Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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die unter großer Anstrengung den Wagen hoben, während er das Rad ab- oder wieder anmontierte. Solche Sachen erledigte Milan allein. Und lachte auch noch dabei.

      Bei all seiner Kraft war Milan ein sanfter, freundlicher und aufmerksamer Zeitgenosse. Bei den anderen Gesellen und der Kundschaft war er daher sehr beliebt. Milan war noch nicht lange bei dem Schmiedemeister, aber er hatte in Windeseile alle für sich eingenommen.

      Jetzt hatte er allerdings eine Aufgabe vor sich, bei der ihm Kraft allein nicht helfen konnte: Eine Strecke von acht oder neun Tagesmärschen musste er bis zum siebten Sonnenaufgang geschafft haben.

      Nachdem er sich unter dem in diesen Tagen recht üblichen „Großmutter-Vorwand“ bei seinem Lohnherrn entschuldigt und verabschiedet hatte, packte er schnell seine Sachen zusammen. Dann machte er sich auf den Weg Richtung Südwesten, lange bevor das zweite Frühstück gerichtet war.

      Balsberg

      Quentin kam gut voran. Er konnte immer mehr Einzelheiten von Balsberg erkennen. Und was er sah, steigerte seine Vorfreude immer weiter. Was für eine Riesenstadt! Da gab es sicher tausende neuer Dinge zu entdecken! Aber zuerst musste er eine Arbeit finden.

      Den ganzen Weg malte er sich aus, was er für tolle Sachen in der großen Stadt unternehmen könnte. Darüber vergaß er sogar, eine Mittagspause zu machen.

      Der Fahrweg wurde immer breiter. Von rechts und links mündeten immer mehr Seitenwege ein. Ab und zu begegnete er Bauern, Händlern und anderen Wandersleuten. Aber Quentin nahm sich keine Zeit für lange Gespräche, viel zu spannend war das, was da vor ihm lag.

      Dann kamen die ersten Aussiedlerhöfe. Auf den Feldern wurden die letzten Reste der Ernte eingebracht, überall herrschte Hochbetrieb. Goldene Korngarben standen auf den Stoppeln oder wurden auf große Leiterwagen aufgeladen. Ab und zu konnte Quentin einen Blick in eine Scheune werfen, in der das Korn inmitten riesiger Staubwolken aus den Ähren gedroschen wurde.

      An einer Kreuzung, an der sein Weg auf eine Fahrstraße traf, stand ein großes Weghaus. Hier kehrten Reisende ein, denen die Unterkünfte in der Stadt zu teuer waren, oder auch Wanderer, die sich stärken wollten, ohne erst in die Stadt gehen zu müssen.

      Quentin setzte sich auf eine Bank bei einem Brunnen und sah dem Treiben zu. Seine Laune war ausgezeichnet, in zwei bis drei Stunden würde er in der Stadt sein.

      Schnell aß er ein Stück Brot, das ihm ein Bauer unterwegs geschenkt hatte, und trank einen Schluck Brunnenwasser dazu. Dann ging es wieder weiter.

      Es war ein wundervoller Sommertag. Die Grillen zirpten ihre Lieder in den Büschen und Wiesen, Kühe lagen friedlich wiederkäuend auf den Weiden, alle waren in guter Stimmung. Am Himmel waren nur ein paar kleine Schäfchenwolken zu sehen, kein Zeichen deutete mehr auf die schweren Regenwolken hin, die noch vor ein paar Tagen über den Horizont gezogen waren. Quentin pfiff ein fröhliches Wanderlied und marschierte zügig auf die Stadt zu.

      Nach einer Weile kamen die ersten Wohnhäuser. Jetzt war Quentin im äußeren Gürtel der Stadt angekommen. Begierig nahm er alle Bilder in sich auf. Höfe und Wohnhäuser wechselten sich ab, hier und da gab es einen von Blumen übersäten Garten. Freundliche Menschen überall. Quentin dachte fast, er würde träumen. Er war in Balsberg angekommen!

      #

      Milan ließ sich erschöpft auf den laubbedeckten Boden fallen. Er war seit zehn Stunden ohne Pause unterwegs und ziemlich erschöpft. Aber da es bis zum Einbruch der Nacht noch zwei bis drei Stunden waren, konnte er nicht lange verschnaufen. Hastig trank er ein paar Schlucke Wasser aus dem kleinen Bach, an dem er sich befand. Dann füllte er seine Flasche auf.

      Nur ein paar Minuten noch! Milan legte sich auf den Rücken und sah in das Blätterdach des Waldes hinauf. Was war nur in Filitosa geschehen? Ein Überfall? Hielten die Schutzzauber nicht mehr? Er zermarterte sich schon den ganzen Tag lang den Kopf, aber er fand keinen wirklich guten Grund, warum ausgerechnet aus Filitosa der Ruf gekommen war. Das war doch das Zuhause aller Magier. Das bestgehütete Geheimnis in diesem Land! Sollte trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch jemand dahintergekommen sein? Naja, nachdenken konnte er auch unterwegs noch! Ächzend rappelte sich Milan hoch und klopfte die Blätter von seiner Hose.

