das Gefühl zu spüren, wie die Wurzeln der umliegenden Bäume durstig Wasser aufsaugten.
Hanrek zweifelte an sich und hatte das Gefühl verrückt zu werden und doch hatten diese verstörenden Empfindungen zugleich auch eine beruhigende Wirkung auf ihn, da er in diesen Momenten mit seiner Umgebung verschmolz, so sehr, dass er darüber seinen eigenen Körper fast vergaß.
Hanrek war hin und her gerissen, er hätte Zeit benötigt, um in Ruhe über die Empfindungen nachdenken zu können aber die hatte er wegen der vielen Arbeit nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte sich seiner Mutter oder seinem Vater anvertrauen und tat es dann doch nicht, aus Angst sie würden ihn tatsächlich für verrückt halten oder es als Spinnerei eines Heranwachsenden abtun. Einerseits freute er sich auf die Nächte und andererseits hatte er Angst davor.
Denn mit jeder Nacht, die er im Freien verbrachte, wuchs die Intensität, mit der er seine Umgebung über die Erde fühlen konnte. Auch der Radius wurde größer. Die Gefühle schlossen zunehmend auch Lebewesen ein, die sich bewegten, wie die kleinen Feldmäuse, die ganz in der Nähe ihren Bau hatten, einen herumstreunenden Fuchs und schließlich die um ihn lagernden Menschen und Haustiere. Er konnte wahrnehmen, ob seine Mitmenschen Angst hatten oder sich freuten, ob sie sich wohlfühlten oder Schmerzen hatten.
Diese Eindrücke waren es, die ihm besonders Angst machten, denn einerseits übertrugen sich die Stimmungen auf ihn und andererseits kam er sich wie ein böser Eindringling vor, der unerlaubt an Dingen teil hatte, die ihn nichts angingen.
Hanrek begann sich zu verschließen, wollte die Gefühle der anderen aus seinem Leben halten und schaffte es doch nicht. Dieser Konflikt dauerte über Tage, Wochen und Monate und zerriss in fast.
Und doch gab es auch etwas, was ihm in diesen Konflikten half. Es waren die Bäume um ihn herum. Wenn er sich öffnete und in seiner Umgebung Bäume spürte, vermittelten diese ihm einen Frieden, der ihm bis in die Fingerspitzen drang. Und mit dem Bewusstsein, dass dieses Gefühl des Friedens nichts Schlechtes sein konnte, bezwang er nach und nach den inneren Konflikt und ließ sich auf die Veränderungen ein.
Und auch wenn er lange sehr darunter gelitten hatte, bezeichnete er in seinen Gedanken das, was er nachts empfand, als die „Gabe“.
Je größer der Radius wurde und die Intensität wuchs, desto mehr wurde ihm bewusst, dass er lernen musste, die Gabe zu beherrschen. Denn die Empfindungen um ihn herum waren so stark und so zahlreich, dass die Gefahr bestand, dass er sich selbst vergaß und dass sie ihn fortspülten. Aber er traute sich immer noch nicht, jemanden um Hilfe zu fragen.
So lernte er allmählich, ganz ohne fremde Hilfe, das Gefühlte gegeneinander abzugrenzen, einzelne Empfindungen auszuschließen und er lernte, sich auf bestimmte Gefühle zu konzentrieren. Wochenlang arbeitete er jede Nacht daran und manchmal war er sogar tagsüber in der Lage sich auf die Gabe einzulassen.
Immer weiter verfeinerte er die Gabe, sodass er schließlich sogar feststellen konnte, dass der Schmerz, den ein vorbeistreunender Fuchs in der Pfote litt, durch einen Dorn hervorgerufen wurde, der noch im Fußballen steckte. Er lernte, dass er die Gabe nicht einsetzen konnte, wenn er selbst oder das, was er erspüren wollte, auf Stein stand. Anfangs verwirrte es ihn jedes Mal, wenn er einem Tier nachspürte, das lief und dabei auf Steine trat. Die Verbindung wurde dann so jäh unterbrochen, dass es ihm vorkam, als wäre er plötzlich blind geworden. Im nächsten Moment war der Kontakt dann wieder da, was ihn genauso verwirrte. Eben noch blind und plötzlich im grellen Sonnenlicht.
Die Gabe wurde mehr und mehr ein Teil seiner selbst aber nach wie vor scheute er sich, mit jemandem darüber zu reden, sondern er hütete sie wie einen wertvollen Schatz. Er hatte noch nie von etwas Vergleichbarem gehört. Vielleicht war er ja der Einzige, der so etwas fühlen konnte.
***
Die meisten Trümmer waren mit vereinten Kräften notdürftig an den Waldrand geschafft worden. Dort lag jetzt ein riesiges Feld von zersplitterten Holzbalken. Zum Bauen konnte man dieses Holz nicht mehr verwenden, lediglich zum Verfeuern taugte es noch. Im nächsten Winter würde der riesige Holzberg merklich schrumpfen.
