, „würdest Du bitte Deine Idee vorstellen, wenn alle eingetroffen sind? Dann kann ich mich in der Zeit ein wenig erholen und muss nur noch zum Schluss bekannt geben, wie die genaue Durchführung aussieht.“

      Adina wurde knallrot, wie eine reife Tomate. Sie stammelte etwas wie „schaffe ich bestimmt nicht“ und andere unverständliche Sachen, bis Amina ihr in die Seite knuffte und sagte: „Nun stell Dich nicht so an! Erst die größte Idee des Jahres haben und dann in einem kleinen Mauseloch verschwinden wollen? Kannst Du vergessen! Du wirst den anderen schön den Plan erklären, und Du wirst es schaffen! Außerdem“, grinste sie, „ich bin ja auch noch da!“

      Adina atmete tief durch, sah ihre Schwester und Korbinian noch einmal zweifelnd an, dann setzte sie eine entschlossene Miene auf und ging zum Kopfende des Tisches.

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      Am nächsten Morgen ließen überall im Land Handwerkergesellen ihre Arbeit liegen und verabschiedeten sich von ihren Lohnherren mit den fadenscheinigsten Entschuldigungen. Das fanden diese nicht besonders schön, aber wer will schon einem jungen Gesellen die plötzliche Heimreise verwehren, wenn zum Beispiel dessen geliebte Großmutter schwer erkrankt war? Und da in keinem Dorf und keiner Stadt zwei Gesellen gleichzeitig arbeiteten – das war eine weitere Regel auf der Wanderschaft – fiel die hastige flächendeckende Abreise der Magiergesellen niemandem auf.

      Denjenigen, die an den äußersten Grenzen des Landes unterwegs waren, stand eine echte Herausforderung bevor. Sie mussten fast Tag und Nacht auf den Beinen sein, um Filitosa rechtzeitig zu erreichen, denn die Botschaft war unmissverständlich: Bis zum siebten Sonnenaufgang hatten sich alle im Convenium einzufinden.

      Einer der Gesellen im Grenzgebiet war Milan. Im zivilen Beruf war er Schmiedegeselle, als Zauberer hatte er vor zwei Jahren die Prüfung bestanden.

      Milan war ein hochgewachsener dunkelhaariger junger Mann, dem man seinen Beruf als Schmied deutlich ansehen konnte. Sein Lohnherr, Schmiedemeister in einem größeren Ort, war froh,