Stefan Kraus

Die Bruderschaft des Baums


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wie der Bach das Dorf Hallkel überflutet hatte, so überfluteten all die Erinnerungen nun Hanrek und stürzten ihn in die Wirklichkeit der letzten beiden Tage. Das viele Leid der Dorfbewohner bedrückte ihn und zog ihm die Kehle zu.

      Vor lauter Erschöpfung hatte er sich vor einigen Stunden an den Rand des Dorfes geschleppt und war direkt neben der Straße eingeschlafen. Es war Nacht, doch der Himmel dämmerte bereits. Hanrek konnte neben sich noch andere Gestalten erkennen, Manche schliefen den Schlaf der Erschöpften, andere waren verletzt aus den Trümmern gerettet worden und lagen jetzt zitternd und blutend auf der nackten Erde. Viele hatten schmerzverzerrte Gesichter, andere einen starren leeren Blick. Wieder andere stöhnten im Schlaf. Im Dorf brannten Fackeln. Sie beleuchteten die furchtbare Szenerie nur mäßig, zeigten aber an, wo Menschen verzweifelt in den Trümmern arbeiteten.

      Zum Glück war Pirion, Hanreks Vater, vom Pflug nicht verletzt worden und so war Hanreks Familie eine der wenigen gewesen, die keine Verluste zu beklagen hatte. Ja, einige Schweine und Hühner hatten sie verloren und auch ihr Haus war eingestürzt aber ihre Nachbarn hatte ein viel größeres Unglück ereilt. Der Werkzeugmacher des Dorfes und sein Sohn waren von dem herunter stürzenden Dach ihrer Werkstatt erschlagen worden. Die Frau des Werkzeugmachers Klaudia und ihre Tochter Miria hatten unverletzt überlebt, wenn man bei dem Schock, den sie davon getragen hatten, von unverletzt sprechen konnte. Der Müller und auch der Wirt des einzigen Gasthauses im Dorf hatten jeweils ihre Frau verloren. Außerdem war der Tel, der gewählte Vertreter des Dorfes, gestorben. Es waren viele Verwandte und viele Freunde zu beklagen.

      Nach wie vor gab es Hoffnung, Überlebende aus den Trümmern zu retten aber sie wurde von Stunde zu Stunde geringer. Hanrek wälzte sich schmerzhaft über den spitzen Stein und kam auf die Füße. Auch er würde dabei gebraucht werden, die noch Lebenden aber auch die Toten aus den Trümmern zu tragen.

      ***

      Schull zügelte das Tier, auf dem er ritt. Sofort hielten die hinter ihm laufenden Marschierenden an. Es war gefährlich einem Exzarden von hinten zu nahe zu kommen. Schull betrachtete die Szenerie vor sich und kratzte dabei gedankenverloren mit seinem spitzen Stock den Nacken seines Exzarden Carmeon.

      Es war, wie der Hirtenjunge gesagt hatte. Eine Lawine hatte fast das ganze Bergdorf, in dem er gelebt hatte, weggerissen. Es standen nur noch einige wenige Überreste. Bis auf ihn waren alle gestorben. Der Junge hatte Glück gehabt, weil er sein Vieh gehütet hatte und nicht im Dorf gewesen war.

      Von hinten kamen unterdrückte Schluchzer von dem armen Kerl. Es war unmenschlich, den Jungen so kurz nach diesem schweren Unglück wieder an die Unglücksstelle zu treiben. Aber er musste ihnen den Weg zeigen, nicht den Weg zu seinem Dorf, nein, sondern den Weg in die Berge an eine bestimmt Stelle, die nur er kannte. Er hatte Dinge behauptet, die man besser nur behauptete, wenn man sicher war, dass sie wahr waren, vor allem wenn man das gegenüber dem Kommandanten tat.

      Schull drehte sich zu seinen Begleitern um. Einer der Soldaten hatte den Jungen gestützt und tätschelte ihm unbeholfen den Kopf. Fragend schaute Schull den Soldaten an. Mit einem Schulterzucken ließ dieser die ungesagte Frage unbeantwortet. Die Soldaten waren an Kämpfe, Tod und Verletzungen gewohnt, aber sie wussten nicht mit einem Jungen umzugehen, den der Schmerz des persönlichen Verlusts überwältigte.

      Schull gab dem Soldaten einen Wink, damit er den Jungen zu ihm brachte. Auf einem Exzarden reiten zu dürfen, würde ihn ablenken. Und tatsächlich wurden die geröteten feuchten Augen ganz groß, als sie ihn auf das Tier hoben und vor Schull in den Sattel setzten.

      Kurze Zeit später gab Schull Carmeon das Kommando. Hier konnten sie nichts mehr helfen. Der gut abgerichtete Exzard trottete mit schwerem aber sicherem Schritt den Weg entlang, der oberhalb des ehemaligen Dorfes weiter in die Berge führte. Sein mächtiger stachelbewehrter Schwanz schwang im Rhythmus seiner Schritte hinter ihm hin und her und fegte dabei den fest gefrorenen Schnee zur Seite.

