Stefan Kraus

Die Bruderschaft des Baums


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Mehr als einmal kam Pirion abends mit stolz geschwellter Brust nach einem Bier aus der Schenke nach Hause, nachdem ihm seine Freunde anerkennend auf die Schulter geklopft hatten und ihm zu seinem Sohn gratuliert hatten.

      Seine Eltern Zaras und Pirion merkten, dass sich Hanrek nach etwas mehr Freiraum und Freiheit sehnte und so entbanden sie ihn, nachdem im Sommer die Last der Arbeit nicht mehr ganz so drückend war, für einzelne halbe Tage von seinen Pflichten, die er immer gewissenhaft und gründlich erledigte. An diesen Tagen stand er morgens noch früher auf und eilte sich bei seinen Aufgaben, sodass er um die Mittagszeit fertig war. Dann packte er sich schnell etwas Proviant ein, schnappte sich seinen Stab und machte sich auf zu langen Wanderungen, in denen er bis zu den Ausläufern des nahen Gebirges kam.

      Hanrek merkte, dass sich die Gabe langsam veränderte. Bisher hatte er sie empfunden wie ein Zuhörer, wie ein Aufwachender, der morgens im Halbschlaf den vielstimmigen melodischen Morgengesang der Vögel hört, ihn in seinen Traum einwebt und daraus für den Rest des Tages Kraft tankt. Nun fühlte er sich plötzlich in der Lage, dem harmonischen Gesang der Natur einzelne leise und zarte Töne hinzuzufügen. Leise, zart und vorsichtig mussten die Töne hinzugefügt werden, damit sie die Gesamtharmonie nicht zu stark veränderten oder sie gar für eine gewisse Zeit in einen Missklang verwandelten. Er unterstützte hier einen verkümmerten Grashalm beim Kampf um etwas mehr Licht. Er half dort einem Schmetterling, der es nicht schaffte, beim Schlüpfen seinen Kokon abzustreifen. Hanrek wusste, dass die Natur seiner Hilfe nicht bedurfte, aber, da sie wohl dosiert war, schadete sie auch nicht.

      ***

      Hanrek döste vor sich hin. Er war an der entferntesten Stelle seiner Wanderung angekommen, und bevor er den Rückweg antreten wollte, ruhte er sich an einen Baum gelehnt noch etwas aus. Die Augen hatte er geschlossen und er ließ die Gabe schweifen. Er hatte seine Freude daran, eine Biene zu verfolgen, die an einer Blume eine Blüte nach der anderen anflog und dort nach Nektar saugte. Immer dann, wenn sie eine Blüte verließ und dadurch der Kontakt zu ihr abriss, versucht Hanrek zu erraten, auf welcher Blüte sie als nächstes landen würde. Hanrek war eins mit der Natur und er fokussierte sich ganz auf die nahen Blumen.

      Was ihn warnte und hochschrecken ließ, war daher nicht seine Gabe sondern ein Zweig, der in der verträumten Ruhe so laut knackte wie ein Peitschenknall. Momente später hatte sich Hanrek einen Überblick verschafft.

      Es handelte sich um eine große Zahl Männer, alle wie Jäger angezogen aber bewaffnet wie Krieger, die im Abstand von fünfzig Schritt zueinander in einer Reihe hintereinander direkt an ihm vorbei gingen. Sie gingen entspannt und doch konzentriert nach allen Seiten Ausschau haltend an ihm vorbei. Die Stelle, an der Hanrek saß, war von ihrer Position eigentlich gut einsehbar. Dass sie ihn noch nicht entdeckt hatten, lag wahrscheinlich einzig und allein daran, dass er sich die ganze Zeit nicht bewegt hatte und das wollte er auch weiterhin nicht tun, solange diese Männer in der Nähe waren.

      Hanrek hatte keine Ahnung, wer diese Männer waren, sie sahen irgendwie fremdländisch aus und sehr kriegerisch. Sie machten ihm Angst. Waren dies Räuber, gab es vielleicht doch Räuber hier in der Gegend. Nein, entschied sich Hanrek, wie Räuber sahen sie nicht aus. Dafür waren sie zu gut gekleidet. Räuber stellte sich Hanrek irgendwie zerlumpter vor. Diese Männer sahen sehr diszipliniert aus, wie sie da an ihm vorbeizogen.

      Und dann geschah es. Einer der Männer drehte seinen Kopf in seine Richtung und sah ihm direkt ins Gesicht. Der Mann war genauso erschrocken wie Hanrek, aber das währte nur einen kurzen Moment, denn dann stieß er ein lautes Kommando aus. Hanrek wartete nicht darauf, was daraufhin passieren würde, sondern er griff sich sein Bündel und seinen Stab und verschwand in die Büsche.

      Er rannte so schnell er konnte. Mithilfe seiner Gabe stellte er fest, dass sie ihn verfolgten. Sie schwärmten aus, einige hatten ihre Schwerter gezogen und andere hatten ihre Bögen bereit gemacht.

      Was wollten diese Männer von ihm? Er war ein armer Wanderer. Er hatte kein Geld bei sich, außer seinem Messer und seinem Bogen hatte er keine Waffen, er hatte nicht einmal Essen, das sie ihm abnehmen konnten. Hanrek lief. Es war ihm egal, was sie von ihm wollten. Er wusste nur eines. Er hatte große Angst vor ihnen.