      Dann ging es weiter.

      #

      Quentins Stimmung war bei Weitem nicht mehr so gut wie zu dem Zeitpunkt, als er durch das Stadttor gegangen war. Er hatte nun schon bei fünf Schänken, drei Gasthäusern und verschiedenen anderen Geschäften nachgefragt. Aber niemand hatte eine Arbeit für ihn. Quentin war der Verzweiflung nahe.

      Irgendwie musste doch etwas zu finden sein! Seine Vorräte waren aufgebraucht, und außerdem wusste er nicht, wo er schlafen sollte. Das Leben in der großen Stadt hatte er sich wirklich anders vorgestellt!

      Eine Zeitlang hatte Quentin Straße um Straße abgesucht, aber mittlerweile irrte er ziellos in der Stadt umher und entfernte sich dabei immer weiter vom Zentrum. Die Geschäfte waren spärlicher geworden. Längst war der Abend angebrochen.

      Quentin kam an einem riesigen neuen Kornspeicher vorbei, an dem emsig gebaut wurde. Fragen kostet nichts, dachte er bei sich und suchte nach einem Handwerksmeister. Aber leider bekam er auch hier keine Arbeit. Enttäuscht ging er weiter.

      Neben dem neuen Kornspeicher war ein älteres, viel kleineres Gebäude. Auch hier wurde Getreide gelagert. Quentin setzte sich an die Wand des kleinen Speichers und dachte nach. Er war müde. Seine Füße taten weh. Er lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

      Da hörte er leise ein ihm wohlbekanntes Geräusch. Es war der Klang von aufeinanderreibenden großen Steinscheiben. Quentin sprang auf und schaute suchend umher. Dann hatte er nur wenige Häuser entfernt sein neues Ziel entdeckt.

      Aus einem aufgestauten Bach floss Wasser auf ein großes Schaufelrad, das sich gemächlich drehte. Dieses Schaufelrad lief auf einer Welle, die durch ein Mauerloch im Inneren des Hauses verschwand. Quentin wusste genau, wie es drinnen aussehen würde: Auf der Welle würde ein senkrechtes Zahnrad befestigt sein, das in ein waagerechtes Zahnrad griff und dieses drehte. Unterhalb des waagerechten Zahnrades würde sich eine mächtige Steinscheibe befinden, die über eine andere, noch größere Steinplatte mit den ihm so wohlvertrauten Geräuschen immer im Kreis herum rieb. Und zwischen den beiden Steinen wurde Korn zu dem gemacht, was er kannte, solange er denken konnte: Mehl.

      #

      Eine Mühle! Hoffnungsvoll ging Quentin auf die Eingangstür zu und trat ein. Er sah einen kräftigen Mann oben auf einer Bühne über den Mühlsteinen stehen. Der Mann schüttete gerade Korn in einen Trichter, an dessen unterem Ende es aus einem kleinen Loch zwischen die Mühlsteine rieselte.

      Außer dem Mann war niemand zu sehen. Quentin wartete geduldig, bis der Müller den Sack in den Trichter geleert hatte und wieder von der Bühne herunterstieg. Dann sprach er ihn an. „Guten Tag, Müllermeister! Ich bin Quentin und suche Arbeit. Habt Ihr vielleicht etwas für mich zu tun? Ich bin schon seit vielen Tagen auf Wanderschaft, habe nichts mehr zu essen und auch kein Dach über dem Kopf.“

      Der Müller schaute Quentin grübelnd an. „So so. Du bist wohl zuhause ausgerissen, was?“ „Nein, so ist es nicht“, widersprach Quentin und erzählte dem Müller, warum er auf Wanderschaft war. Die Sache mit den Gegenständen, die ihm Geschichten erzählten, ließ er allerdings aus. Als er geendet hatte, sah ihn der Müller nachdenklich an.

      „Also gut“, sagte er, „Ich denke, ich kann es mit Dir versuchen. Mein zweiter Geselle Cedrik hat mich heute Morgen Hals über Kopf verlassen. Seine Großmutter ist schwer erkrankt, und er wollte unbedingt zu ihr. Also kann ich im Moment zwei helfende Hände gut gebrauchen! Ich werde Dich in die Lehre nehmen. Du bekommst freie Kost und Unterkunft, dazu gebe ich Dir zuerst einmal einen halben Taler in der Woche. Wenn Du geschickt und fleißig bist, können wir in ein paar Wochen noch einmal über Deinen Lohn reden. Einverstanden?“

      Quentin nickte heftig, weil er vor lauter Freude keinen Ton herausbekam. Der Müller fuhr fort: „Komm mit, ich zeige Dir, wo Du schlafen