      Der Weg war durch die Lawine ebenfalls verschüttet, Schnee, Geröll und abgerissene Baumstämme bedeckten ihn, doch das würde für seinen Exzarden kein Problem sein. Auch Schull konnte als Flüsterer genau wie sein Reittier den Weg darunter klar und deutlich erkennen. Zusammen waren die beiden ein unschlagbares Team.

      Es war ein sehr beschwerlicher Weg für alle Beteiligten und es dauerte noch einige Stunden, bis sie an der Stelle angekommen waren, die ihnen der Hirtenjunge beschrieben hatte. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Schull hielt an, ließ den Jungen absteigen und bat ihn voraus zu gehen. Nach weiteren fünfzehn Minuten hielt der Junge, drehte sich um und deutete wortlos mit ausgestrecktem Arm nach vorne.

      Was Schull da sah, ließ ihm den Atem stocken. Vor ihnen im Süden lag tief unter ihnen eine Ebene, eine riesige Ebene. Aber nicht die Größe war das Ungewöhnliche, nein, große Ebenen gab es in Narull viele. Das Ungewöhnliche war, dass sie bewaldet, grün und schneefrei war. Kein noch so kleiner Flecken Schnee oder Eis war zu sehen. Es musste dort sehr warm sein. Der Junge hatte wahrhaftig einen Weg durch das Gebirge gefunden und Schull wurde mit einem Schlag die Tragweite dieser Entdeckung bewusst.

      Für Narull war soeben eine neue Zeit angebrochen.

      ***

      In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten schien es allen, als ob die Arbeit nicht zu bewältigen wäre. Für das Beklagen der Toten blieb wenig Zeit. Außer dem Wiederaufbau des Dorfes mussten die anderen Arbeiten mit weniger Leuten verrichtet werden. Das Bestellen der Felder, Füttern der Tiere, Melken der Kühe und was täglich so alles anfiel, durfte nicht vernachlässigt werden, wenn sie nicht im nächsten Winter Hunger leiden wollten. Die Winter im Norden waren kalt und lang. Doch sie hatten, was das Wetter betraf mit dem milden Frühling Glück. Vor allem zu Beginn, als keiner ein Dach über dem Kopf hatte, blieben sie von übermäßiger Kälte, Regen oder gar Schnee verschont.

      Pirion, Hanreks Vater, wurde eine besondere Ehre zu Teil. Das Dorf wählte ihn zu ihrem neuen Tel. Doch mit dieser Ehre war natürlich insbesondere in dieser schweren Situation auch viel Verantwortung verbunden.

      ***

      Hanrek war schon recht groß gewachsen für sein Alter aber er war noch lange nicht ausgewachsen und das, obwohl er schon seit einiger Zeit seinen Vater überragte. Dass er noch länger und breitschultriger werden würde, ließ sich vermuten, da seine Hände und Füße im Verhältnis zu seinem restlichen Körper sehr groß waren und er vermittelte auch sonst den Eindruck, als ob er noch nicht ganz Herr in seinem Körper wäre.

      Sein Vater war eher stämmig und breit. Die körperliche Größe hatte Hanrek von seiner Mutter, die für eine Frau recht hoch gewachsen war. Auch die dunklen fast schwarzen Haare hatte er von ihr. Seit dem Winteranfang hatte er seine Haare nicht mehr schneiden lassen und jetzt fielen sie ihm in dunklen Locken über die Schulter. Woher er seine tiefblauen Augen hatte, wusste er nicht. Sowohl seine Eltern als auch sein jüngerer Bruder Stonek hatten braune Augen wie die meisten Bewohner in dieser Gegend des Königreichs. Sein Bruder sah ihm sonst aber bemerkenswert ähnlich, wobei er bis jetzt noch um einiges kleiner war.

      Es war genau in den Tagen, in denen das ganze Dorf draußen unter freiem Himmel kampieren musste, als Hanrek eine Veränderung an sich spürte. Nein es war nicht das Bewusstsein, dass er größer und breitschultriger wurde, dass ihm die ersten Barthaare sprossen oder dass ihn öfter die neuen und manchmal erschreckend befremdlichen Gedanken und Wünsche eines normalen Vierzehnjährigen befielen. Nein es war eine Empfindung, die er nachts auf seinem Strohlager im Freien hatte.

      Tagsüber ging die Zeit angefüllt mit Arbeit wie im Flug vorüber. Wie alle anderen hatte auch er kaum Zeit sein Essen in Ruhe zu genießen, sondern er schlang es hinunter, die nächste Aufgabe schon wieder vor sich. Nur spät abends, wenn das Dorf zur Ruhe gekommen war, fand er die Zeit, darauf zu achten.

      Anfangs war es wie eine leichte Berührung, die er spürte, wenn er sich ganz entspannte. Sie kam aus der Erde, auf der er lag. Wenn er sich darauf konzentrierte, hatte er den Eindruck, dass er fühlen konnte, wie das Gras um ihn herum wuchs. Diese Empfindungen waren so verstörend, dass er mehrfach aufsprang und verwirrt in der Dunkelheit umher ging.

      Zurück auf seinem Lager und mit der nötigen Konzentration vor dem Einschlafen meinte er erneut