      Sie waren gut durchtrainiert und Hanrek schaffte es nicht, sie abzuschütteln. Er versuchte Haken zu schlagen aber wahrscheinlich machte er zu viel Lärm, sodass sie genau wussten, wo das Wild war, dass sie erlegen wollten.

      Ranken zerrten an seinen Kleidern, dünne Äste schlugen ihm ins Gesicht und hinterließen dort rote Striemen. Hanrek spürt die Schmerzen nicht, er dachte nur an Flucht, er wusste, er musste diesen Männern entkommen. Er wusste instinktiv, hier ging es um sein Leben.

      Sein Atem ging stoßweise, seine Seite stach. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Einer der Männer kam ihm immer näher, andere fielen dagegen zurück, ja es waren sogar die meisten, zu denen er den Abstand erheblich vergrößern konnte. Jetzt blieben sogar einige stehen und gaben die Verfolgung auf, doch der, der ihm am nächsten war, war nicht darunter, dieser holte im Gegenteil immer weiter auf. Die ursprünglichen fünfzig Schritt Vorsprung waren auf zwanzig Schritt geschrumpft. Die Angst und die Verzweiflung gaben Hanrek neue Kraft. Er lief und lief. Wenn er sich umdrehte, konnte er seinen Verfolger sehen. Leichtfüßig und mit federndem Schritt lief dieser und wich dabei elegant den Ästen aus, die durch Hanreks Flucht hin und her schwangen. Hanrek wurde klar, dass er diesem Läufer nicht entkommen würde. Verzweifelt sah er sich nach Rettung um, aber er wusste nicht, nach was er eigentlich suchen sollte. Fieberhaft erkundete er die Gegend vor sich mit der Gabe. Doch was würde ihm helfen.

      Plötzlich wusste er, was er zu tun hatte. Er musste sich seinem Gegner stellen aber einen offenen Kampf konnte er nicht riskieren. Es gab noch andere Verfolger, die zwar zurückgefallen waren, die aber sehr schnell aufholen würden, wenn er sich zu einem fairen Kampf stellen würde.

      Hanrek suchte die Gegend ab, suchte nach einer Stelle, die ihn retten würde und dann entdeckte er sie. Er schlug einen Haken und rannte auf die Stelle zu. Es war eine Hecke aus Schlingpflanzen, die mehrere Bäume überwuchert und die Räume zwischen den Bäumen wie einen Vorhang vollständig ausgefüllt hatte. Die Hecke sah fast aus wie eine grüne Wand, sie war aber durchlässig.

      Hanrek brach durch die Hecke hindurch. Wie er gehofft hatte, schwangen die herunterhängenden Äste der Schlingpflanzen zurück und bildeten hinter ihm erneut eine scheinbar undurchdringliche Wand. Hanrek blieb schwer keuchend und mit hoch rotem Kopf stehen und ging direkt hinter der Hecke in Stellung. Die Schlingpflanzen verdeckten ihn vollständig und damit waren sie perfekt für seinen Hinterhalt. Nur Momente später brach der Mann kraftvoll wie ein Wildschwein an fast der gleichen Stelle wie Hanrek durch die Hecke. Die Arme und Hände hielt er zum Schutz vor den Ranken vor sein Gesicht.

      Hanrek zögerte nicht. Er packte seinen Stab mit fester Hand und donnerte ihn seinem Verfolger auf den Hinterkopf. Ohne einen Laut von sich zu geben, ging der Mann ohnmächtig zu Boden und rührte sich nicht mehr.

      Hanrek gönnte sich noch einige erleichterte tiefe Atemzüge, bevor er verdeckt durch die Hecke seine Flucht fortsetzte. Der Vorsprung zu den restlichen Verfolgern war nach wie vor groß und jetzt war es ein Leichtes, die restlichen Verfolger abzuschütteln.

      Körperlich und geistig völlig erschöpft kam Hanrek in Hallkel an, und nachdem sich die Nachricht von seinem Abenteuer im Wald herumgesprochen hatte, gab es natürlich im ganzen Dorf kein anderes Gesprächsthema mehr. Hanrek wurde lang und ausführlich befragt und danach wurde die Dorfwehr in Bereitschaft versetzt. Auch die Nachbardörfer wurden informiert. Vierzehn Tage lang wurden Wachen aufgestellt und die Dorfwehr patrouillierte ums Dorf aber nichts geschah und allmählich beruhigte man sich wieder und die Sache geriet langsam in Vergessenheit.

      In der Folgezeit unternahm Hanrek keine größeren Wanderungen mehr, davon hatte er erst einmal genug. Er konnte den Vorfall nicht so schnell vergessen. Stattdessen machte er lieber kürzere Ausflüge in den nahen Wald. Meistens suchte er sich eine Waldlichtung und übte dort mit seinem Stab, manchmal war ihm aber auch mehr nach Bogenschießen zumute.

      Mehr als einmal hatte er dabei das merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Er suchte die ganze Gegend mit seiner Gabe ab, konnte aber niemanden