Allmählich wurde im Dorf ein Haus nach dem anderen wieder aufgebaut. Eine Familie nach der anderen konnte nachts zum Schlafen in ihr Haus zurückkehren. Auch Hanreks Familie konnte nach einigen Monaten in ihr zwar noch unfertiges Haus umziehen, aber zumindest ein Dach über dem Kopf hatten sie wieder. Im ganzen Haus roch es nach frischem Holz. Die gemauerten Wände waren noch feucht, die Einrichtung dürftig und der Garten hinter dem Haus war ein einziges Schlammfeld.
„Links. Rechts. Links. Rechts. Fannilo, gut so. Hanrek, nicht die Beinarbeit vernachlässigen. Hansen, nimm die Deckung höher.“
Klack, klack,
Klack, klack,
machten die Stäbe mit denen Hanrek und vier weitere seiner gleichaltrigen Freunde unter der Aufsicht von Spartak dem Ausbilder der Dorfwehr den Stockkampf übten.
„Alle Mann, halt.“, rief Spartak.
Sofort ließen die vier Kämpfer die Stäbe sinken. Der Fünfte, der wartend an der Seite im Stroh gesessen hatte, kam auf die Füße und näher, sodass sie alle erwartungsvoll vor Spartak standen und auf die nächste Lektion warteten.
Spartak war zweiundzwanzig Jahre alt und ein durchtrainierter untersetzter Mann, der seit drei Jahren die Aufgabe des Ausbilders übernommen hatte. Er widmete sich mit Leib und Seele dieser Aufgabe und nichts war ihm zu viel, wenn es um die Ausbildung seiner Schützlinge ging.
„Ihr wisst, dass es ein Stockkämpfer ohne große Schwierigkeiten auch mit einem Schwertkämpfer aufnehmen kann. Wenn der Stockkämpfer seinen Stab aber so einsetzt wie ein Schwert, wird er keine Chance haben. Der Vorteil des Stabs liegt in seiner größeren Reichweite, seinem leichteren Gewicht und vor allem in seiner Vielseitigkeit. Am besten zeige ich euch an einem praktischen Beispiel, was ich mit Vielseitigkeit meine. Hansen, komm her!“
Die beiden stellten sich in Position.
„Wir beginnen so wie die letzte Übung mit links, rechts, links, rechts. Du machst einfach immer weiter die gleichen Angriffs- und Abwehrbewegungen wie bisher.“, sagte Spartak zu Hansen gewandt.
„Ich werde dann meine Angriffsbewegungen, sagen wir, ein wenig anpassen. Du brauchst keine Angst zu haben Hansen. Ich werde dich nicht verletzen.“
Dabei klopfte er seinem Schüler beruhigend auf die Schulter.
Die beiden begannen die Übung.
Klack, klack,
Klack, klack.
Gleichmäßig wurden Angriffs- und Verteidigungsbewegungen vorgetragen.
Plötzlich ohne erkennbare Änderung in der Bewegung schlug Spartak in der Angriffsbewegung nicht zu sondern wich dem Schlag aus und ließ gleichzeitig seinen Stab durch die Finger gleiten, sodass das längere Ende nicht mehr oben sondern unten war. In der gleichen fließenden Bewegung fädelte er das nun längere untere Ende zwischen Hansens Stab und seiner rechten Armbeuge ein. Eine kurze Körperdrehung, und Hansen segelte in hohem Bogen durch die Luft. Da sie das Fallen oft genug geübt hatten, tat er sich bei dem spektakulären Wurf zwar nicht weh, ein wenig verdutzt schaute er aber schon aus, als er von unten zu seinem Lehrer hoch schaute.
„Das ist der Grund, wieso ich dir vorhin sagte, dass du die Deckung hoch nehmen sollst. Wenn du es nicht tust, gibst du damit dem Angreifer die Möglichkeit diese Finte anzuwenden.“
Nach dem Erdbeben hatte Spartak gegen Ende des letzten Herbstes damit begonnen, den nächsten Jahrgang der heranwachsenden jungen Männer im Kampf auszubilden. Neben dem Stockkampf waren dies der Schwertkampf und das Bogenschießen. Die Ausbildung im Kampf war ein Gesetz des Königs und sollte sicherstellen, dass in seinem Königreich immer genug Soldaten für seine Armee zur Verfügung standen. In anderen Landesteilen war das viel wichtiger als in der Stadt Haffkef und in seiner Umgebung. In Haffkef gab es keine Garnison und keine Soldaten. Lediglich eine Stadtwehr war vorhanden und in den umliegenden Dörfern die Dorfwehren. Und diese beschäftigten sich vor allem mit wilden Tieren